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XXV

Ich will ihr Abtreten wieder heilen;
gerne will ich sie lieben; dann soll mein
Zorn sich von ihnen wenden.

Hosea 14, 5.

Ach, daß ich hören sollte, daß Gott der
Herr redete, daß er Frieden zusagte meinem
Volk und seinem Heiligen, auf daß sie nicht
auf eine Thorheit gerathen.

Ps. 85, 9.

Am andern Morgen erwachte Louis, als es noch finster und im Hause noch alles ruhig war. Es schwebte ihm wie eine dunkle Erinnerung vor den Augen, daß am Abend vorher Doktor Wilkinson bei ihm gestanden und die Hand auf seine Stirne gelegt habe. Nach und nach traten ihm aber die Ereignisse des vorigen Abends klarer vor das Bewußtsein, und sein Herz erhob sich zu dem Herrn, seinem Gott, den er so lange nicht mehr gesucht hatte.

Eine halbe Stunde später erwachten seine Kameraden. Einige gähnten, andere seufzten. Man machte Licht, und die Schläfer krochen aus ihren Betten. Weil aber das Zimmer ziemlich kalt war, so hüllten sich die Zöglinge in ihre Bettdecken; dann begannen sie eifrig zu studiren.

– Ich steh' gewiß nicht auf, brummte Frank; es ist viel bequemer im Bett. Clifton, bring' das Licht hieher – hier auf diesen Stuhl! ich will im Bette studiren.

– Doktor Wilkinson hat uns verboten das Licht in die Nähe des Bettes zu stellen, antwortete Clifton. Wenn du im Bett lesen willst, so kannst du warten, bis es Tag ist.

– Ich will hoffen, daß der Doktor nichts verboten hat, sagte Frank. Wirst du gleich kommen mit dem Licht?

– Nein, ich komme nicht, erwiederte Clifton, der sich auf eine Kommode setzte, auf welcher ein Licht stand, das ihm und den beiden Brüdern Mortimer gehörte.

– Du willst nicht? sagte Frank. Theurer Freund, ich brauch' dich gar nicht. Reginald, mein Licht steht dort; gib es mir!

– Du kannst die Folgen davon tragen, erwiederte Reginald; ich habe ebenfalls gehört, daß der Doktor verbot, bei Licht im Bette zu lesen.

– Mir hat er es nicht verboten, sagte Frank, während er sein Licht putzte und ein Buch öffnete. Meredith, folge meinem Beispiel!

– Das fällt mir nicht ein, erwiederte dieser. Ich hab' es gestern so gemacht; aber ich bin wieder eingeschlafen, bis uns die Glocke geweckt hat. Es ist ungemein interessant, ein Wort zu lesen und sechs dabei zu träumen; aber sehr lehrreich ist es nicht.

Eine kurze Stille folgte jetzt im Zimmer. Louis, der bisher in seine Gedanken vertieft war, machte eine Bewegung, wie wenn er aufstehen wollte; aber Reginald bog sein fröhliches Gesicht über ihn und sagte: »bist du wach, Louis?«

– Ja, schon lange.

– Du warst so ruhig.

– Du siehst so fröhlich aus, Reginald; was hast du denn?

– Was gibst du mir, wenn ich es dir sage?

– O, ich habe nichts, dir zu geben, als meinen besten Dank.

– Was sagst du dazu, daß Casson verreist ist?

Casson verreist! rief Louis aus, wohin? wann? wie? warum? Ist er krank? was ist geschehen?

– Gestern Abend ist er mit der Londoner-Post abgereist. Er befand sich vollkommen wohl; allein er hat das Weite suchen müssen, weil ihm der Magister die Gastfreundschaft aufgekündet hat.

– Also fortgejagt! sagte Louis erstaunt und erschrocken.

– Ja, ja, fortgejagt! erwiederte Reginald. Aber warum bist du denn so erschrocken, Louis? Casson hat es verdient.

– O, Reginald, das ist schrecklich! Aber das ist ja furchtbar schnell gegangen.

– Ach! schöne Louise, sagte Frank, eine ganze Menge Wunder haben sich ereignet, während du in den Armen des süßen Schlafes lägest. Was sagst du dazu, wenn ich dir die Neuigkeit sage, daß Harris auch expedirt wird.

– Harris? Das kann nicht sein, Frank. Ich bitte, sag' mir, was ist denn geschehen?

– Wir haben Hamilton versprochen, ihm zu überlassen, dir diese Geschichte zu erzählen, erwiederte Reginald. Er hat eigentlich alles entdeckt. Steh' schnell auf und geh' zu ihm!

Louis stand hurtig auf, kleidete sich an und eilte in das Zimmer, welches Hamilton allein bewohnte. Hamilton war auch schon aufgestanden; er saß am Tische, und eine offene Bibel lag vor ihm, die er zumachte, als Louis hereintrat.

– Wie geht es dir heute, mein Lieber? redete er Louis freundlich an, indem er ihm die Hand drückte.

– Sehr gut, lieber Hamilton. Reginald hat mir merkwürdige Sachen erzählt.

– Dein Bruder Reginald? Hat mir hoch versprochen …

– O, ich weiß weiter nichts als daß Casson fort ist, und daß Harris auch gehen muß.

– Nun gut, ich will dir alles erzählen.

– Hamilton, sagte Louis, indem er seine Hand erfaßte, ich möchte dich zuerst um etwas bitten.

– Und das wäre?

– Willst du mir zuerst erlauben, etwas mit dir zu lesen? sagte er schüchtern, indem er auf die Bibel hinwies. Ich habe es in der letzten Zeit nicht mehr gethan, möchte aber jetzt damit beginnen, ehe ich etwas anderes anfange. O, wenn Du wüßtest, wie schwer es in unserem Zimmer ist, sich ein wenig zu sammeln!

Hamilton nahm die Bibel und öffnete sie, indem er Louis bat, etwas vorzulesen.

Louis las den siebenten Psalm und das vierzehnte Kapitel im Propheten Hosea. Als er damit fertig war, herrschte eine Zeitlang tiefe Stille.

Hamilton konnte, obgleich er Louis sehr lieb hatte, den Trost und die Beruhigung nicht in ihrem ganzen Umfange fühlen, der für Louis in diesen Worten lag: »Ich will ihr Abtreten wieder heilen, gern will ich sie lieben; dann soll mein Zorn sich von ihnen wenden.«

– Lieber Hamilton, sagte er endlich, ich habe eine große Bitte an dich. – Willst du mir erlauben, jeden Morgen zu dir zu kommen und in der Bibel zu lesen? Das würde mir so gut thun.

– Warum nicht? von Herzen gern, sagte Hamilton, indem er seinen Freund in einen großen Mantel wickelte, denn es war kalt im Zimmer, und Louis saß beim Fenster. – Hamilton selber setzte sich in seinen Armsessel und begann die ausführliche Geschichte des gestrigen Abends zu erzählen.

Hamilton war unmittelbar nach dem Mittagessen zum Doktor gegangen, um ihm seinen Verdacht hinsichtlich der Aepfeldiebe mitzutheilen. Doktor Wilkinson war sehr bereit, Hamilton's Meinung anzuhören, obschon er sich nicht erklären konnte, wie Hamilton so plötzlich zu einer solchen schlechten Meinung hinsichtlich Casson's gekommen sei. Sie gingen zusammen zu den Ställen, deren Eingänge sie sorgfältig untersuchten. Sie fanden die Thüre offen, und bei näherem Besehen bemerkten sie, daß das Schloß alt, rostig und zerbrochen war, so daß man dasselbe ohne große Mühe öffnen konnte. Dann gingen sie bis auf den Boden, wo die Aepfel lagen. Dort fand Hamilton einen Streifen Papier, auf welchem eine griechische Uebersetzung stand. Dieser Streifen war zwar nur sehr klein, und jeder andere würde ihn vielleicht nicht gesehen haben; aber Hamilton bemächtigte sich desselben, als wäre es der größte Schatz; und sie fingen zusammen an, die Schriftzüge zu studieren, um den Schreiber herauszufinden. – O Louis! der Doktor machte ein ernstes Gesicht, als er sah, daß es eine Uebersetzung aus der zweiten Klasse war; aber ich kenne deine Handschrift, und es war sie nicht. Ich fand endlich heraus, daß es die Schriftzüge Harris' seien. Die Schule hatte schon angefangen, als ich mit dieser Nachricht zum Doktor ging. Derselbe erschien augenblicklich im Schulzimmer, und die Schule mußte aufhören. Er versammelte die Zöglinge um sich und hielt eine gewaltige Anrede, in welcher er bemerkte, wie viel Kummer es ihm verursache, zu sehen, daß einige unter seinen Zöglingen unaufrichtig und verschlagen seien, ja, daß man nicht einmal sich um einfache Verordnungen und Regeln des Hauses kümmere, u. s. w. Dann erzählte er, wie wir beide dich auf der Mauer angetroffen, und wie er zu dem Schlusse gekommen sei, Louis müsse von irgend jemanden in's Handwerk hineingezogen worden sein, indem er dich eines solchen Frevels nicht für fähig halte. Hierauf forderte er die Schuldigen auf, hervorzutreten. Kein Mensch regte sich; der Doktor ergriff wiederum das Wort und erinnerte an alles das, was im letzten Schuljahre geschah, und wie viel du da habest leiden müssen, und fügte hinzu, er erwarte von der Ehrlichkeit der Gesellschaft, daß diejenigen, welche etwas von der Sache wissen, hervortreten und es sagen werden. Sodann trat zu jedermanns Erstaunen Charles Clifton hervor und sagte mit der größten Ruhe, er sei überzeugt, du habest die Aepfel nicht genommen, wahrscheinlich seien Harris, Casson und Churchill die Schuldigen; er erinnere sich, daß Sally Simmons ihnen einmal Aepfel gegeben habe, wobei allerlei scherzhafte Bemerkungen gemacht worden seien über den Ort, wo sie herkommen. Sogleich wurde Sally gerufen. Dieselbe erschien und gestand, daß sie dem Casson gezeigt habe, wo die Aepfel liegen. Ich weiß nicht, was jene drei dazu sagten; aber Sally hatte Furcht und suchte dich mit in die Geschichte zu verwickeln. Clifton ließ sich jedoch nicht irre machen. Er widerstand ihr tapfer und vertheidigte deine Unschuld, so daß sie schweigen und sich auf Befehl des Doktors zurückziehen mußte.

– O, die arme Sally! ich bedaure sie sehr.

– Sie ist ein abscheuliches Mädchen, sagte Hamilton; aber den Clifton hab' ich nie gekannt bis gestern. Er hat so etwas Aufrichtiges und Entschiedenes.

– O, Charles ist ein sehr lieber Knabe, sagte Louis. Wie ging's dann weiter, Hamilton?

– Casson und Harris fingen an über Ungerechtigkeit zu schreien und ihre Unschuld zu betheuern. Der Doktor sah sie indessen sehr unwillig an; denn er schien von ihrer Schuld bereits überzeugt zu sein. Er hörte sie jedoch an; aber als sie fertig waren, richtete er sehr ernste Worte an sie und bemerkte, sie haben zu ihrer vorigen Sünde nun noch eine neue und schrecklichere hinzugefügt. Harris sah sehr verwirrt aus; aber Casson erklärte ganz frech, die Aussage einer solchen Lügnerin und eines solchen selbstzufriedenen Menschen sei kein genügender Beweis. Da trat zu meinem größten Erstaunen Trevannion hervor und legte sein offenes Notizenbuch in die Hände des Doktors. – Hamilton erzählte nun, was unsere Leser bereits wissen, daß nämlich Trevannion in diesem Notizenbuch jenen merkwürdigen Auftritt vom letzten Freitag aufgezeichnet hatte und wie dieses Zeugniß von der ganzen Schule nicht umgeworfen werden konnte. Churchill gestand alles ein und bat mit Thränen um Vergebung.

Es scheint, daß sie am Freitag ihre Absicht nicht erreichen konnten, weil sie irgendwo jemanden bemerkten, daß sie aber ihren Streich am Montag in der Abenddämmerung ausführten und in demselben Augenblicke, wo sie aus der Scheune traten, einen Mann mit einer Laterne in den Hof kommen sahen, weswegen sie in aller Eile die Mauer hinaufkletterten, wobei an einem Ast der Sack hängen blieb, den sie dann am folgenden Tag nicht zu holen wagten.

– Harris, fuhr Hamilton fort, wurde weiß wie Kreide, als der Doktor sie andonnerte. Ich hoffe, es wird Eindruck auf sie gemacht haben, so daß sie es nie vergessen.

– Was hat ihnen denn der Doktor gesagt? fragte Louis.

– Er sprach zu ihnen von der Größe und Häßlichkeit des Fehlers, den sie begangen hatten, und drückte sein inniges Bedauern aus. Als ich sein trauriges Antlitz sah', that es mir fast leid, daß die armen Frevler entdeckt wurden. Der Doktor sagte dann, er sehe sich, um die Wiederkehr solcher Streiche ein für alle Mal zu verhindern, genöthigt, ein Beispiel aufzustellen, an dem andere sehen können, wie Vergehen dieser Art bestraft werden. Er erzählte von einem ehemaligen Zöglinge, der dadurch, daß er nicht bestraft wurde, in's Unglück gerieth. Endlich schloß der Doktor mit den Worten des Königs David: »Ach Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn, und züchtige mich nicht in deinem Grimm!« Ich versichere dich, Louis, es blieben wenige Augen trocken.

Louis' Augen füllten sich mit Thränen.

– Weiter, Hamilton, wie ging's denn noch?

– Dann wandte sich der Doktor an Casson und befahl ihm, sich zur Abreise bereit zu halten, und dem Harris verbot er, nach den Ferien wieder zurückzukommen. Todtenstille herrschte im Zimmer, als Casson dasselbe verließ. Man hörte nichts als das unterdrückte Schluchzen der Kleinen. – O Louis, es ist eine ernste, ernste Sache.

– Ja gewiß, erwiederte dieser. War Casson sehr betrübt, Hamilton?

– Er sah sehr bleich, aber eher erschrocken als betrübt aus. Harris stand da wie eine Bildsäule, während der Doktor sprach; aber als ihm derselbe sagte, daß er nach den Ferien nicht wiederkehren dürfe, stieß er einen so tiefen Seufzer aus, daß ich Mitleiden für ihn empfand.

– Und Churchill? fragte Louis.

– Churchill muß noch eine Woche nach der Prüfung bleiben und Strafarbeit machen.

– O Hamilton, Hamilton! rief Louis, in Thränen ausbrechend, ich weine nicht bloß aus Betrübniß, sondern ich fühle erst jetzt, wie dankbar ich dem lieben Gott sein muß, daß er mich nicht mit jenen hingeworfen hat.

Hamilton drückte ihm die Hand.

– Ich hoffe, fuhr Louis fort, daß mir das eine heilsame Lehre sein wird. Ich fürchte mich jetzt vor mir selber; denn wie viele gute Entschlüsse habe ich schon gefaßt und nicht gehalten! Aber sag' mir, Hamilton, glauben diese Knaben, ich habe sie verrathen?

– Der Doktor sagte ihnen, du habest dein Versprechen nicht brechen und sie verrathen wollen; aber er fügte zugleich hinzu: wie thöricht und sündlich sind solche Versprechen, wenn man dadurch das Böse zudeckt! Ich wollte, du hättest ihn gehört! Doch wir haben jetzt keine Zeit mehr, davon zu reden; da kommt Alfred, und es wird sogleich zur Andacht läuten. Wenn du noch etwas zu thun hast, so mußt du dich beeilen.

Louis trocknete sich die Augen ab und gehorchte, nachdem Alfred ihn noch feurig umarmt hatte. Louis hatte keine Zeit mehr, mit seinem Bruder zu sprechen; denn die Glocke rief zum Gebet. Auf der Treppe und im Zimmer begegneten ihm überall freundliche Gesichter; selbst Trevannion war herzlich. Normann stand an der Thüre, und als Louis erschien, streckte er ihm die Hand entgegen und sagte: – Nun, Alter, laß uns einander die Hände schütteln!

Louis empfand einige Scheu, in's Zimmer und in die Nähe des Doktors zu treten; derselbe schien ihn aber nicht bemerkt zu haben. Als die Namen abgelesen wurden und Harris an die Reihe kam; antwortete niemand. Er ist nicht hier, bemerkte jemand, und der Doktor fuhr fort, ohne darauf zu achten. Louis aber hörte in seiner Nähe sagen: »Er hat die ganze Nacht geweint, der arme Junge; er befindet sich in einem furchtbaren Zustande,« worauf ein anderer antwortete: »Der Doktor nimmt seine Worte nicht zurück.«

Als der Morgensegen beendigt war, winkte der Doktor Louis, ihm zu folgen. Was er mit ihm geredet habe, konnte man nie erfahren; daß es aber von sehr ernsthafter Natur gewesen sein mußte, konnte man an den verweinten Augen und den niedergeschlagenen Blicken Louis' erkennen, als derselbe wieder im Zimmer erschien; allein an dem nachherigen Benehmen des Doktors gegen Louis konnte man nicht minder merken, daß alles vergeben und vergessen sei.

Endlich war der Tag der Preisaustheilung gekommen. Das Wetter war kalt, feucht und melancholisch, worüber die Zöglinge nicht sehr böse waren, weil dadurch viele Leute abgehalten wurden, zum Feste zu kommen. Charles Clifton trug den ersten Preis seiner Klasse davon, ausgenommen im Französischen, in welchem Fache der Preis Louis zufiel. Hamilton hatte dem Doktor gesagt, daß er auf die Medaille für gutes Betragen verzichte, so daß dieselbe jetzt ebenfalls Clifton zufiel. Reginald hatte dießmal keinen Preis, weil er erst kürzlich in eine höhere Klasse versetzt worden war. Im Lateinischen standen sich Frank und Hamilton ungefähr gleich; nur mit dem Unterschiede, daß sich der eine mehr durch Talent und der andere mehr durch Fleiß ausgezeichnet hatte. – Jeder von ihnen bekam daher einen Preis von gleichem Werthe. Doktor Wilkinson benutzte diese Gelegenheit, den Eifer und das gute Betragen Frank's während des abgelaufenen Semesters zu loben. Derselbe erhielt noch zwei Preise; Hamilton noch einen, Ferrer einen und Normann einen.

Die Preisaustheilung war beendigt. Reginald und Louis waren eben damit beschäftigt, in ihrem Koffer einen Platz für Louis' Preis zurecht zu machen, als man dem erstern einen Brief überreichte.

– Ein Brief, Reginald! rief Louis. Ich denke, man wird uns darin sagen, wer uns abholen wird.

Die guten Knaben täuschten sich. Der Brief enthielt die Nachricht, daß eine Lady, die bei ihren Eltern wohnte, von einer ansteckenden Krankheit befallen worden sei und Herr Mortimer daher für gut finde, die beiden Knaben nicht nach Hause kommen zu lassen. Der Brief war von ihrer Mutter; sie drückte darin ihr herzliches Bedauern aus, daß sie zu dieser Maßregel genöthigt seien, und meldete ihnen zugleich, daß ihr Vater an Doktor Wilkinson geschrieben und ihn um die Erlaubniß gebeten habe, seine Knaben so lange in Ashfield lassen zu dürfen, bis sie ohne Gefahr nach Dashwood kommen könnten. Der arme Louis war durch diese Trauerbotschaft sehr unangenehm überrascht, und Reginald nicht weniger. Dieser schmälte auf die Damen, welche so unverschämt seien, bei guten Freunden krank zu werden und die Kinder des Hauses in ihren Ferienfreuden zu stören, so daß Louis mitten in seinem Elend sich des Lachens nicht enthalten konnte.

– Aber Reginald, was sollen wir denn hier anfangen? das werden traurige Ferien sein!

– Ich werde gewiß sterben vor Langeweile.

– Kommt ihr mit mir, sagte Salisbury, kommt nur alle beide! Meine Eltern werden große Freude haben, euch zu sehen.

– Nichts würde mir ein größeres Vergnügen bereiten, als dieß, sagte Reginald; könnte ich nur die Ueberzeugung haben, daß es deinen Eltern ebenso angenehm wäre wie dir.

– Charles Clifton hat mich eingeladen, mit ihm zu gehen, sagte Louis. Willst du mit Salisbury gehen, so gehe ich mit Charles; aber wenn Du hier bleibst, so bleibe ich auch.

Nun regnete es Einladungen; jeder wollte die beiden Brüder mit sich nach Hause nehmen; denn jeder bedauerte die Armen, daß sie solch' traurige Ferien haben sollten. Allein sie durften ohne Erlaubniß ihres Vaters oder des Doktors keine einzige dieser Einladungen annehmen. Der letztere entschied dahin, daß der eine Bruder mit Salisbury, der andere mit Clifton gehen sollte, weil diese so nahe bei einander wohnten.

Die Krankheit der Dame war, wie man später vernahm, nicht ansteckend, und in Dashwood beschloß man, die Knaben abzuholen; aber nun legte sich ein neues Hinderniß in den Weg: Es fiel eine so große Masse Schnee, daß die Wege für eine Zeitlang unbrauchbar wurden. Unterdessen gingen die Ferien zu Ende, und es lohnte sich nicht mehr der Mühe, die Knaben nach Hause zu nehmen.

Louis brachte bei seinem Freunde Clifton sehr vergnügte Tage zu. Er wurde bald der Liebling der Frau Clifton, sowie der ganzen Familie. Reginald blieb vierzehn Tage bei Salisbury und die übrige Zeit bei Meredith.

Nach beendigten Ferien kehrte Hamilton zum letzten Mal in die Anstalt zurück. Die im letzten Schulhalbjahre gemachten Erfahrungen hatten einen tiefen Eindruck in seinem Gemüthe zurückgelassen, und er trat mit dem erneuerten Entschlusse wieder in die Schule, gegen seinen Hang zur Gleichgültigkeit anzukämpfen, was ihm freilich nicht immer leicht wurde; denn eingewurzelte Gewohnheiten lassen sich nur sehr schwer ausrotten. Aber Hamilton kannte die Gnade Gottes, und diese erleichterte ihm alles. Gegen Louis blieb er ein zärtlicher und treuer Freund, indem er ihn auf seine Fehler aufmerksam machte und ihn beständig zum Guten aufmunterte. Unter diesem wohlthätigen Einflusse seines ältern Freundes gelangte Louis nach und nach zu einer löblichen Festigkeit und Selbstständigkeit des Charakters. Am Ende des Schulhalbjahres nahmen die beiden Freunde herzlichen Abschied von einander, und als Hamilton die Anstalt verließ, weinten alle seine Kameraden.

– O Hamilton! mein theurer, lieber Hamilton! wie vieles bin ich dir schuldig! Was soll nun aus mir werden, wenn ich dich nicht mehr habe? Wer wird mir fortan helfen und beistehen? so jammerte Louis.

– Dein Gott, dem du dienest, sagte Hamilton in einem herzlichen Tone. Du bist mir keinen Dank schuldig. Lebe wohl, mein lieber Louis, unsere Freundschaft soll nie aufhören.

Sie drückten sich die Hände und schieden.

Louis blieb noch drei Jahre in der Anstalt; er durchlief alle Grade des Schullebens und war von jedermann geachtet und geliebt. Damit soll jedoch nicht gesagt werden, daß er nie mehr etwas Unrechtes gethan, oder daß er immer einen unsträflichen Wandel vor Gott geführt habe. Das Leben des Christen ist ein beständiger Kampf gegen die Sünde und die bösen Neigungen des Herzens. Louis hatte den sehnlichen Wunsch, ein Diener des Herrn zu werden, und seine Studien wurden demgemäß eingerichtet. Sein Lieblingswunsch war, Pfarrer seines Heimathortes Dashwood zu werden, und in seinem Herzen sprach er mit dem königlichen Sänger:

»Meine Seele verlanget und sehnet sich nach den Vorhöfen des Herrn. Ich will lieber der Thüre hüten in meines Gottes Hause, als wohnen in der Gottlosen Hütten.«

Psalm 84, 3 und 11.


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