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Mitten in dem steinernen Meere des neuen Berlin treiben sich gewisse Reste des alten Berlin umher, die nicht, wie manche andere Reste, ehrwürdig und erfreulich sind. Reste, die anscheinend nicht sterben können, obwohl sie sogar schon ein sehr gespenstisches Leben führen, so radaulustig sich auch dieser Spuk bewegt.
Diese Reste sind die Rummelplätze. Auch sie gehören zum galanten Berlin – allerdings zum untersten. Es ist eine Galanterie, die sehr unter dem Niveau dessen steht, was man selbst in den ärmeren Volksschichten noch als Galanterie bezeichnen kann, die ja auch ihr Liebesleben leben.
Diese Rummelplätze sind leider ein Gewächs gerade dieses neuen Berlin, und wer sie lediglich als komische Phänomene einer Riesenstadt nehmen will, in der alles sein Recht habe, irrt sich ungemein. Diese Anhäufung von lärmenden Amüsiermaschinen ist eine Erscheinung, die hoffentlich in naher Zukunft verschwindet, wenn sich die Schausteller, die diesen Betrieb in einer Weltstadt aufrechtzuerhalten für notwendig halten, hoffentlich von diesem Geschäft, das sie so tatkräftig betreiben, und das also ein leidliches zu sein scheint, erfolgreich zur Ruhe gesetzt haben.
Die Vorfahrin dieser neuberlinischen Rummelplätze war die alte Berliner Hasenheide zu jener Zeit, als kurz hinter der verflossenen Kaiser-Franz-Grenadier- und Garde-Dragoner-Kaserne, die damalige Pionier- und spätere Blücherstraße hinab und anschließend daran die Hasenheide hindurch, links und rechts der Straße sommers die Schaubuden der Schausteller standen: der Berliner Prater sozusagen, dessen Ausläufer bis zur »Neuen Welt« und zum alten Berliner Rollkrug gingen – eine Welt, die Sonntags das Ziel von Tausenden war, die sich glücklicherweise weniger an den Schaustellern als an dem heiseren Gebrüll der Ausrufer und den beflitterten Akteuren und Aktrizen ergötzte, die als Ringer, Feuerfresser, Neger, schwerste Frau und kleinster Zwerg auf der Holzterrasse dieser Schaubuden standen.
»Hier ist zu sehen Mister Lion, der Mann mit dem Löwenleib!« »Hier sind zu sehen »Carmen und Dolores, die Sterne von Dalmatien!« »Hier ist zu sehen der Häuptling Wudki Kalaika aus Kalabria-Kuka auf Kamtschatka, wo die Sonne ihre Strahlen senkrecht auf die Erde werft ... « Und es war ungeheuer vieles zu sehen, was der Ausrufer nur mit lüsternem Augenzwinkern andeutete, was immerhin aber auf kühnen Gemälden in rosigen Konturen von Haremsszenen an der Budenwand sich bildlich darstellte. Die Ausstellung üppiger weiblicher Reize von Riesendamen für zehn Pfennige, – Kinder und Soldaten die Hälfte –, war die Sensation, die am meisten wiederkehrte. Und der Handlungsgehilfe und der Gardegrenadier, der verklärten Auges die Vorstellung verließ, war nunmehr geneigt, Helena in jedem Abwaschmädchen zu sehen die ihren Ausgehsonntag hatte.
Die älteren Berliner werden bestätigen, daß diese Welt der Hasenheide immerhin noch eine Angelegenheit des Sonntagsspießers war, und daß sich der kleine Mann und seine weibliche Begleitung doch verschämt abwandten und weitergingen, wenn die Conférence des Mannes vor der Bude allzu saftig wurde.
Aber es war doch immerhin eine Veranstaltung, die darauf ausging, die noch allzu spießigen Gebärden der Welt des kleinen Mannes etwas zu lockern und zu lösen und ein wenig sein träges Bürgerblut in Gang zu bringen.
Und warum sollte das alte Berlin nicht haben, was die Dresdner Vogelwiese und der Hamburger Dom hatte, und was in jedem Dörfchen von fahrenden Schaustellern gezeigt wurde?
Diese lärmende und bunte Rummelstraße war selbstverständlich die sommerliche Promenade der jungen Leute. Die schreiende Farbe der Budenbilder, das Gebrüll aus Megaphonen, die Ausstellung von Athletenmuskeln und junonischen Dekolletés früherer Wurstmamsellen und Wäscherinnen erzeugten eine Ulkstimmung, bei der sich die Herzen leichter fanden als in den Sommergärten am Kreuzberg, wo die Paare einsilbig bei Weißbier und Salzstangen sich mit roten Ohren anschmachteten.
Hier an der Hasenheidenstraße aber drehten sich die Karussels und flogen die Luftschaukeln.
Aber es kam der Tag, wo diese vergnügte Budenstraße versank: es war schließlich lohnender, an die Stelle dieser Buden hohe Miethäuser zu setzen, und heute erinnern nur noch einige Etablissements mit Festsälen und Biergärten und der Name dieser Straße an die verflossene Hasenheide.
Die Hasenheide ging in die Diaspora – hinaus in die Welt, auf das flache Land, auf die Dörfer.
Das war um die Zeit, als die Radrennbahnen diese Budenromantik ablösten. Die Tausende, welche bis dahin zur Hasenheide gepilgert waren, umbrandeten nun die Zementbahnen in Treptow, in Friedenau, in der Jungfernheide und in Charlottenburg, wo die Lieblinge des Volkes, Willy Arend und Paul Mündner, Bruno Demke, Lehr, Robl, Rütt als behende Flieger oder hinter Motoren als Steher Rekorde schufen, wo der Sieger der Radrennbahn und Besieger internationaler Champions ein nationaler Heros wurde, der umschmettert von der Nationalhymne und mit Lorbeeren umwunden seine Ehrenrunde fuhr.
Die mondäne Dame und die kleine Näherin in der Mansarde umgaben diese Champions mit erotischer Romantik und stießen verzückte kleine Schreie aus, wenn der Held ihrer Träume siegreich über das Band fuhr.
Die brausende Atmosphäre der Radrennbahn löste die Promenaden zur Hasenheide ab, und es war darin schon sehr viel von dem späteren Berlin, das am Feiertage Sensation für das Ohr und das Auge sucht.
Die Schausteller schienen aus Berlin verschwunden. Dennoch waren sie eines Tages wieder da. Zuerst in leeren Läden, wo sich zum Entsetzen der Nachbarschaft Damen ohne Unterleib als Bauchtänzerinnen und frühere Negerkönige als Menschenfresser etablierten. Wenig später entdeckten die Schausteller, daß jede Häuserlücke zwischen ragenden Mietskasernen und jede Baustelle eine ganz ausgezeichnete Stelle sei, um sich mit einer Schaubude darauf niederzulassen, und überall in der Stadt wuchsen plötzlich kleine Schaubudenstellen aus der Erde, die abends mit stinkenden Acetylenscheinwerfern und elektrisch getriebenen Musikwerken die müden und entsetzten Anwohner bis in die Nacht hinein folterten.
Diese Stätten wurden selbstverständlich das Sammelbecken für ein Gesindel beiderlei Geschlechts und das, was sich zwischen diesem Gesindel anspann, und nur zu oft auch Jugendliche und selbst den fleißigen Mann in der Bluse oder die lustige kleine Verkäuferin in einen trüben Strudel zog, war nicht mehr als galantes Leben oder volkstümliche Erotik zu bezeichnen.
Immer noch machen sich diese Rummelplätze breit. Sie mögen manchem das Brot liefern. Mehr aber noch nehmen sie manchem das Brot weg. Die sauer in der Fabrik erarbeiteten Groschen fliegen dahin für plumpe und dumme Attraktionen, für sinnlose Gebarung auf irrsinnig durch die Luft fliegenden Schaukelgeräten, heulenden Dampfkarussells und werden vertan für Leckereien, die tagsüber vielleicht unter dem Bett in der Schlafstelle des Händlers aufbewahrt werden.
Mitten in der Stadt, selbst am Friedrichsbahnhof, durfte sich jahrelang eine solche Rummelstelle halten. Das Gesindel, das sich tagsüber in der bunten, weltstädtischen Menge der Friedrichstraße scheu oder auch frech bewegt, gab sich hier ein Stelldichein und ging hier seinen Liebesabenteuern nach, für die die Mittel nur zu oft wieder durch Einbrüche oder noch Schlimmeres beschafft wurden.
Männer und Frauen, Dirnen, Zuhälter, entlaufene Fürsorgezöglinge und solche, die es erst werden sollen, strudeln in wildem Durcheinander zwischen den Buden, besonders Abends, und die grellen Lichter der Bogenlampen lassen die verlebten und wüsten Züge dieser Stammgäste noch übler erscheinen, als sie wirklich sind.
Diese Welt, die unendlich verrohend auf die erotischen und galanten Instinkte bestimmter Schichten gewirkt hat und manches Verbrechen auslösen half, wie in Gerichtsverhandlungen oft genug festgestellt wurde, ist glücklicherweise im Versinken.
Mit der alten Hasenheide hatte sie nichts mehr zu tun.
Immer aber dienten diese Rummelplätze in erster Reihe dazu, die Geschlechter einander nahezubringen.
Sie waren sogar stellenweise auf einen förmlichen Exhibitionismus gestellt.
Die Reitbahnen besonders, wo für ein paar Groschen die weiblichen Besucher in den Sattel steigen konnten, waren ein Dorado dieser Exhibitionistinnen, die im Straßenkleide zu Pferde sitzend, im Herrensattel sich hochwerfen ließen, bis ihnen die Röcke über die Knie rutschten, so daß die mehr oder minder duftige weiße oder bunte Unterwäsche zum Vorschein kam, wenn es dabei blieb und nicht schließlich die blanken Knie und Lenden zu sehen waren. Auch die Schaustellung athletischer Schlächtergliedmaßen seitens der Ringer und Boxer, die in lässig umgeworfenen Bademänteln vor den Zelten standen, hatten einen entschiedenen Zug ins Exhibitionistische, das nicht selten durch obszöne Tätowierungen auf der nackten Brust oder dem Oberarm noch unterstrichen wurde.
Der Rummel scheint dennoch eine Sache zu sein, wie alle große Weltstädte sie brauchen. Der grandiose Rummel am Meeresstrande bei New York ist das Musterbeispiel dafür. Selbst das berühmte »Venedig in Wien«, das auch einmal ein »Venedig in Berlin« war, mit seinen Canale, Palazzi und Gondeln waren ein Rummel – aber immerhin anmutiger und heiterer, und wenn man so sagen will: amoureuser.
Eine neue Art von Rummel erstand dann in den Bockbierfesten, die besonders in der »Neuen Welt« in der Hasenheide zur Faschingszeit einer vieltausendköpfigen Menge eine beliebte Gelegenheit zum gemeinsamen Austoben bei Bier, Musik, Würsten, Eisbein, Bretzeln, Gesang, brüderlich-schwesterlicher Annäherung und lautem, lachendem Lärm gibt. Das Galante darf auch nicht fehlen. Möglichst derb! Und so wird denn einmal das schönste Damenbein, ein andermal ein anderer weiblicher Körperteil preisgekrönt.
Heute hat sich die Technik des Rummels bemächtigt und auch in Berlin einen jener berühmten »Lunaparks« geschaffen, in denen zahllose tolle Maschinen am Abend Menschen zum Zappeln, Rutschen, Drehen, Fliegen bringen und in Schwindelgefühle versetzen: mit Shimmytreppen, eisernen Teichen, Flugzeugkarussells, Teufelsrädern, Wasserrutschbahnen und Wackeltöpfen.
Hohe Terrassen mit indischen Türmen und tausend bunten Lichtern, gekrönt von farbigen Riesenlaternen, blicken auf die Promenaden und Leuchtfontänen, über die mächtige Scheinwerfer gleißende Strahlenbündel schießen lassen. Und über allem eine warme, ausgestirnte Sommernacht. Jazzbandorchester lärmen in Tanzzelten, auf dem lampiongeschmückten Hausboot, aus Tanzpavillons – Schüsse knattern irgendwo in einer Arena, und über alles Lärmen, Leuchten, Musizieren hin heulen, läuten, rollen, donnern die Züge der Gebirgsbahn durch eine riesige Spielzeuglandschaft.
Dunkel und gleißendes Licht dicht nebeneinander – und verliebte Leute, eben noch im grellen Schein des Scheinwerfers, verschwinden im nächsten Augenblick. Die rasende Orgie des Lichtes ertränkt alles Sehen – die Netzhaut empfängt nur noch Reilexe wie etwa die eines riesigen futuristischen Gemäldes.
Immer noch ein Rummelplatz – aber mit witzigen und amüsanten Sensationen, die eine grobe Erotik nicht aufkommen lassen, weil dem Besucher nicht nur Hören und Sehen, sondern von den aufpeitschenden akustischen und optischen Reizen auch das Flirten vergeht.
Nur auf der Weinterrasse und in den Tanzbars der großen Mondscheinschau ist galantes Leben. Auf den Dielen werden Teddybären von den besten Tanzpaaren als Preise ertanzt, und oben um die roten Seidenschirme auf weißgedeckten Terrassentischen ist sehr viel zärtliche Jugend versammelt, die sozusagen nur mit verliebtem Auge tanzt und sich vorläufig noch sehr viel zu sagen hat, auch ohne daß sie viel spricht.
Von der Hasenheide über die Rummelplätze zum Lunapark! Das ist ein Weg galanten Vergnügens, der vom alten Berlin zur Weltstadt führt über eine kurze Epoche hinweg, in der tatsächlich das Harmlose erstickt zu werden schien durch einen Unrat, der sich gerade in die Viertel der kleinen Leute ergoß und schließlich auch inmitten der Reichshauptstadt aufzuquellen schien.
Der neue Typ des Vergnügungsparks – wenn seine Genüsse bestimmt auch nicht für jeden ein Vergnügen sind – schuf immerhin einen leuchtenden Rahmen für ein galantes Abendleben, für ein Schlendern um lämpchengeschmückte Bosketts, für einen galanten Korso, wie ihn eine Weltstadt anscheinend einmal braucht, dem aber die freche kupplerische Geste fehlt, wie sie gewisse Tanzstätten und vor allem die Rummelplätze einmal hatten.
Vielleicht aber wird auch dieser Typ einmal überwunden und so verfeinert, daß den Menschen in hundert Jahren auch unsere Vergnügungsparks als harmlose Spielerei einer spießigen Zeit erscheinen.