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Alles, was dir vorhanden kommt zu
thun, das thue frisch.
Prediger 9,10.
Wachet und betet.
Matth. 26, 41.
Denn die Waffen unserer Ritterschaft
sind nicht fleischlich, sondern mächtig vor
Gott, zu verstören die Befestigungen; damit
wir verstören die Anschläge und alle
Höhe, die sich erhebet wider das Erkenntniß
Gottes.
2. Corinth. 10, 4 u. 5.
Ach! Louis, jetzt sind wir zu Hause, wiederholte Reginald, sobald er in den Salon trat. Es war die liebe Heimath mit allen ihren süßen Erinnerungen und den lieben alten Bewohnern. In wenigen Minuten hatten die beiden Knaben das Haus von unten bis oben durchlaufen, und alle die lieben alten Plätzlein und Ecklein gesehen; die Knaben schüttelten den Mägden treuherzig die Hand, küßten die alte Wärterin, weckten den kleinen Freddy aus seinem Schlafe und kehrten dann schnell wieder in den Saal zurück, wo ein dampfender Thee bereit stand. Es war ein herrlicher Thee. Jeder hatte so viel zu erzählen und zu sagen. In dem Saal herrschte eine Lebendigkeit und Munterkeit, die man gesehen haben muß, um sich dieselbe vorstellen zu können. Man fühlte in diesem Augenblicke, daß es sich wohl lohne, ein wenig abwesend zu sein, um dann wieder nach Hause zu kommen. Die Strahlen der untergehenden Sonne erloschen nach und nach auf den Wänden, auf dem Tische, auf dem Teppich und endlich auf den Fensterscheiben, und die Abenddämmerung brach herein. Die kleine Marie saß ihrem Vater auf den Knieen, und erst nachdem sie unzählige Küsse erhalten, wurde sie von ihrer Wärterin wieder in's Schlafzimmer getragen.
Die ganze Familie saß jetzt in einem Halbkreise am offenen Fenster und betrachtete die schönen Sterne mit ihrem funkelnden Licht. Durch die Blätter der Bäume guckte der bleiche Halbmond, dessen melancholisches Licht sich über den Park ausgoß, das Wasser der Springbrunnen versilberte und die dunkeln Schatten noch düsterer erscheinen ließ. Es lag in dieser stillen nächtlichen Schönheit etwas so sanft Ergreifendes, daß das Gespräch nach und nach verstummte und nur hie und da noch ein Wort gehört wurde. Louis fragte endlich seine Mutter, ob er in den Garten gehen dürfe. Frau Mortimer wollte es zuerst nicht erlauben, weil der Thau zu stark sei; aber Reginald und Henry baten sie ebenfalls so dringend, daß sie endlich nachgab. Shawl und Hüte wurden geholt, und Alles ging hinaus. Henry ging mit seinem Vater voraus; ihnen folgten Reginald und Miß Spencer, und Louis wandelte mit seiner Mutter hintendrein.
– O, ich habe den Mondschein so gern, Mama! sagte Louis.
– Dann hast du's, wie noch viele Leute, versetzte seine Mutter.
– Ich möchte gerne wissen, warum uns der Mondschein so viel besser gefällt, als das Licht der Sonne, sagte Louis.
– Hast du das Licht des Mondes wirklich lieber als das der Sonne? fragte seine Mutter.
– Ich weiß eigentlich nicht, ob ich es lieber habe, antwortete Louis; aber ich finde das Licht des Mondes so still und so ruhig. Ich hatte den Mond schon so lieb, als ich noch klein war; aber ich dachte damals ganz anders.
– Wie so? fragte seine Mutter.
– O Mama, ich fand den Mond so überaus schön; aber ich hatte dabei so ein merkwürdiges Gefühl, das ich nicht beschreiben kann. Es war so eine Art wehmüthiges Wohlsein, und oft dachte ich an die Feen, welche im Mondschein tanzen; und später fing ich an, an allerlei dumme Sachen zu denken und sogar zu dichten. Da nannte ich den Mond Diana und Königin der Nacht, und noch viele andere Dummheiten fielen mir ein, wenn ich im Mondschein spazieren ging; ich möchte sie dir gar nicht alle erzählen, Mama.
– Und du hast jetzt deine Gedanken so ganz geändert? fragte seine Mutter.
– O ja, Mama! ich denke jetzt ganz anders. Oft ist es mir, als ob ich mit Gott allein wäre. Kommt es dir nicht auch vor, Mama, man fühle etwas Himmlisches, wenn man in einer so schönen Nacht spazieren geht? Ich möchte gerne wissen, ob diese schönen Sterne nicht die vielen Wohnungen sind, von denen der liebe Heiland spricht? O Mama, was für ein erhabener Gedanke ist das, alle diese Welten laufen immer regelmäßig ihre Bahnen, alle diese Sonnen mit ihren Planeten …
– Und vielleicht, fügte die Mutter hinzu, laufen alle die Sonnen mit ihren Planeten wieder um eine andere viel größere und viel prächtigere Sonne, die aber so weit entfernt ist, daß unser Auge sie nicht entdeckt. Mit Hülfe der Fernrohre hat man gefunden, daß hinter den uns sichtbaren Sternen immer wieder neue zum Vorschein kommen. O Louis, Gott ist groß und unendlich! Er ist groß in diesen Sternen und groß in den kleinsten Blümchen; nichts ist vor ihm vergessen, seine Augen stehen offen über allen seinen Werken.
– Mama, ich erinnere mich, daß ich einmal ein Stück Papier entzwei geschnitten habe, und jedes der beiden Stücke wieder, und dann wieder und so fort, bis ich es nicht mehr zerschneiden konnte. Ich dachte dabei an allerlei, und zuletzt kam ich auf den Gedanken, wenn ich eine Scheere hätte, die klein genug wäre, so könnte ich diese kleinen Stücklein Papier in noch kleinere zerschneiden, bis ich endlich so kleine Theilchen bekommen würde, daß meine Augen sie nicht mehr zu unterscheiden im Stande wären.
Louis hielt inne; der Gedanke des Unendlichen stand vor seiner Seele. – Ich kann die Unendlichkeit nicht fassen, Mama. Aber es kommt mir eine kleine Hymne in den Sinn, welche du mich einst gelehrt hast; ich glaube, es war die erste:
Das gold'ne Sternenheer am großen Himmelszelt
Ist deiner Allmacht Werk, du Herr der ganzen Welt.
Du hältst mit deinem Wort die Sonnen in den Kreisen;
Du sprichst, und es geschieht, gebeutst, und es steht da.
O, wunderbarer Gott, du großer Jehovah!
Mein Herz will ehrfurchtsvoll Anbetung dir erweisen.
– Du kannst sie noch gut, sagte die Mutter. Es ist doch schon lange; ich hätte gedacht, du habest sie vergessen.
– O nein, Mama, es ist noch nicht so lange; ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie du mir diese Hymne zum ersten Mal vorgesagt hast. Es war an einem Abend, da bist du an mein Bette gekommen, hast die Vorhänge weggezogen, damit ich die schönen Sterne sehen könnte, und dann hast du mich diese Verse gelehrt. Mama, es gab eine Zeit, wo ich Gott nicht lieb hatte; aber ich hörte es doch gerne, wenn du mir von ihm erzähltest und mir aus der Bibel vorlasest oder schöne Verse hersagtest. Ich dachte jedoch nicht viel darüber nach und hatte es schnell wieder vergessen. Jetzt denke ich nicht mehr so, wie damals; ich liebe die Bibel, und alles erinnert mich an das, was drin steht und an die Liebe und Güte unsers himmlischen Vaters.
– Das kommt daher, mein liebes Kind, weil deine Gedanken, wie der Apostel sagt, »unter den Gehorsam Christi sich gebeugt haben.« Dieselben waren ehmals nicht nach dem Willen Gottes, und darum kanntest du ihn nicht; denn wer ihn nicht liebt und nicht kennt, der versteht vieles nicht; derjenige aber, welcher ihn lieb hat, sieht alles ganz anders an. Bist du jetzt nicht glücklicher, mein Kind, als du früher warst?
– O ja, Mama, viel glücklicher, sagte Louis. Aber, liebe Mama, du mußt nicht denken, daß ich immer glücklich sei; sehr oft vergesse ich, daß ich ein Kind Gottes bin, und dann bin ich unglücklich und nichts kann mein Herz trösten.
– Es geht nicht nur dir so, mein liebes Kind; es geht allen Kindern so, sobald sie sich vom Herrn abwenden und die Welt lieb haben. Wenn sie anfangen, die Vergnügungen zu suchen oder sich mit den Freunden begnügen, die Gott ihnen gegeben hat, da sind sie nicht mehr bei der Quelle ihres Glückes und verlieren natürlich den Frieden ihres Herzens. Wir sind immer selber Schuld, wenn wir nicht glücklich sind. Ein Christ könnte und sollte der froheste und glücklichste Mensch sein.
– O, liebe Mama, was für schöne Gespräche habe ich schon mit dir gehabt! sagte Louis, indem er die Hand seiner Mutter mit zärtlichen Küssen bedeckte und sich an sie anschmiegte. – Ich bin immer so glücklich, wenn ich bei dir sein und von der Liebe Gottes mit dir reden kann.
– Ja, mein Kind, das ist sehr schön. Da hört und sieht uns der liebe Heiland und schreibt alles in sein Buch auf. Er hat auch gesagt, daß die Schäflein ihm gehören, und er wird sie einst in seine Freude einführen.
– Ich denke, es ist Zeit, hinein zu gehen, sagte Herr Mortimer, der mit den andern zurückgekommen war; ich fürchte, diese nächtliche Wanderung wird deiner Gesundheit nicht sehr zuträglich sein, meine Liebe; es ist schon spät. Aber was für eine herrliche Nacht!
– In der That, ich fürchte, ich bin etwas unklug gewesen, sagte Frau Mortimer; aber ich konnte den Bitten der lieben Kinder nicht widerstehen. Es ist ja der erste Abend nach einer so langen Trennung.
– O, die Mama ist sehr gut eingemacht, sagte Henry.
– Und es ist ja eine so herrlich milde Luft, bemerkte Reginald.
– Ja, aber es wird jetzt doch etwas feucht, sagte Herr Mortimer.
Man ging hinein und rief die Dienerschaft des Hauses zum Abendgebet. Darauf gingen die Kinder zu Bette.
In den nächsten vierzehn Tagen war das Wetter fast beständig regnerisch; allein das junge Volk vergnügte sich auf jede Weise mit Spielen im Hause, und nie sah man traurige Gesichter. Nicht zwar, als ob die Knaben nicht manchmal Langeweile empfunden hätten; denn sie hatten, wie das in den Ferien, wo die regelmäßige Beschäftigung unterbrochen ist, immer geschieht, auch manchmal Zeiten, wo sie nicht recht wußten, was sie anfangen wollten, oder mit andern Worten, wo sie etwas – faul waren. Denn Kinder sind sehr schwer zu der Ueberzeugung zu bringen, daß die Beschäftigung ihnen selbst zum Nutzen und Segen gereicht.
Louis erhielt von seinen Eltern manche Zurechtweisung über seine Schläfrigkeit und seinen Hang zum Träumen. Sehr oft, wenn ihn seine Mutter erinnert hatte, setzte er sich hin, öffnete sein Buch, stützte die Ellbogen auf den Tisch, den Kopf auf beide Hände und schien in sein Studium vertieft, wie ein fleißiger Landpfarrer oder ein alter Schulmeister; allein es wollte ihm doch vorkommen, als ob die Wissenschaft nicht in den Kopf käme, und er wurde gewahr, daß er die ganze Zeit über in seinen Gedanken sich nur allerlei prächtige Luftschlösser gebaut hatte. Bald sah er sich als Kanzelredner, bald als herum reisenden Heidenbekehrer, bald war er wieder ein berühmter Schriftsteller oder Dichter, und einmal hielt er sogar als Parlamentsmitglied eine Rede im englischen Oberhause. Zu einer andern Zeit mußte er durchaus, ehe er an sein Studium ging, den Plan eines Hauses, oder einer Kirche entwerfen, oder auch ein Gedicht machen, und wenn die Glocke zur Arbeit rief, so hatte er nothwendig noch eine interessante Geschichte fertig zu lesen, oder sonst hochwichtige Geschäfte abzuthun.
– Louis, mein liebes Kind, es ist zehn Uhr.
– Ja, Mama, ich will auf der Stelle kommen.
» Auf der Stelle« hat nicht in aller Leute Wörterbuch die gleiche Bedeutung. In demjenigen des Louis hieß es so viel als eine Viertelstunde später.
– Louis! Louis!
– Ja, Mama. – Und Louis erhob sich mit dem Buch in der Hand und ging langsam durch das Zimmer, immer fortlesend; und nachdem er mit dem Kopf an die Thüre gerannt und anstatt in sein Zimmer in das Studirzimmer seines Vaters gerathen war, fand er sich endlich vor seinem Schreibpult, wo er, immer fortlesend, die Feder zur Hand nahm und zu schreiben anfing, ohne auf das Papier zu sehen; denn, wie gesagt, seine Augen waren immer noch im Buche. Hierauf suchte er in seinen Taschen nach dem Schlüssel und steckte denselben in das Schloß, immer fortlesend; und war dann endlich der Schreibtisch offen, so legte er sein Buch auf die Seite, hörte aber nicht auf zu lesen, während er seine Schreibmappe entfaltete. Sodann nahm er ein paar Bücher hervor, tappte hernach, sein Buch wieder in der Hand, im Zimmer herum, nach einem Stuhl greifend, den er zurechtstellte, und auf den er sich setzte, ohne es zu wissen. Dabei war unser guter Louis fest überzeugt, er wende seine Zeit sehr gut an, indem er ja zwei Sachen auf einmal ausführe. Es würde zu weitläufig sein, zu erzählen, wie oft er seine Arbeit unterbrach und einen Blick in sein theures Buch that, um schnell einige Seiten aus demselben zu verschlingen. Als daher eines Tages sein Vater in's Zimmer trat, um zu sehen, was Louis alles gearbeitet habe, war dieser nicht wenig in Verlegenheit. Herr Mortimer ermangelte nicht, ihm eine Vorlesung zu halten über die gute Anwendung der Zeit. Er bewies ihm, wie thöricht es sei, so zu handeln, indem er ja auf diese Weise weder vom Lesen, noch vom Studiren den rechten Nutzen habe.
– Ich weiß gar nicht, was das ist, Papa; ich war fest entschlossen, tüchtig zu arbeiten, und gestern war ich wirklich sehr fleißig.
– Du erinnerst mich jetzt an jenen Mann, der den festen Vorsatz gefaßt hatte, kein Wirthshaus mehr zu besuchen. Am ersten Tage seines löblichen Entschlusses ging derselbe an mehrern Schenken vorbei, ohne hinein zu treten; als er aber endlich bei der letzten ankam, stand er still und sagte zu sich selbst: »Du hast deinen Entschluß gut gehalten; für dieses brave Betragen mußt du eine Belohnung haben,« und ging hinein.
– O Papa! rief Louis lachend aus.
– Siehst du denn nicht, daß du es gerade so machst und für deine Standhaftigkeit dich selbst belohnst? sagte sein Vater, mit seinem Finger auf das offene Buch zeigend.
– Ich weiß nicht, wie das zugegangen ist, Papa, sagte Louis etwas beschämt; ich versichere dich, daß ich nicht die Absicht hatte, meine Zeit zu verlieren; aber diese Geschichten sind so interessant, entweder muß ich das Lesen ganz aufgeben oder …
– So lange das Lesen dich verhindert, deine Pflichten zu thun, so wäre es allerdings viel besser, du würdest es ganz unterlassen; aber gäbe es denn kein Mittel, um beides auf die rechte Weise und zur rechten Zeit zu thun?
– O, ich traue mir selbst nicht, versetzte Louis; wenn ich Reginald wäre, so würde ich das Buch augenblicklich auf die Seite legen und an die Arbeit gehen, und auch Henry würde es so machen; aber ich habe oft so viel Mühe, meine Gedanken zusammenzunehmen und sie auf so langweilige Studien zu richten, besonders auf diese Mathematik, die mir unausstehlich ist.
– Ich gebe zu, daß ein Unterschied ist in den Charakteren. Reginald ist nicht so erpicht aufs Lesen wie du und hat auch mehr Willenskraft; aber wer sie nicht hat, kann sie erlangen, und wenn du immer deinen Neigungen zum Vergnügen nachhängst, so wirst du kein sehr nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft werden. Man wird dich vielleicht lieben, aber nicht achten; denn nur die Festigkeit des Charakters verschafft Achtung.
– Ach, ich wollte, ich wäre wie Henry! Er ist so pünktlich wie eine Uhr, thut alles zu rechter Zeit und hat immer Zeit für alles. Er übereilt sich nie und hat nicht so viele Schwierigkeiten zu überwinden wie ich.
– O doch, Louis! auch er hat Schwierigkeiten; aber er hat bei Zeiten angefangen, sich selbst zu bekämpfen. Je früher man anfängt, desto leichter wird es. Doch, Louis, anstatt deine Zeit damit zu verlieren, Vergleichungen anzustellen zwischen dir und einem andern, würdest du besser thun, mit allen deinen Kräften dem Vorbild nachzustreben, das uns allen aufgestellt ist.
– Aber, Papa, wie soll ich das machen? seufzte Louis. Ach, es ist so schwer, die guten Vorsätze auszuführen! Ich glaube nicht, daß ich je dahin gelangen werde.
– Und die Gnade Gottes, mein Kind? sagte Herr Mortimer, indem er seine Hand auf Louis' Schulter legte; kennst du diese Gnade nicht?
– Es ist die Hülfe und das Wohlwollen Gottes, antwortete Louis.
– Und wem ist diese Hülfe versprochen?
– Allen denen, die ihn darum anrufen.
– Und du sagst mir, du seiest nicht im Stande, etwas zu machen? Mem liebes Kind, Gott ist ein Gott der Gnade, und er kann uns alles geben, was nöthig ist. Ohne ihn können wir nichts thun; aber mit ihm vermögen wir alles. Gelobet sei sein heiliger Name für seine unaussprechliche Gnade, durch welche er in uns alles schafft. Rufe ihn an, mein Kind, suche in allem, was du thust, ihn zu verherrlichen, und er wird dir's leicht machen, und selbst die Studien, die dir so langweilig vorkommen, werden dir eine Lust werden.
– Aber, Papa, ich möchte dir etwas sagen; sehr oft, wenn ich bete, so fühle ich mich unfähig zu dem, was ich thun sollte.
– Das kommt wahrscheinlich von zwei Ursachen her. Erstens betest du nicht mit rechter Inbrunst, und zweitens meinst du, es sei damit abgethan, wenn du gebetet hast, du brauchest dir weiter keine Mühe mehr zu geben, Gott werde mit seiner Hülfe alles allein machen. Bedenke, mein liebes Kind, daß wir zum Streit und Kampf auf Erden sind, daß unser Pfad rauh und schwierig ist. Wir müssen beständig auf unserer Hut sein, daß wir auf dem rechten Wege bleiben, und Gottes Gnade muß uns begleiten und alle Hindernisse aus dem Wege räumen; aber dabei müssen wir selbst Hand an's Werk legen. Gott will seine Gnade nicht verschwenden, sondern wir sollen Gebrauch davon machen.
Louis blieb einige Zeit in Stillschweigen versunken.
– Was räthst du mir, Papa? sagte er endlich, indem er seine Augen aufhob.
– Denke einmal nach; was wird wohl das Beste sein? Wenn du gebetet hast, welchen Weg du gehen sollst, so fange an, diesen Weg zu gehen; wenn du einen Plan gefaßt hast, so führe ihn aus und laß deinem trägen Herzen nicht Zeit, allerlei Entschuldigungen zu suchen. Suche die Ehre Gottes in allem, und er wird dir gewißlich beistehen!
Louis schwieg eine Zeit lang; dann sagte er:
– Willst du mir das Buch wegnehmen, Papa? es hat mich schon so oft an meiner Arbeit verhindert. Ich möchte gerne meine Uebersetzung fertig machen und meine Karte zeichnen; vielleicht habe ich dann am Abend Zeit zu lesen.
Herr Mortimer zog seine Uhr heraus und hielt sie seinem Kinde vor die Augen und sagte:
– Es ist schon zu spät, Louis; du hast deine Zeit verloren, du wirst heute schwerlich fertig werden.
– Dann will ich schnell an mein Lateinisch gehen, und anstatt mich nach dem Essen zu belustigen, will ich meine andern Aufgaben fertig machen. – Ich bitte dich, Papa, nimm mir das Buch jetzt weg!
– Nein, Louis, ich nehme dir's nicht weg. Du mußt lernen, dich selbst zu beherrschen. Du bleibst nicht immer ein Kind, und wenn du nicht gegen deine Fehler kämpfest, so wird aus dir ein schwacher und unentschlossener Mensch, der sich durch die kleinsten Umstände schwankend machen läßt. Leg' du das Buch selber auf die Seite, und ich will jetzt weggehen, damit du ruhig arbeiten kannst. Ich sehe, du hast noch nicht viel gemacht, und auch dieses wenige ist schlecht.
Als sein Vater das Zimmer verlassen hatte, setzte sich Louis mit Eifer an seine Arbeit. Er schrieb seine schlecht gemachte Aufgabe noch einmal ab und gab sich alle mögliche Mühe, so daß sein Vater, als er am Abend die Arbeit betrachtete, sehr zufrieden mit ihm war. Louis sah auch den ganzen Abend das verführerische Buch nicht mehr an, und auch am folgenden Tage nahm er es erst zur Hand, nachdem er mit allen seinen Arbeiten fertig war und es mit gutem Gewissen thun konnte.
Auch während der ganzen noch übrigen Ferienzeit blieb Louis seinem Entschlusse treu. Er vertraute jedoch nicht auf seine eigene Kraft; denn er hatte erfahren, welch' ein zerbrechliches Rohr dieselbe ist. Jeden Tag suchte er seine Hülfe bei dem Herrn, und auf diese Weise vernachlässigte er keine Pflicht und fand dabei zugleich auch den großen Gewinn, daß er in seinem Herzen Ruhe und Frieden hatte.