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XXI

Oeffentliche Strafe ist besser, denn
heimliche Liebe.

Sprüche Salomo's 27, 5.

Die Ferien rückten mit schnellen Schritten heran. Einige Zöglinge machten Einschnitte in ihre Stöcke, so oft wieder ein Tag vorbei war; andere hefteten zu den Häupten ihrer Betten einen Papierstreifen, auf welchem jeden Abend ein Strich ausgelöscht wurde. Alle warteten mit Ungeduld auf den ersehnten Tag, der den jungen Herren Ruhe und Freiheit bringen sollte.

Der Prospektus für das Examen war ausgegeben. Jeder studirte daran, und dann ging's an's eifrige Studium der Wissenschaften. Die Fleißigsten wußten sich bei dem alten Meister Dunn Kerzen für ihre nächtlichen Studien zu verschaffen. Louis durchging mit einem langen Gesicht die Reihe der Fächer, in denen er in wenigen Wochen die Früchte seines Fleißes zeigen sollte. Obgleich er in diesem Jahre nicht unfleißig gewesen war, so hatte ihm Clifton doch den Rang abgelaufen.

Hamilton arbeitete an einer lateinischen Komposition, mit welcher er einen Preis davon zu tragen hoffte. Außer dieser hatte er aber noch eine Menge anderer Arbeiten, über denen er sich, wie er zu sagen pflegte, den Kopf zerbrechen mußte. Er hatte bei dem letzten Examen keine Mitbewerber um den Preis im Lateinischen gehabt; dießmal aber waren Normann und Frank Digby nicht zu verachtende Rivalen; besonders war der letztere in diesem Jahre außerordentlich fleißig gewesen, und dieser Fleiß, verbunden mit seinen Talenten, schien ihm, wenn auch nicht den ersten Preis, doch einen bedeutenden Rang sichern zu wollen.

Hamilton nahm sich kaum Zeit, hie und da einen kurzen Spaziergang zu machen; und wenn er auch noch Louis' Freund gewesen wäre, so hätte er keine Muße gefunden, sich mit ihm abzugeben. Er warf indessen doch immer noch von Zeit zu Zeit einen ängstlichen Blick nach der Gegend des Zimmers, wo Louis seinen Platz hatte.

Louis war ebenfalls eifrig mit seinen Aufgaben beschäftigt. Schon am frühen Morgen war sein Kopf mit Geschichte, Latein, Englisch und Französisch angefüllt, und so ging's bis zum späten Abend. Kaum fand er Zeit, ein herzloses Gebet herzusagen. Wie war es doch das letzte Jahr so ganz anders gewesen! Louis war damals nicht weniger fleißig als jetzt, aber er war treuer im Gebet; er hatte nicht mehr Zeit als jetzt, aber er benutzte sie besser; seine Religion bestand nicht in einigen kalten, beim Aufstehen und Schlafengehen gedankenlos hergesagten Worten; seine Bibel wurde nicht, wie jetzt gewöhnlich, nur einmal wöchentlich, nämlich am Sonntage, geöffnet. Wer ihn beobachtet hätte, dem wäre der Unterschied zwischen ehmals und jetzt sehr aufgefallen. Der ehmals so sanfte, bescheidene und unschuldige Knabe war jetzt ängstlich, unruhig, reizbar, und suchte durch eigene Kraft zu erringen, was ihm früher durch Gottes Gnade so leicht gelungen war.

Der erste Tag der Examina war da. Louis und Clifton machten zwischen den Stunden einen Spaziergang mit einander, um die Tagesaufgaben zu besprechen. Als sie wieder zurückgekehrt und in den Hof getreten waren, sahen sie Casson, Harris und Churchill, die sich in eine Ecke des Spielplatzes begaben, um dort bei der Magd des Hauses Aepfel in Empfang zu nehmen.

– Sieh, Louis, was für schöne Aepfel! sagte Churchill. Der Name Aepfel rief unangenehme Erinnerungen in Louis Gedächtniß zurück. Er wollte dieselben weder sehen, noch Churchill'n eine Antwort geben, sondern versuchte wegzukommen. Die drei Kameraden waren aber zu sehr mit Aussuchen von Aepfeln beschäftigt, als daß sie Zeit gehabt hätten, ihm Platz zu machen.

Plötzlich bot Sally ihm den Korb an und sagte zu ihm:

– Wollen Sie ihn verstecken, Louis? ich weiß nicht, was der Doktor sagen würde.

– Gibt es noch viele, wo diese herkommen, Sally? fragte Casson.

– Das ist ein sehr schöner, mein Herr, sagte Sally, indem sie in Louis erschrockenes Gesicht blickte und ihm einen Apfel vorhielt.

– Sie gehören ihnen nicht, Sally, sagte Louis zurücktretend. Casson, Churchill, Harris, gebt Achtung, was ihr macht! Es ist nicht recht; ich weiß, woher sie kommen.

Sally war nicht wenig erschrocken und fügte hinzu, sie habe nur einen oder zwei genommen, und das mache dem Doktor ja nichts.

– So, glauben Sie? warum wollen Sie denn, daß ich sie verstecken soll?

– Aber nicht wahr, Mister Louis, Sie sagen nichts? bat ihn Sally.

– Ha! wenn er's thut, murmelte Harris, ich will … ich will ihm …

Was er wollte, konnte Louis nie erfahren; erhörte es nicht mehr, denn er rannte mit Clifton davon.

– Ich finde, sagte Louis zu seinem Freunde Clifton, daß man die Sally Simmons nicht als Magd in unserem Hause behalten sollte; sie macht immer solche Sachen, und wenn sie auch schon weiß, daß es den Knaben verboten ist.

– Aber wenn du weißt, was sie macht, warum sagst du es nicht dem Doktor? versetzte Charles.

– Sobald ich wieder etwas sehe oder höre, so will ich es ihm sagen, erwiederte Louis; aber es thut mir nur eines leid, daß alsdann unsere Kameraden gestraft werden.

– Aber wenn sie's verdienen? sagte Clifton. Mein Vater sagt immer, wer etwas Böses zudecke, während er es doch verhindern könnte, sei ebenso strafbar wie der, welcher es thue.

– Ich weiß das wohl; aber die Knaben würden mich einen Verräther schelten.

Charles sah seinen Freund verwundert an.

– Und was verhindert dich, Gutes zu thun? erwiederte er ihm. Was hat das zu bedeuten, ob ein paar schlechte Subjekte dich einen Verräther nennen?

– Es ist nicht aus diesem Grunde. Ich möchte nicht Schuld sein, daß sie gestraft werden, sagte Louis etwas verlegen.

– Theile das deinem Freunde Hamilton mit und frage ihn um seinen Rath!

– Weißt du denn nicht, Clifton, daß Hamilton nicht mit mir reden will?

– Nein, das wußte ich nicht, erwiederte der erstaunte Knabe. Warum nicht? er hatte dich ja immer so lieb.

– Ja, er hatte mich lieb; allein jetzt zürnt er mir, antwortete Louis und schlug die Augen nieder.

– Ich weiß wohl, daß er mich nicht gern hat, entgegnete Charles; aber du warst immer sein bester Freund.

– Die guten Zeiten sind vorbei, seufzte Louis.

– Aber, bemerkte Clifton, ohne im Geringsten sich darnach zu erkundigen, warum sie sich entzweit hätten, so kannst du doch deinen Bruder Reginald fragen.

– Was Reginald an meiner Stelle thun würde, weiß ich wohl. Er würde es Ms Beste halten, zu schweigen.

– Nun, Louis, dann bleibt nur eines übrig – dein Gewissen zu fragen und selbstständig zu handeln.

– Das letztere ist nicht so leicht, Charles; o, wollte, ich wäre wie du!

– Warum? fragte Charles mit ernster Miene. Du hast mehr Freunde als ich; denn ich hab' eigentlich niemanden als dich. Es liegt mir zwar nichts daran; aber ich glaube, du denkst hierin nicht so wie ich.

– Es ist möglich. Ich wollte, ich wäre auch selbstständiger. Ich bin nicht halb so glücklich wie du. Ich kann mich nie entschließen, etwas zu thun, weil es recht ist; du thust im Gegentheil das Gute immer, weil es gut ist. Weil ich so viele Freunde habe und einem jeden gern gefallen möchte, so verwickle ich mich immer in unangenehme Dinge und thue, was nicht recht ist. Es gibt, glaub' ich, keinen schlechtem Menschen, als ich einer bin, und ich werde immer schlechter. Ach, ich wollte, mein Vater hätte mich nie hieher geschickt!

– Ich habe dich sehr lieb, sagte Clifton, und ich versichere dich, daß ich dir sehr viel zu verdanken habe.

– O Clifton, weißt du denn nicht, daß es viel leichter ist, vom Guten zu reden, als dasselbe auszuüben? entgegnete Louis mit einem tiefen Seufzer. O, Heimath, süße Heimath!

In den nun folgenden Tagen war Louis zu sehr beschäftigt, um sich viel mit seinen schlechten Kameraden abzugeben. Das Examen war in vollem Gange. Louis hatte durch eisernen Fleiß den alten Platz wieder errungen; nur Clifton konnte er nicht mehr einholen. Dieser fleißige Schüler hatte sich nicht bloß für das Examen gründlich vorbereitet, sondern war die ganze Zeit über eifrig an seinem Studium gewesen. Er hatte also das Examen nicht zu fürchten, sondern erwartete dasselbe mit vollkommener Ruhe, so daß Louis auf den Gedanken kam, Clifton strebe nicht nach einem Preise. Aber er täuschte sich; wer den Knaben aufmerksam beobachtet hätte, würde bald gesehen haben, daß auch er nach einer Belohnung seines Fleißes trachtete. Clifton trug in allen Fächern seiner Klasse den Preis davon; nur in der Mathematik fand er an Louis seinen Mann. Dem guten Clifton wurde aber nicht sehr applaudirt, weil er wenig Freunde hatte, Selbst mit seinen Lehrern, denen er übrigens nie und in keiner Weise Mühe machte, lebte er in keiner besondern Freundschaft, denn er war ganz für sich und bekümmerte sich nicht um andere; doch mußten alle Zöglinge und Lehrer seinem Eifer und seiner Ausdauer die gebührende Achtung zollen.

Das Examen in der Mathematik war beendigt. Louis wollte die kleine Zwischenpause, die der Klasse vergönnt wurde, noch zum Wiederholen der Geschichte anwenden. Zu diesem Zwecke suchte er im großen Schulzimmer ein Buch. Er fand daselbst Hamilton und Reginald, beide eifrig beschäftigt. Louis stöberte die ganze Bibliothek durch, ohne das Buch zu finden. Endlich fragte er in der Verzweiflung seinen Bruder Reginald, ob er nicht wisse, wer Rollin's Geschichte vom Büchergestell genommen habe. Reginald nickte verneinend.

– Es sind alle Bücher fort, sagte Louis ganz ärgerlich. Wahrscheinlich hat Charles es genommen; er hat es gestern schon den ganzen Tag gehabt und kann es mir heute wohl einige Augenblicke lassen.

– Nein, ich glaube, Trevannion hat es, sagte Reginald.

– Du kannst das meinige haben, sagte Hamilton.

Louis stand da, ohne zu antworten. Er hätte das Buch gerne gehabt; aber er war zu stolz, das Anerbieten anzunehmen.

– Es ist in meinem Zimmer, fuhr Hamilton fort, ohne aufzublicken.

– Ich danke dir schön, ich brauche dein Buch nicht, erwiederte Louis kalt und stolz, und verließ das Zimmer.

Als er in das andere Zimmer trat, begegnete er dem Doktor, der soeben einen kurzen Spaziergang für die Zöglinge verordnet hatte. Derselbe erkundigte sich, wo Hamilton sei. Louis hatte kaum die Thüre hinter sich zugemacht, als Hamilton dieselbe barsch wieder aufriß und in's Zimmer trat.

– Soeben habe ich nach dir gefragt, sagte der Doktor, seine Hand auf die Schultern des jungen Mannes legend. Es ist so schönes Wetter; ich wollte dich zu einem Spaziergange mit mir einladen.

– Heute, Herr Doktor? sagte Hamilton, und sein Gesicht drückte nichts weniger als freudige Ueberraschung aus.

– Und warum denn auf morgen verschieben, was man heute machen kann? erwiederte der Doktor lächelnd. Wir müssen das schöne Wetter benutzen, wenn wir es haben. Vielleicht hast du geheime Hoffnung, dasselbe sei morgen schlecht. Heute müssen alle ausgehen; sonst kommt ihr sämmtlich krank zu Hause an.

Dabei fielen die Blicke des Doktors auf Clifton, der nicht weit von ihm auf einer Bank saß, die Ellbogen auf den Tisch gestützt und die Hände in den Haaren, die er mit seinen Fingern kämmte. Er war ganz vertieft in Gibbon's Fall des römischen Reiches. Doktor Wilkinson redete ihn zweimal an, erhielt aber keine Antwort. Hierauf faßte er ihn beim Arm und zwang ihn, sich nach ihm umzuwenden.

– Was machst du denn da?

– Ich lerne Geschichte, Herr Doktor, sagte er ganz gleichgültig, und man konnte deutlich merken, daß ihm diese Unterbrechung nicht besonders lieb war.

– Du hast deine Sache heute gut gemacht, wie ich höre. – Mit diesen Worten ließ ihn der Doktor wieder los, und Clifton nahm genau seine vorige Stellung wieder an.

Hamilton schien unzufrieden und ungeduldig zu sein. – Gehen Sie gleich? fragte er den Doktor, können Sie nicht noch ein paar Minuten warten?

– In einer Viertelstunde will ich unten beim Hofthore sein, antwortete der Doktor.

– Ich werde nicht fehlen, sagte Hamilton, der die Treppen hinaufflog, aber in demselben Augenblicke mit einem dicken Buch unter dem Arm wieder erschien. Er fragte nach Trevannion, und als man ihm sagte, daß er im Garten sei, ging er hinaus, ihn aufzusuchen. Er entdeckte ihn bald, wie derselbe mit Normann Arm in Arm spazierte. Sie schienen sehr mit der Wissenschaft beschäftigt zu sein; denn der eine hatte ein altes Buch, welches sie um Rath fragten und das ihnen brüderlichen Beistand zu leisten schien. Seit jenem Zwist zwischen Hamilton und Trevannion hatten sich diese nicht sehr oft gesprochen. Trevannion war deßhalb über Hamilton's Erscheinen sehr verwundert und wurde es noch mehr, als ihn derselbe bat, sein Buch gegen dasjenige auszutauschen, das er in der Hand hielt.

– Ich brauche mein Buch, Hamilton, sagte Trevannion.

– Das ist Rollin's Geschichte, sagte Hamilton; ich wäre sehr froh, wenn du mit mir tauschen würdest.

Trevannion machte große Augen; aber ohne ein Wort zu sagen, tauschte er das Buch aus.

– Was für ein Einfall ist das wohl, sagte Normann, als Hamilton sich entfernt hatte.

– Ich versteh' ihn nicht, sagte Trevannion; er hat mir sein Buch gegeben; was will er denn mit dem andern machen?

– Es ist vielleicht eine neue Art, alte Zwiste auszugleichen, versetzte Normann hohnlächelnd.

– Nein, das glaube ich nicht, erwiederte Trevannion; er würde es nicht so angestellt haben. – Es steckt etwas Anderes dahinter.

– Aber bist du gewiß, daß es das gleiche Buch ist? fragte Normann.

– Ich glaube, es ist die gleiche Ausgabe, antwortete Trevannion; und wenn es nicht die gleiche ist, so ist's auf jeden Fall eine bessere; er hätte sie mir sonst nicht gegeben.

– Was denkst du von Hamilton? hast du eine gute Meinung von ihm?

– O ja, eine sehr gute. Wenn er sich wieder mit mir aussöhnen wollte, so wär' ich augenblicklich bereit dazu.

– Das, ich muß es gestehen, sagte Normann, das ist deiner würdig.

Trevannion bemerkte nichts darauf; denn seine Aufmerksamkeit wurde auf die andere Seite des Gartens gelenkt.

– Holla, Normann, sieh' einmal!

– Wie? was? Es ist entsetzlich! rief Normann aus.

– Da sind sie – sie verstecken sich – jetzt sieht man sie wieder – sieh', sieh', wer ist es? Verstecke dich hinter den Baum! – Wir wollen der Geschichte ein wenig zusehen.

Sie stellten sich hinter den Baum und bemerkten, wie drei Knaben nach einander sich von dem Ast eines Baumes herunterließen, mit dessen Hülfe sie die Mauer erstiegen hatten, und über den Hof sprangen.

– Wer ist's denn? sagte Trevannion, indem er eine Lorgnette ansetzte, die der elegante Herr immer in der Westentasche trug. – Einer ist Churchill; und wer ist der Große? Ist's nicht Harris? doch nein, es kann nicht sein.

– Doch, es ist Harris, sagte Normann, und der andere ist Casson.

– Die haben gewiß nichts Gutes gesponnen, sagte Trevannion. Ich muß mir diese merkwürdige Erscheinung notiren. Damit zog er sein Notizenbuch heraus und zeichnete die wichtige Begebenheit auf. Kaum war er fertig, so erschienen die Zöglinge mit Mänteln und Stöcken zu dem vom Doktor angeordneten Spaziergang; und sie schlossen sich ebenfalls an.

Was Hamilton mit jenem Buch wollte, werden die jungen Leser schon errathen haben. Als er Louis nicht fand, trug er das Buch in das kleinere Schulzimmer und setzte sich wieder an seinen Platz, um sein lateinisches Gedicht zu vollenden, welches er dann sorgfältig in einen Umschlag legte, den er versiegelte. Jetzt zeigte ihm die Uhr, daß die bewilligte Viertelstunde vorüber sei und er sich zum Hofthore zu begeben habe. In aller Eile raffte er seine Sachen zusammen, ließ sie auf dem Tische liegen, sprang nach seinem Hut und war in einem Augenblick unten am Ende des Hofes, gerade noch zur rechten Zeit, um seinen Ruf der Pünktlichkeit zu retten.

Auf dem ganzen Spaziergange waren Casson und Louis beisammen, und der erstere erzählte von den Streichen, die er in seiner frühem Schule ausgeübt hatte. Louis konnte sich des Lachens nicht enthalten, und der unglückliche Knabe fing an, sich zu rühmen, wessen er sich sonst geschämt hätte, nämlich mit welchem Muthe und welcher Entschlossenheit er sich bei Cassons letzten Streichen beteiligt habe. So groß war seine elende Eitelkeit, daß er seinem schlechten Genossen an Muth und Unerschrockenheit nicht nachstehen wollte, obgleich er den letztem eigentlich verabscheute. Casson lachte heimlich, als Louis sich solcher Kleinigkeiten rühmte, und bedeutete ihm, daß dieß gar nicht der Rede werth sei, sondern daß er noch ganz andere Streiche ausüben müsse, wenn er ein tüchtiger Bursche werden wolle. Und nun munterte er ihn auf, Muth und Tapferkeit zu beweisen, so daß Louis nach und nach an den » gelungenen Streichen« Freude fand und gar nicht übel aufgelegt war, hierin ebenfalls seine Kräfte zu üben.

Die Zöglinge blieben im Freien bis zur Stunde des Mittagessens. Die Zeit ihrer Erholung war freilich nur sehr kurz gewesen; aber diese kurze Zeit reichte für unsern armen Louis hin, etwas zu thun, wovon er die Folgen nicht berechnete. Er beklagte sich nämlich bei seinem Kameraden Casson, daß er sich trotz aller Mühe Rollin's Geschichte nicht habe verschaffen können, worauf ihn dieser versicherte, er habe das Buch im Schulzimmer gesehen, und um ihn von der Wahrheit seiner Aussage zu überzeugen, begab er sich nach seiner Ankunft zu Hause mit Louis in das Zimmer.

– Ha, ha! Mister Louis Mortimer, wer hat nun Recht, du oder ich? schrie Casson, indem er das Buch vom Tisch aufhob.

– Wie geht denn das zu? wie kommt das Buch hieher? sagte Louis, seine Augen weit aufreißend. Das ist gewiß Trevannion, das sind seine Bücher. – Aber Hamilton hat hier geschrieben, hier ist sein Wörterbuch. – Er hat mir nicht gesagt, daß er Rollin's Geschichte habe, – ich dachte, Trevannion habe das Buch. – Wie schön das ist von Hamilton! – Ich denke, er hat es so gemacht, damit ich's nicht bekommen soll. – Aber ich hab' es jetzt; er hat ein eigenes.

– Er braucht es nicht, sagte Casson; – ei, was hat der für einen Haufen Sachen! Sieh, da hat er einen Aufsatz, oder es ist ein Brief, der Umschlag ist zu schön für einen Aufsatz. – Potz tausend, was ist das für ein Brief! Er ist versiegelt. – Weißt du was, Louis …

Was Casson im Sinne hatte, war nichts mehr und nichts weniger als ein »Kapitalstreich,« den er Hamilton spielen wollte: er wollte nämlich den Brief wegnehmen und einen andern ähnlichen an die Stelle legen.

– Ich habe das in unserer frühern Schule sehr oft gemacht. O, wenn du wüßtest, was die Leute für drollige, verdutzte Gesichter machen, wenn sie die Briefe öffnen und nichts als leeres Papier drin finden.

– Aber, wie hast du das gemacht?

– O, das ist sehr leicht zu machen! Man nimmt ein ganz ähnliches Papier, ganz genau so zusammengelegt wie das andere, füllt es aus, bis es ungefähr so dick ist, wie das andere war – und dann merkt es kein Mensch. – Sieh Louis, so! – halt das! – so, jetzt leg's zusammen! – Ei der tausend, wie schön das geworden ist!

– Aber jetzt fehlt noch das Siegel, sagte Louis.

– Er erinnert sich nicht mehr, daß er es zugesiegelt hat, entgegnete Casson. O, welch' glückliche Entdeckung! hier ist Siegellack – und hier sein Bleistifthalter mit seinem Petschaft.

Das Paket wurde zugesiegelt und an seinen Platz gelegt. Aber Louis empfand doch einige Unruhe.

– Casson, sagte er, es ist doch nicht recht, wir wissen ja nicht, was drin ist.

– Nun, wenn du glaubst, daß es etwas Wichtiges sei, so trag' es auf die Post! Es gibt eine angenehme Ueberraschung für Hamilton, wenn er es zu Hause vorfindet.

Die Glocke rief zum Mittagessen, und Louis nahm schnell das Paket und sprang aus dem Zimmer. Als er an der Thüre des Speisesaales ankam, besann er sich und sagte zu seinem Gefährten: – Aber Casson, es könnte doch wichtige Folgen haben.

– Um so besser, dann ist der Streich nur um so gelungener, und Hamilton ist für sein Betragen gegen dich gerächt.

– Ich will mich nicht an Hamilton rächen. O nein, ich will ihm keinen Streich spielen; ich will das Paket wieder hintragen, wo es gewesen ist.

– Was du für ein Held bist! Nicht wahr, du denkst, es geht dir an den Kopf? sagte Casson spottend.

– Aber wo ist es denn hingekommen, wo hab' ich es hingethan? rief Louis aus, hab' ich es vielleicht in meinen Schreibtisch gelegt, als ich den Livius hinein that?

Er hatte nicht mehr Zeit, in's Schulzimmer zurückzukehren; denn Hamilton war bereits dort und hatte seine Sachen zusammen gepackt und in sein Schreibpult eingeschlossen. Auf das falsche Paket hatte er jedoch verhängnißvolle Blicke geworfen, und Louis, welcher bei der Thüre stand, durfte ihm nichts sagen; denn er hoffte, daß sich das rechte Paket noch finden werde.

Des folgenden Morgens wurden die gesiegelten Pakete der Zöglinge gesammelt und dem Doktor übergeben. Nicht ohne Unruhe überreichte Hamilton das seinige. Er hätte sich diese Unruhe ersparen können; denn sein Paket enthielt ja nichts als schöne weiße Papierstreifen. Louis sah mit ängstlichen Blicken nach dem Paket, und der einzige Trost, den er hatte, war die Hoffnung, Hamilton möchte vielleicht doch das rechte Paket gefunden haben. Den ganzen Tag sprach man von nichts anderem, als von diesen Paketen und von den Preisen, welche dieselben ihren Eigenthümern zurück bringen werden. Wie es Louis bei diesen Gesprächen zu Muthe sein mußte, kann man sich denken. Wie sehr bereute er seinen dummen Streich! wie ängstlich harrte er auf den Ausgang dieser Geschichte! Den ganzen Abend war er nicht im Stande, seine Gedanken zu sammeln und zu studiren; den Kopf in beide Hände gestützt, saß er an seinem Platze und dachte über die Folgen nach, die sein dummer Streich haben könnte.


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