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Schon vor der Ankunft unsers Louis in Ashfield, war man mit Vorbereitungen für die bevorstehende Hochzeit der einzigen Tochter des Doktor Wilkinson beschäftigt gewesen und dieselben wurden stets eifriger fortgesetzt. Die Zöglinge der Anstalt wollten darin nicht zurückbleiben, sondern bewiesen ihren Eifer auf jede Weise. Die Aeltesten unter ihnen verfaßten ein lateinisches Hochzeitgedicht und Alle arbeiteten an drei Triumphbogen, welche man über den Weg zwischen dem Haupteingang zum Hof bis zur Hausthüre zog. Lehrer und Schüler freuten sich im Voraus auf den festlichen Tag, an dem dann auch die Studien ruhen sollten – und obgleich die Schüler im Allgemeinen tief davon durchdrungen sind, daß ihre Lehrer eine unüberwindliche Leidenschaft haben, Stunden zu geben, so war doch diesmal die Freude beim Gedanken an den bevorstehenden Feiertag bei den von der Arbeit angestrengten Lehrern noch viel größer als bei den Zöglingen.
Endlich erschien dieser lang ersehnte Tag und das Wetter war so schön, daß man es nicht herrlicher hätte wünschen können. Als der festliche Zug sich unter dem Triumphbogen fortbewegte, erfüllte ein Freudengeschrei die Luft, ein Blumenregen bedeckte die Pferde, und die Hüte flogen in allen Richtungen über den Köpfen.
Als der Zug vorüber und der letzte der festlich geschmückten Wagen, in welchem das Brautpaar selbst saß, vorbei war, zerstreute sich die junge Schaar nach allen zweiunddreißig Winden, jeder, wohin er wollte. Louis ging für sich allein mit einem kleinen Liederbuche in der Hand, und in Sehnsucht nach den guten alten Zeiten versunken. Dieser Augenblick der Ruhe und der Stille, fern von dem Geräusch und dem Tumult, that seinem Gemüthe wohl. Als ihn endlich seine Kameraden bemerkten, kamen sie auf ihn zu, um ihn zu einem Spiel einzuladen. Er nahm es gerne an und spielte mit so viel Vergnügen und Heiterkeit, wie seit langem nicht mehr.
Er war fest entschlossen, sich in Zukunft durch nichts mehr im Lernen stören zu lassen; deßhalb setzte er sich Nachmittags im Schulzimmer an die Arbeit. Er traf daselbst nur zwei Personen an; einen Lehrer, der einen Brief schrieb, und seinen Kameraden Ferrer. Dieser letztere saß auf der gleichen Seite der Schreibtische, wo Louis seinen Platz genommen hatte, ihm gegenüber, und schien in eine Arbeit vertieft.
Louis fühlte ein inniges Wohlbehagen bei dem Gedanken, die Vergnügungen auf dem Spielplatze seinen Studien aufgeopfert zu haben. Der muntere Lärm seiner Kameraden und die frische, erquickende Luft, welche durch die offene Thüre aus dem Garten herein drang, spornten ihn an, seine Arbeit sobald als möglich zu vollenden.
Ferrer und sein junger Studiengenosse arbeiteten fleißig und schienen einander nicht zu beachten, bis endlich der erstere den Kopf in die Höhe hob und Louis bat, ihm einen Atlas aus dem Nebenzimmer zu holen.
– Sehr gerne, sagte Louis, von der Bank aufspringend, und in demselben Augenblick war er wieder zurück und legte den Atlas auf Ferrer's Bücher. Darauf setzte er sich wieder an seine Aufgabe, die nicht ganz leicht war, als eine plötzliche Bewegung seines Nachbars seine Aufmerksamkeit auf sich zog.
– Hast du was gesagt? fragte Louis.
– Willst du? – Doch nein, ich will ihn selbst hintragen, murmelte Ferrer, welcher aufstand, um den Atlas wieder an seinen Platz zu bringen.
Louis, in seine Arbeit vertieft, bemerkte kaum, wie sein Nachbar wieder zurückkam, und noch weniger, mit Welcher Hast derselbe seinen Platz wieder einnahm und ein Buch verbarg, das er mitgebracht hatten Ferrer glaubte einen Schlüssel zu seinen Aufgaben erwischt zu haben, denn das Buch sah jenem ganz gleich, welches der Doktor dem Harrison weggenommen hatte. Es hatte dieselbe Größe und denselben Einband; eine Täuschung war also leicht möglich, besonders da Ferrer sich in der Verwirrung befand, die sich jedesmal einstellt, wenn das Gewissen sagt, daß man auf bösen Wegen wandle.
In demselben Augenblicke traten Hamilton, Trevannion und Salisbury mit noch einigen Andern aus dem Garten in das Zimmer und gingen auf Ferrer zu.
Ueberzeugt, welch eine Schande er sich zuzöge, wenn man diesen Schlüssel unter seinen Händen fände, versuchte er das Buch in sein Schreibpult gleiten zu lassen; aber dasselbe war geschlossen. Mit der größten Kaltblütigkeit stand er auf und that, als ob er unter den auf seinem Tische zerstreuten Heften und Büchern etwas suchte, während er diese Gelegenheit benutzte, das unglückliche Buch unter eines von Louis' Büchern zu verstecken. Das Buch guckte jedoch zur Hälfte hervor; aber der gute Louis ahnte nichts von der Gefahr, in die er durch diese feige Handlungsweise seines Kameraden gebracht wurde; er studirte eifrig fort und hatte nicht einmal seinen Kopf erhoben, als jene hereintraten.
– Ferrer, sagte Salisbury, wir möchten dich gerne etwas fragen; komm mit uns in's andere Zimmer.
Ferrer besann sich nicht lange und folgte seinen Kameraden. Louis aber blieb nun noch ungefähr eine halbe Stunde lang mit dem Lehrer allein im Zimmer. Jene kamen lachend wieder zurück und entfernten sich sogleich aufs Neue durch die Gartenthüre. Kaum waren sie fort, so kam Herr Witworth, der Lehrer, zu Louis, um ihn um einen Bleistift zu bitten. Louis legte seine Feder ab, und fing an, in seinen Taschen nach dem Bleistift zu suchen, als ihn plötzlich der Lehrer folgendermaßen anredete:
– So, so, das ist schön, da hab ich dich endlich, da hab ich das Geheimniß entdeckt!
Louis verstand nicht, was er sagen wollte; und auf's Höchste überrascht, antwortete er ihm, entdeckt? Herr Witworth, was hab ich denn gemacht?
– Was du gemacht habest! rief Herr Witworth aus, wie kannst du noch so fragen, mit was beschäftigst du dich da?
– Mit meiner Aufgabe, Herr Witworth.
– Richtig! richtig! könntest du mir vielleicht sagen, was das für ein Buch ist, sagte der Lehrer, indem er ihm den Schlüssel vorhielt. – Nicht wahr, du hast gemeint, du hättest es besser versteckt. Ich hätte nie geglaubt, daß du ein solcher Betrüger wärest.
– Ich versichere Ihnen, Herr Witworth, sagte Louis heftig bewegt, daß ich nichts von diesem Buche weiß.
– So, also noch besser, sagte Herr Witworth, das Buch ist nicht von selbst hieher gelaufen, Master Mortimer; es muß es wohl jemand hergetragen haben.
– Ich versichere Ihnen, ich weiß nicht, wer's gewesen ist, sagte der arme Louis, der ganz in Verzweiflung war.
– Willst du mich jetzt noch glauben machen, du seiest unschuldig, und habest das Buch nie gesehen, sagte Herr Witworth zornig.
– Ja, ich kenne das Buch, aber ich habe es nie gebraucht und ich habe es nicht hierher gelegt. Glauben Sie mir's doch, Herr Witworth.
– Ja, wahrscheinlich, dir glauben! Morgen kommst du sammt deinem Buch zu Herrn Wilkinson. Wir wollen dann sehen, wie viel er von dieser saubern Geschichte glauben wird. Mir geht jetzt ein Licht auf über deine Fortschritte in den letzten Tagen. Mit diesen Worten verließ Herr Witworth das Zimmer und ließ den armen Louis in seiner Verzweiflung allein.
– Ist also alle Mühe umsonst, die ich mir gebe, rief der arme Knabe aus, während er in Thränen zerfloß. Der Doktor wird mir nicht glauben wollen und dann – ach! wer kann denn das Buch hier gelassen haben?
– Louis, gehst du heute Nachmittag nicht aus? warum weinst du denn? so sprach jemand zu ihm und es war die willkommene Stimme seines Bruders Reginald.
– Ei! Fräulein Louise in Thränen gebadet! Hier ist das Tintenfaß, fanget doch die köstlichen Perlen auf, sagte Frank Digby, welcher mit Reginald gekommen war.
– O! Reginald! sagte Louis, ohne auf Digby's Späße zu achten, Jemand hat einen Schlüssel zu meinen Uebersetzungen auf meine Bücher gelegt und Herr Witworth hat ihn gefunden; was soll ich doch machen?
– Jemand, versetzte Frank. Das ist eine schöne Geschichte, Louis. Nur schade, daß man sie nicht hinunterschlucken kann, wie ein Glas Wasser. Wer könnte ihn doch liegen gelassen haben, diesen Schlüssel?
– Was? Wo denn Louis? sagte Reginald.
– Hier hat man ihn gefunden, ich kann mir gar nicht denken, wer ihn hierher gelegt hat.
– Aber, ist's möglich – hob Frank an: Ich ersticke fast vor Erstaunen. Schämst du dich nicht, Louis?
– Ich sage die Wahrheit, Frank, ich versichere dir, es ist die Wahrheit. Reginald, ich sage die Wahrheit; nicht wahr, Reginald, du weißt, daß ich die Wahrheit rede.
– Das ist eine merkwürdige Geschichte, sagte Reginald mit unzufriedener Miene und schien den Worten seines Bruders nicht den absoluten Glauben beizumessen, den jener erwartet hatte; denn er kannte ihn ja von früher und dießmal war der Schein doch etwas zu sehr gegen ihn.
– Reginald! mein theurer Reginald, rief Louis verzweifelnd aus, nicht wahr, du glaubst mir? nicht wahr?
– Dir glauben? sagte Frank mit Verachtung. O, er kennt dich zu gut, und ich auch. Hast du schon vergessen, was letztes Jahr geschehen ist? Du hättest dich schon daran erinnern sollen.
Reginald warf seinem Vetter einen drohenden Blick zu, in welchem eine deutliche Antwort zu lesen war.
– Ha, du kannst jene Geschichte nicht wegleugnen, Reginald, sagte Frank.
– Reginald, mein lieber Reginald, sagte Louis unter einem Strome von Thränen, du weißt, daß ich dir immer die Wahrheit gesagt habe, und ich erkläre dir hoch und theuer, daß ich sie auch jetzt rede.
Reginald blickte hierauf seinen Bruder betrübt an, ohne etwas zu antworten.
– Aber ich versichere dir! Ach, wenn du mir nicht mehr glauben willst, wer wird mir denn noch glauben?
– Ja, wer kann dir glauben? sagte Frank.
– Ich glaube dir, Louis, antwortete Reginald lebhaft, ich glaube dir; aber die Geschichte muß untersucht werden, sie ist äußerst merkwürdig, ich werde mir alle mögliche Mühe geben. – Wer war denn mit dir hier?
– Ferrer, antwortete Louis.
– Sonst Niemand?
– Nein.
– Es ist Ferrer, ich wette, sagte Reginald.
– Es ist wohl möglich, sagte Frank.
– Es ist sehr wahrscheinlich, sagte Reginald in einem entschiedenen Tone. Wehe dem Burschen!
Und Reginald stürzte hinaus, um Ferrer aufzusuchen, den er in der Mitte einer Truppe fand, und ohne viele Umstände auf ihn losstürzte.
Welcher Grobian! schrie Hamilton. Ich bitte Sie unterthänigst um Vergebung, Herr Mortimer, daß ich so unhöflich gewesen bin, Ihnen im Wege zu stehn.
– Es thut mir sehr leid, sagte Reginald hastig, aber ich habe nicht Zeit, meine Entschuldigung zu machen. – Ferrer, was hast du mit Kenrick's Exercizien zu schaffen? ich will sagen, mit dem Schlüssel?
– Ich? schrie Ferrer bis über die Ohren erröthend. Wa … wa … was willst du sagen, Mortimer?
– Du hast den Schlüssel zu Kenrick's Exercizien auf Louis' Bücher gelegt, um ihn in Verlegenheit zu bringen. Du wirst es wohl wissen.
– Bist du verrückt, Mortimer? sagte Salisbury, was für eine lächerliche Erfindung, wer wird sich denn um den kleinen Daumensdick bekümmern.
– Willst du den Ferrer antworten lassen oder nicht! rief Reginald gebieterisch aus.
Ferrer, der nicht wußte, daß er aus Versehen ein anderes Buch genommen hatte, als das beabsichtigte, wußte nicht, wie er sich aus der Verlegenheit ziehen sollte. Er kehrte daher Reginald den Rücken und sagte mit einer verächtlichen Miene: Eine solche Unverschämtheit verdient nicht, daß man sie beantwortet.
– Ja, du hast's gethan; du Hasenfuß, schrie Reginald, außer sich vor Wuth; ich weiß, du bist's gewesen, du weißt es auch. Willst du mir antworten oder nicht?
– Antworte ihm Ferrer, antworte ihm doch, sagten Einige, damit das Ding ein Ende nimmt; er macht ein Gesicht wie eine wilde Katze.
– Nun gut, ich hab's nicht gethan, sagte Ferrer, sich selbst Gewalt anthuend; bist du nun zufrieden?
Reginald warf einen ungläubigen und zornigen Blick auf seinen Gegner, dessen Physiognomie mit jeder Sekunde wechselte, und dann brach er in Wuth aus.
– Kein Wort glaub' ich von dem, was du mir sagst; du hast das Buch hingelegt, du hast den Louis entweder necken, oder dich an ihm rächen wollen. Oh! Master Ferrer, bedienst du dich nie einer Uebersetzung?
– Aber wirklich, Mortimer, sagte Trevannion, deine Sprache ist nicht sehr höflich. Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß dein kleiner Bruder sich zu helfen versteht, wenn's ihm beliebt. Erst letzthin sah ich ihn mit demselben Buch; hier ist Hamilton, er kann sagen, ob's nicht wahr ist.
– Wo das? Wann? fragte Reginald in ruhigerem Tone.
– Im Schulzimmer, als er allein war, um seine Aufgabe zu schreiben, nicht wahr, Hamilton?
Hamilton nickte bejahend. Der Doktor Wilkinson wird morgen die Geschichte untersuchen, sagte Reginald nach einer längeren Pause in sichtlicher Verlegenheit, und entfernte sich dann mit stolzer Miene. Ferrer war jedoch nur halb beruhigt. Er fürchtete, Reginald möchte den Titel des Buches nicht recht gelesen haben, und es könnte entdeckt werden, daß es ein Schlüssel zu den Exercizien der ersten Klasse sei, und weil man ihn im Verdacht hatte, so fühlte er wohl, welche Schande auf ihn fallen würde.
– Nun, Mortimer, sagte Hamilton, ich hoffe, du wirst keine solchen Ausdrücke mehr gebrauchen. Wenn Dr. Wilkinson von der Sache unterrichtet ist, so wird er den Thäter schon herausbringen, du kannst versichert sein; aber an deiner Stelle würde ich nichts zu ihm sagen. Mache Ferrer deine Entschuldigung und laß die Sache gut sein. Du schadest deinem Bruder mehr, als du ihm nützest.
– Mache ihm deine Entschuldigung! wiederholte Reginald in einem ironischen Ton, er kann damit warten bis am einunddreißigsten Februar. Die Sache muß vor den Doktor; Herr Witworth hat das Buch gefunden und hat es ihm wahrscheinlich schon gezeigt.
– Komm mit mir, Mortimer, sagte Hamilton, und erzähle mir einmal die ganze Geschichte.
Während Reginald seinem Freunde in aller Ruhe erzählte, wie es dem Bruder ergangen sei, hatte sich Frank zu der Gruppe herbei gemacht, welche jene soeben verlassen hatten, nahm sich mit Wärme Ferrer's an und sprach vor der ganzen Gesellschaft mit Uebertreibungen von allen Fehltritten und Charakterschwächen des armen Louis, die ihm bekannt waren, so daß alle Anwesenden mit Unwillen gegen Reginald erfüllt wurden, weil derselbe den Ferrer so fälschlich angeklagt habe.
Dieser letztere grämte sich nicht sonderlich darüber, daß er durch seine Unredlichkeit seinem kleinen Kameraden Schande bereitete und dessen Bruder den Unwillen seiner Mitzöglinge auflud; dagegen war ihm sehr viel daran gelegen, den Argwohn, den man gegen ihn hatte, von sich abzuwälzen. Als er jenes unglückliche Buch auf Louis' Platz legte, dachte er freilich nicht von ferne daran, ihm damit ein so großes Unrecht anzuthun. – So verleitet uns die Selbstsucht, Andere in Schande und Schaden zu stürzen, um eigene Schande abzuwenden, oder Fehler zu verdecken; und so sehr hängt eine Sünde an der andern, daß die Folgen, die aus einem kleinen Fehltritte entstehen, unberechenbar sind.
Die Kunde von diesem Vorfall ging bald wie ein Lauffeuer bei allen Klassengenossen des armen Louis herum, die natürlich begierig waren, die Ursache seiner rothen und verweinten Augen und seines traurigen Gesichts zu erfahren. Der arme Junge hatte so viele spöttelnde Bemerkungen auszustehen, und begegnete so vielen verächtlichen Blicken, daß er nicht wußte, wohin er sein Antlitz wenden sollte. Am schmerzlichsten aber war ihm das bedeutungsvolle Stillschweigen seiner ältern Kameraden. Hamilton blieb den ganzen Abend still und würdigte Louis gar keiner Aufmerksamkeit; und wenn auch Louis' Blicke den seinigen begegneten, so achtete er nicht im Geringsten darauf; ja er verhinderte sogar den kleinen Alfred, sich in Louis' Nähe zu setzen und behielt ihn, ohne ihm den Grund zu sagen, bis zur Stunde des Schlafengehens neben sich. Frank Digby beschimpfte den Louis zwar nicht öffentlich; aber er machte so viele unedle und beißende Bemerkungen, daß Reginald ihm mehr als einmal wüthende Blicke zuwarf, wodurch der unverschämte Witzbold endlich zum Schweigen gezwungen wurde.
Als aber die ältern Zöglinge in ihre Schlafzimmer gegangen waren, setzte Frank seine ironischen Bemerkungen über Louis fort, zuerst nur in verblümten Ausdrücken, nach und nach aber immer unverhüllter. Reginald that zuerst, als ob er's nicht hörte, aber innerlich gerieth sein Blut in Wallung. Er hielt den Ausbruch mit Gewalt zurück, aber Frank's Angriffe wurden endlich so unverschämt, daß Reginald, der einen lebhaften und großmüthigen Charakter hatte, seinen Zorn nicht mehr zurückhalten konnte und in einem Augenblick war er bei seinem Vetter, packte ihn mit wüthender Kraft an: »Es ist jetzt genug, du hast mich den ganzen Abend gereizt, du willst, daß ich zornig werde, da, du feige Memme!« und damit versetzte er seinen Vetter einige so derbe Faustschläge, daß derselbe mit seinem Kopf gegen die Thüre schlug und bewußtlos zu Boden fiel, während das Blut aus einer Wunde an seiner Stirne auf den Boden rann.
Der allgemeine Schrecken war so groß, daß eine Todtenstille eintrat. Die Zöglinge, vor Schrecken starr, betrachteten den besinnungslos daliegenden Kameraden. Reginalds Zorn besänftigte sich, er wurde blaß, wie der Tod, rang die Hände und rief aus: O, was habe ich gemacht! Die Anderen schrieen: Digby ist todt! Digby ist todt!
– Hamilton wollte den Frank aufheben, als im gleichen Augenblicke der Doktor mit einem Lehrer und zwei Knechten hereintrat. Die jungen Leute, welche Frank umstanden, entfernten sich augenblicklich, um dem Doktor Platz zu machen, welcher mit Hamiltons Hülfe Frank in sein Bett trug.
– Er ist todt! er ist todt! schrieen die Knaben alle.
– Wie ist denn das zugegangen? fragte der Doktor, der in aller Eile Franks Halsbinde losmachte und nach dem Arzt zu schicken befahl. Einer mußte ein Riechfläschchen, ein Anderer Wasser holen, und auch Frau Wilkinson erschien sehr bald mit allerlei wiederbelebenden Mitteln. Aber es vergingen mehrere Minuten, bis Frank ein Lebenszeichen von sich gab. Was Reginald dabei empfand, kann man sich denken! Mit welcher Angst betrachtete er seinen bewegungslos hingestreckten Vetter! das mit Blut bedeckte Gesicht desselben! mit welcher Unruhe heftete er seine Blicke auf den Doktor, dessen Physiognomie immer düsterer wurde, je länger die Bemühungen, Frank aus der Betäubung zurückzurufen, fruchtlos blieben! und mit welchem Herzklopfen hörte er das Murmeln und Flüstern der vor Schrecken blassen Kameraden, die in einiger Entfernung Frank's Bett umstanden! Er stand mit krampfhaft in einander gefalteten Händen da, und was in seinem Innern vorging, könnte niemand in Worten ausdrücken. Sollte er wirklich die Ursache sein, daß sein Vetter unvorbereitet in die Ewigkeit hinübergegangen? O! was hätte er nicht dafür gegeben, wenn er nur ein einziges Lebenszeichen an ihm bemerkt, und wie viel mehr noch dafür, daß er seinen eigenen Zorn rechtzeitig bezähmt hätte. Er war in Verzweiflung, als endlich Frank ein leises Stöhnen hören ließ und die Augen aufschlug; allein er schloß sie augenblicklich wieder. In diesem Augenblicke erschien der Arzt, dessen kräftige Mittel alsobald den Frank wieder in's Leben zurückriefen; aber derselbe war noch unfähig zu sprechen. Doktor Wilkinson ließ ihn in ein anderes Zimmer tragen, und nachdem er sich überzeugt hatte, daß er mit Allem versorgt und außer Gefahr sei, begab er sich zu Reginald in sein Schlafzimmer.
– Nun möchte ich aber gerne wissen, sagte er, auf welche Weise dieses Unglück herbeigeführt wurde?
Keine Antwort, nur aus dem entfernten Ende des Zimmers hörte man ein Schluchzen.
– Wer hat es gethan? wiederholte der Doktor.
– Ich, Herr Wilkinson, sagte Reginald mit gebrochener Stimme.
– Komm hierher, wer ist's denn? sagte Wilkinson.
– Mortimer, also du bist's, der Ausbruch deiner Leidenschaft hätte also beinahe den Tod deines Vetters verursacht. Es macht mir sehr vielen Kummer zu sehen, wie wenig Gewalt du über dich selber hast. Wie ist denn das zugegangen?
Reginald war unfähig zu antworten, und der Doktor, welcher wohl sah, daß für jetzt nichts herauszubringen sei, verließ das Zimmer mit der Absicht, das Verhör am folgenden Morgen wieder aufzunehmen.
Der arme Reginald war von Kummer fast zu Boden gedrückt. Er fiel mit seinem Bruder, nachdem sie das Licht ausgelöscht hatten, auf der Seite des Bettes auf die Kniee und sie weinten zusammen in der Stille bittere Thränen. Reginald war in seinem Gemüthe zu aufgeregt, als daß er hätte schlafen können. Die Dankbarkeit gegen Gott, daß er das Leben seines Vetters erhalten hatte, sammt dem Kummer um seinen Bruder Louis erhielten ihn noch lange wach, nachdem alle seine Kameraden schon längst in Schlaf versunken waren.