Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III

Es währte nicht lange, so war Louis allgemein der Liebling seiner Kameraden, obgleich ihm die einen manchmal vorwarfen, daß er ein wenig zu » sanft« sei, und wieder andere nannten ihn zu » feige« und zu » bescheiden;« aber seine Gleichmütigkeit, seine Güte, seine gefällige Art, sowie die Heiterkeit, mit welcher er alle die Titel dahin nahm, die man ihm beständig beilegte, gewannen ihm endlich die Herzen aller Mitschüler. Wenn die ältern Zöglinge irgend was zu besorgen hatten, so hieß es: »Louis Mortimer, willst du mir nicht dieß oder jenes holen?« Wenn ein Schwacher oder Fauler Hülfe nöthig hatte, so wandte er sich an Louis, und dieser war jederzeit dienstwillig, auch wenn seine eigenen Aufgaben darunter litten, was eben nicht selten vorkam; denn Louis hatte nie den Muth nein zu sagen.

Aber in dem Maße, wie der junge Held unsrer Erzählung sich die Zuneigung seiner Mitzöglinge erwarb, verlor er dagegen diejenige seiner Lehrer. Er brachte jeden Tag nur unvollständig gemachte, schlechtgeschriebene Arbeiten, so daß sie kaum zu lesen waren und auch seine mündlichen Lektionen waren stets nur halbgelernt. Es hatte daher schon nach Verfluß von vierzehn Tagen den Anschein, Louis werde eine Klasse hinunter steigen müssen. Tag für Tag mußte er im Zimmer bleiben, um eine Aufgabe zu lernen, die er am Abend zuvor hätte hersagen sollen, oder um eine Strafarbeit für versäumte Pflichten zu machen.

Louis schien immer sehr beschäftigt zu sein und doch brachte er nichts zu Stande; denn er war immer unentschlossen, und sowie sein Aeußeres, war auch sein Inneres.

Die Hülfsquelle, aus der er hätte Kraft schöpfen können, um seiner Unordnung ein Ende zu machen, kannte er wohl; aber seine Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit verhinderte ihn, die Augenblicke, die ihm zwischen seinen Arbeiten blieben, zum Beten zu benutzen. Am Abend mußte er seinen Kameraden Geschichten erzählen, bis sie eingeschlafen waren, und am Morgen weckte ihn die Glocke zu schnell, und er stieg von seinem Schlafzimmer hinunter, ohne gebetet zu haben. Er hatte auch hierin nicht den Muth, den spöttelnden Bemerkungen seiner Kameraden, die ihn einen » Heiligen« nannten, sich zu widersetzen. Daß er nicht glücklich war, versteht sich von selbst, denn nur der Friede Gottes macht glücklich und diesen konnte er bei dieser Nachlässigkeit nicht haben, und wer nicht in seinem Gott vergnügt ist, kann auch seine Pflichten nicht muthig und freudig erfüllen. So erging's auch unserm Louis. Jeden Tag ging er mit schwerem Herzen in seine Klasse und die Unruhe seines Gewissens war auf seinem Gesichte zu lesen.

Eines Tages stotterte er einige griechische Vocabeln her, blieb aber bald stecken und konnte nicht weiter.

– Recht so, sagte ihm sein Lehrer, also immer die gleiche Geschichte. Ich gebe dir nun noch drei Tage Zeit, und wenn's dann nicht besser gebt, so wirst du rückwärts befördert.

– Wer ist das? Herr Danby, sagte eine Stimme hinter Louis' Rücken, die demselben durch Mark und Bein ging. – Der erschrockene Louis wandte sich um, und vor ihm stand der Vorsteher der Anstalt, Herr Doktor Wilkinson. – Wer ist's, Herr Danby, wiederholte der Doktor mit ernster Miene.

– Louis Mortimer, Herr Doktor, versetzte Herr Danby. Entweder ist er zu schwach für diese Klasse, oder er ist ein Faullenzer, ich kann nichts mit ihm anfangen.

Der Doktor sah den armen Louis mit durchdringendem Blicke an und sagte in einem sehr unwilligen Ton:

– Wenn Sie morgen und übermorgen die gleichen Klagen gegen ihn haben, so schicken Sie ihn in die dritte Klasse hinunter. Das ist eine schändliche Trägheit, Louis.

Louis hatte ein schweres Herz und war roth vor Scham, als der Doktor sich entfernte. Er blieb unbeweglich stehen, die Augen gesenkt, mit bebenden Lippen, und war nahe daran in Thränen auszubrechen. Sein Lehrer verordnete ihm, nach den Stunden im Zimmer zu bleiben und seine Aufgabe zu lernen.

Reginald folgte seinem Bruder in das Arbeitszimmer, wohin derselbe sich begab, um seine Aufgabe mit mehr Ruhe lernen zu können, als dieß im großen Schulzimmer möglich gewesen wäre.

– Du mußt dir mehr Mühe geben, mein lieber Louis, sagte Reginald; der Doktor würde sehr unzufrieden sein, wenn du in eine untere Klasse kämest, und zudem denk', welche Schande das wäre!

– Ich weiß es wohl, sagte Louis, sich die Thränen abwischend. Ich weiß nicht, was das ist, ich habe nichts als Unglück, nichts gelingt mir, und doch thue ich mein Möglichstes, um jedermann zufrieden zu stellen.

– Du thust nur zu viel, mein lieber Louis, sagte Reginald, du willst immerfort Andern helfen und hast dann nicht Zeit für deine eigenen Arbeiten. Du mußt dir durchaus diese dumme Gutmüthigkeit abgewöhnen; du mußt sagen: ich will nicht! Ich kann dir nicht beständig in den Ohren liegen und dich vorwärts stoßen. Seit du da bist, habe ich immer für dich zu kämpfen auf allen Seiten.

– Ach! wenn ich doch nur nicht hieher gekommen wäre, seufzte Louis; wenn ich doch nur ein wenig mehr Ruhe hätte! Ach! es thut mir so leid, mein lieber Reginald, daß ich dir so viel Mühe verursache! Ach! ich bin ganz unglücklich, alles wird schlecht, was ich mache.

Louis blieb einige Augenblicke in Traurigkeit versunken, dann heftete er seine thränenschweren Augen auf seinen Bruder, der, das Kinn in die Hand gestützt, vor ihm saß und ihn fest ansah. Louis bat, er möge ihn allein lassen, damit er ruhig seine Aufgabe lernen könne.

Reginald entfernte sich also, obgleich er seinem Bruder gerne geholfen hätte, denn er liebte denselben zärtlich und aufrichtig.

Als Reginald hinaus gegangen war, fing Louis an, in seinem Wörterbuche zu suchen, um seine Aufgabe zu machen. Er war noch nicht lange an der Arbeit, als er plötzlich durch das Hereintreten eines Tölpels unterbrochen wurde. Es war Churchill, genannt » Gold.« Derselbe war wenigstens fünfzehn Jahre alt und hatte doch jeden Augenblick Louis' Hülfe nöthig. Er legte seinen Eutropius, der, beiläufig gesagt, nicht sehr appetitlich aussah, vor den viel jüngern Knaben hin mit seinem gewöhnlichen Anliegen: Guter Louis, hilf mir ein wenig.

– Ich versichere dir, Henry, es ist mir unmöglich, sagte Louis in einem traurigen Ton. Ich habe eine ganze Menge Aufgaben zu lernen, und wenn ich sie vor dem Mittagessen nicht kann, so wandere ich in die dritte Klasse hinunter; es hilft mir auch Niemand.

– Das nimmt dir kaum einige Sekunden weg, sagte Churchill.

– Ja wahrscheinlich, einige Sekunden, wie gestern Abend, wo ich eine ganze Stunde mit dir zubrachte, überdieß glaub' ich, daß ich nicht recht gethan habe, dir zu helfen.

– Nicht doch! Louis! Wer hat dir solche Albernheiten beigebracht? erwiederte Churchill, du hast nicht das geringste Unrecht begangen. Nun, hilf mir doch wieder ein wenig, du bist so ein guter Kerl!

– Ich weiß es wohl, ich bin oft nur zu dumm, sagte Louis. Ist denn sonst Niemand, der dir helfen kann?

– Was denkst du denn, sagte Churchill, wer sollte mir jetzt helfen wollen? Auch erklärt mir niemand so gut, wie du. Nun, Louis, laß mich nicht lange warten, komm, hilf mir, Louis.

– Aber warum soll es denn gerade jetzt sein? sagte Louis. Ist's heute Abend nicht noch früh genug?

– Nein, der Doktor hat mir erlaubt, diesen Nachmittag mit meinem Onkel spazieren zu gehen, wenn ich vorher dem alten Norton diese Aufgabe ohne Fehler aufsage, und wenn du mir nicht hilfst, so kann ich sie unmöglich lernen.

– Aber ich versichere dir, ich kann nicht! sagte der arme Louis.

– Ach, du bist ein zu guter Junge, als daß du mir meine heutige Nachmittagsstunde verderben wolltest. Wir hätten jetzt schon die Hälfte fertig, wenn wir gleich daran gegangen waren, anstatt die Zeit mit Geschwätz zu verlieren.

Und der gute Louis half ihm wieder und verlor eine ganze halbe Stunde mit diesem trägen Tölpel, der seine Aufgabe ganz gut allein zu Stande gebracht hätte, wenn er sich ein wenig Mühe hätte geben wollen.

– Hab' herzlichen Dank, lieber Louis, du bist ein köstlicher Kerl. Nicht wahr, ich kann sie jetzt?

– Ich glaube, aber ich bitte dich, sei jetzt still, versetzte Louis.

– Aber, was machst du denn da? sagte Churchill, einen Blick auf Louis' Buch werfend. Ho, ho, griechische Aufgaben; ich kann dir dabei nicht helfen, aber ich will dir etwas geben, was du brauchen kannst. Hier ist ein Schlüssel dazu, und mit diesen Worten nahm er jenes Buch vom Büchergestell herunter, das der Doktor jenesmal dem Harris weggenommen hatte, und legte es vor ihn auf den Tisch.

– Ist das eine Uebersetzung? fragte Louis, indem er das Buch öffnete; stelle es wieder an seinen Platz, Henry, ich kann keinen Gebrauch davon machen.

– Eh, warum denn nicht?

– Weil's nicht recht wäre. Nein, nein! ich will nicht; stell' es wieder hinauf, Churchill!

– Wie gewissenhaft du bist! Ich versichere dir, daß alle, die diesen Schlüssel in die Hände kriegen können, sich desselben bedienen. Tomson und Harcourt brauchen ihn immer.

– Tomson sollte sich schämen, rief Louis aus, er strebt nach einem Preis, und er bedient sich einer fremden Uebersetzung.

– O! ich sage nicht, daß das recht ist; aber du kannst Tag und Nacht arbeiten, und du bekommst den Preis doch nicht. Wem schadet's denn etwas, wenn du dich dieses Schlüssels bedienst? er kann dir doch gewiß sehr nützlich sein. Sei du nicht so dumm, Louis.

Als Churchill hinaus gegangen war, betrachtete Louis den Titel des Buches, und einen Augenblick fühlte er eine heftige Versuchung, sich desselben zu bedienen; aber etwas hielt ihn zurück. Er stützte seine Arme auf den Tisch und bedeckte sich das Gesicht mit den Händen. Da fühlte er plötzlich eine schwere Hand auf seiner Schulter, und wie er seine thränenvollen Augen aufhob, erblickte er Hamilton und Trevannion vor sich.

– Was hast du Louis? sagte der erstere.

– Ich habe so viel zu thun, – und bin – nachläßig und faul gewesen, stammelte Louis.

– Ich glaub' es gerne, sagte Hamilton.

– Das ist wenigstens doch ein ehrliches Geständniß, fügte Trevannion hinzu.

– Glaubst du denn, daß die Wissenschaft in dein Gehirn einfließe, wenn du deinen Kopf auf die Bücher legst? sagte Hamilton. Was hast du aber zu machen?

– Ich muß diese Aufgabe noch einmal machen, mein Griechisch lernen, und noch zwanzig Zeilen aus Homer. Das kann ich nicht alles auf einmal thun, und so muß ich den ganzen Nachmittag hier bleiben.

– Ja, ja, das scheint mir mehr als wahrscheinlich, sagte Trevannion.

– Ha, was ist das? sagte Hamilton, indem er den griechischen Schlüssel vom Tisch nahm; o Louis, führst du deinen Lehrer so hinteres Licht?

– Ihr werdet mir so etwas doch nicht andichten wollen, hoffe ich, fuhr Louis lebhaft auf.

– Wenn du dich so beträgst, Louis, so rechne nicht auf meine Freundschaft.

– Aber ich versichere dir, daß ich diesen Schlüssel nicht gebraucht habe. – Ich werde mich eines solchen Mittels nie bedienen, ich wollte es nicht einmal ansehen. Es hat's einer der Knaben hier gelassen, ich hab's nicht genommen, rief Louis mit der größten Lebhaftigkeit aus.

– Stell das Buch wieder an seinen Platz, sagte Hamilton in einem ernsten Ton; ich will deine Aufgabe mit dir durchgehen, ich will sehen, ob ich sie dir nicht erleichtern kann.

– Ach! wie gut du bist, sagte der arme Louis und legte das gefährliche Buch auf die Seite.

Hamilton lächelte. Es ist nicht mehr als billig, sagte er, daß ich jemanden helfe, der sein Zutrauen deßwegen verliert, weil er gutmüthig genug ist, jedermann auf seinem Rücken herumreiten zu lassen. Es ist nicht gut, Louis, daß du deine Zeit damit verschwendest, Andern zu dienen; deine Zeit gehört dir. Glaubst du denn, daß dein Vater dich hieher geschickt hat, um deinen faulen Kameraden zu helfen. Zwischen Gutmüthigkeit und Schwachheit ist ein großer Unterschied, lieber Louis. Aber frisch an's Werk jetzt, vorwärts.

Trevannion nahm ein Buch und ging damit an's Fenster, während Hamilton sich mit Louis beschäftigte, und in kurzer Zeit waren die Aufgaben fertig, mit Ausnahme des Pensums.

Louis bezeugte dem Hamilton seine aufrichtige Dankbarkeit, während er ihm von Zeit zu Zeit die Hand drückte. Hamilton zog die Hand nicht zurück; aber auf die wiederholten Dankbezeugungen des kleinen Louis antwortete er nichts, nur daß er manchmal in ziemlich trockenem Tone sagte: Gib doch Achtung! oder: Vorwärts!

Durch das Fenster riefen mehrere Stimmen nach Louis, welche jedoch Trevannion alle abwies, damit dieser seine Studien ungestört fortsetzen könnte. Am Abend hatte Louis das Vergnügen, bei seinem Freunde Hamilton zu sitzen, der seinerseits nicht ermangelte, seinen kleinen Zögling fleißig bei der Arbeit zu erhalten, und der ihm nicht erlaubte, weder zu schwatzen noch umher zu gaffen, bis er seine Aufgabe vollendet hatte. Zum Unglück für unsern Louis war aber Hamilton des Abends sehr oft beim Doktor Wilkinson. Louis vermochte nun einige Tage lang die Aufforderungen seiner Kameraden zum Schwatzen und Spaßmachen unerwiedert zu lassen, und eines Tages kam er voller Freuden zu Hamilton, um ihm anzuzeigen, daß er um zwei Plätze hinauf gerückt sei.


 << zurück weiter >>