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XI

Die letzte Woche des Examens war für unsern Ferrer eine sehr lange und traurige, obgleich auch er einen Preis davon trug. Das freiwillige Geständniß seines Fehlers hatte den Unwillen des Doktors sehr gemildert. Derselbe hoffte, daß sich der Unglückliche dadurch bessern werde, und es hätte ihm unklug geschienen, durch unzeitige Strenge solches zu verhindern. Er wußte auch wohl, daß Ferrers erste Erziehung sehr mangelhaft gewesen war, und machte sich's daher, sobald der erste Unwillen vorüber war, zur Aufgabe, ihn aufzumuntern und ihn darauf aufmerksam zu machen, wie schwer er gegen Gott gesündigt habe. Er zeigte ihm, auf welche Weise er sich bessern könne, nämlich dadurch, daß er sein Herz durch die Gnade Gottes umändern lasse. Auch bei seinen Kameraden suchte der Doktor Mitgefühl für den armen Ferrer zu erwecken. Es waren unter ihnen jedoch nur sehr wenige, welche gelernt hatten, als Christen die Lasten anderer tragen zu helfen; nur sehr wenige waren von dem Gefühle durchdrungen, daß sie im Grunde nicht besser seien, als ihr unglücklicher Kamerad. Die meisten waren schnell bereit zu verdammen und zu verurtheilen und mit dem Pharisäer zu sagen: »Ich danke dir Gott, daß ich nicht bin, wie dieser!« Und wir alle sind von Natur geneigt, andere sogleich zu verdammen; wir vergessen, daß wir es nicht besser, sondern vielleicht noch schlimmer gemacht haben würden, wenn wir uns in ähnlicher Lage befunden hätten.

Unser Louis empfand also, wie wir gesagt haben, ein herzliches Mitleiden mit dem armen Ferrer; denn abgesehen von der Freundschaft, die er kürzlich mit ihm geschlossen hatte, wußte er aus eigener Erfahrung, was das heißt, Sünden auf dem Gewissen zu haben und seine Tage mit Betrübniß hinzubringen; aber er wußte ebenfalls aus Erfahrung, wie wohl es thut, wenn man die ganze Last seiner Sünden zu den Füßen des Heilandes niederlegen und sein sanftes Joch auf sich nehmen kann, und wünschte von ganzem Herzen, seinen Kameraden zur Erkenntniß seines Heilandes zu bringen. Und seine Bemühungen waren nicht umsonst. Ferrer wurde später ein wahrer Christ, und nie vergaß er, daß der junge Louis ihm den Weg zum wahren Glück und Frieden gezeigt hatte.

Louis hatte nun liebliche und vergnügte Tage, denn nach dem Regen folgte der Sonnenschein; aber er blieb beständig auf seiner Hut, daß er nie auf eigene Kraft vertraute, sondern sich an den hielt, der ihm allein beistehen konnte.

Unterdessen war der Tag der Preisaustheilung, dieser glückliche und lang ersehnte Tag, herbei gekommen. Unsere zwei Freunde, Louis und Reginald, waren nicht die letzten unter den Ungeduldigen. Herr und Frau Mortimer sollten denselben Nachmittag ankommen, um sie abzuholen und zu ihrem Großvater nach Heronhurst zu führen, wo sie einige Tage zubringen wollten, ehe sie nach Dashwood zurückkehrten.

Obgleich die Preise nicht öffentlich ausgetheilt wurden, so hatte sich doch bei dieser Gelegenheit eine Menge Gäste, Vettern und Basen, Großväter, Großmütter etc. und auch alte Zöglinge eingefunden, um dem wichtigen Ereignisse beizuwohnen. Die letztern erinnerten sich dann allemal an die Angst, welche sie früher an diesem Feste ausgestanden hatten, sowie an die Freude über erhaltene Preise und über den Beginn der herrlichen Ferien. Unter ihnen befand sich auch Vernon Digby mit einem kleinern Bruder, nicht um den Triumph seines ausgezeichneten Bruders mit zu feiern, sondern um den Schauplatz seiner eigenen ehmaligen Berühmtheit wieder zu sehen.

Man hatte das hohe Schreibpult des Doktors aus dem Zimmer geschafft und an seine Stelle einen großen mit einem rothen Teppich behangenen Tisch gestellt, auf welchem verschiedene prächtig eingebundene Bücher lagen, und in einem Halbkreis um den Tisch herum standen die Stühle für die Zöglinge. Auf beiden Seiten, sowie hinten und neben dem Sitze des Doktors Wilkinson befanden sich die Stühle für die ehrenwerthen Gäste.

Das Zimmer war von den Zöglingen mit Blumenvasen und Guirlanden geschmückt worden.

Genau um eilf Uhr erschienen die Zöglinge im Saal und nahmen unter der Aufsicht zweier Lehrer ihre Plätze ein, die kleinsten auf den vordersten Bänken. Die Helden, denen die Kronen zufallen sollten, kannte man noch nicht, oder besser gesagt, man kannte sie eigentlich wohl. Einige waren still und bleich, andere wollten ihre Unruhe durch Lachen verbergen und schwatzten rechts und links. Wieder andere erkannten ihrem Nachbar rechts und ihrem Nachbar links, ihrem Vordermann und ihrem Hintermann, kurz allen andern den Preis zu, von dem sie fest überzeugt waren, daß sie ihn selbst bekommen werden. Auch Eduard Hamilton war nicht ganz ruhig, und obgleich er mit Vernon Digby sich zu unterhalten schien, so konnte er sich doch nicht enthalten, von Zeit zu Zeit einen ungeduldigen Blick auf den rothen Tisch zu werfen; er wurde ein Bischen bleich, als die Thüre aufging und ein langer Zug von Herren und Damen sich durch den Saal bewegte. Am Schlusse dieses Zuges erschien der Doktor mit einigen seiner Freunde, die dem Examen beigewohnt hatten, und unter denen zwei geachtete Gelehrte waren.

Sobald alle ihre Plätze eingenommen hatten, lehnte sich der Doktor majestätisch über den Purpurtisch, von dem er ein Papier nahm. Sein » Hm« war das Signal zur Ruhe; die Blicke aller waren nur auf ihn gerichtet. Er hielt eine kurze Anrede an die Zöglinge, sprach besonders den obern Klassen seine Zufriedenheit aus und rühmte vor allen die erste Klasse, aus welcher er auch diejenigen Zöglinge mit Namen nannte, welche sich auf eine rühmliche Weise ausgezeichnet hatten. Wie sich's von selbst verstand, war Hamilton der Erste; er erhielt auch den höchsten Preis für's Lateinische, sowie noch einige andere Preise; Ferrer bekam den Preis in der Mathematik. Der Doktor bemerkte nun, daß Frank Digby zwar ein recht gutes Examen abgelegt habe, und einer der Professoren ihm deßhalb auch einen Preis habe zuerkennen wollen; allein da Frank während des ganzen Schuljahres immer träge und nachlässig gewesen sei, so habe er, der Doktor, es für gerechter gehalten, die gewissenhaftern und fleißigern Zöglinge für ihre Mühe zu belohnen, statt demjenigen den Preis zu ertheilen, der sich gar keine Mühe gegeben, und dem nur seine glücklichen Anlagen zu statten gekommen seien. Ich hoffe, so schloß er, daß unser junger Freund künftig mehr Eifer zeigen werde, so daß ich über's Jahr das Vergnügen haben kann, nicht bloß seinen Talenten, sondern auch seinem Fleiße den Preis zuzuerkennen.

Frank wurde roth theils vor Scham, theils vor Zorn.

Das ist mir einerlei, sagte er; ich wollte nur einmal probiren, ob ich so gut an's Ziel gelangen könne, wie ein anderer, wenn ich mir auch keine Mühe gebe.

Sein Bruder war von dieser Antwort halb erzürnt, halb ergötzt.

Nun kam die Reihe an Reginald; er trug von den vier seiner Klasse zufallenden Preisen drei davon, den vierten erhielt Jones Salisbury. So oft ein Zögling aufgerufen und ihm der Preis überreicht wurde, applaudirten die andern mit Händen und Füßen. Vor allen war Louis außer sich vor Freude, als sein Bruder und seine besten Freunde ihre Preise abholten. Als der arme Ferrer den seinigen in Empfang nahm, blieb zuerst alles stumm; aber der gute Louis fing wieder an, mit Händen und Füßen zu arbeiten, und diese Bewegung wurde ansteckend, so daß Ferrer noch ziemlich applaudirt wurde.

Nachdem alle Preise ausgetheilt waren, nahm der Doktor ein kleines Maroquinetui, und sein gewöhnliches » Hm« rief wieder allgemeine Stille hervor.

Es bleibt jetzt nur noch ein Preis übrig, sprach er, der größte von allen, bei welchem es aber auch am schwierigsten ist, ihn an den Würdigsten zu bringen, – es ist die Medaille für das gute Betragen. Bis jetzt hab' ich dieselbe immer nur solchen Zöglingen zuerkannt, die das ganze Schuljahr in der Anstalt zugebracht hatten; diesmal glaube ich aber von dieser Gewohnheit abgehen zu dürfen und diesen Preis einem der Jüngsten unter uns ertheilen zu müssen, obgleich er erst seit Ostern bei uns ist. Aber ehe ich ihn nenne, will ich mich an die gesammte Anzahl meiner Zöglinge wenden und sie fragen, welchen sie für den Würdigsten halten.

Der Doktor hielt inne, und augenblicklich ertönte es aus dem Munde aller Zöglinge, Hamilton voraus: Louis Mortimer!

Das habe ich erwartet, sagte der Doktor mit einem sanften Lächeln. Louis Mortimer war in einer Klasse, die seine Kräfte überstieg, weßwegen er im Examen unmöglich ausgezeichnete Proben ablegen und einen Preis erwerben konnte; aber was sein Betragen anbetrifft, so kann ich in Wahrheit sagen, daß es musterhaft gewesen ist, und daß er seine Pflichten am besten erfüllt hat; ich habe nur zu wünschen, daß er in Zukunft stets eben so fleißig sein möge, wie er's die letzten sechs Wochen gewesen ist. – Louis Mortimer … Louis war in dem Maße erstaunt und erfreut, daß er seinen Namen nicht hörte und ihm sein Bruder Reginald in's Ohr flüstern mußte: Geh' doch, Louis, der Doktor ruft dir ja! Alles machte Platz, um den kleinen' Louis durchzulassen, und betrachtete ihn mit Vergnügen und herzlicher Freude. Sein Anstand und seine Bescheidenheit gewannen ihm alle Herzen, als er blöde und furchtsam sich dem Doktor näherte, der ihn freundlich lächelnd ansah und ihm das schöne Etui mit der Medaille überreichte.

Mit herzlichem Vergnügen überreich' ich dir diesen Preis, sagte der Doktor. So oft du ihn ansiehst, so lass' es dir zur Aufmunterung dienen, auf dem betretenen Wege weiter zu gehen.

Dem guten Louis trat die Röthe in's Gesicht; er machte eine anständige Verbeugung und kehrte unter dem lebhaftesten Beifallklatschen und Bravorufen seiner Kameraden an seinen Platz zurück. – Die Preisaustheilung war hiermit zu Ende, und die muntere Gesellschaft strömte nicht ganz kommandomäßig zur Thüre hinaus. Louis war bald von einem kleinen Zirkel umgeben, welchen Hamilton Reginald, seine drei Vettern Digby und noch einige andere bildeten, die ihn alle mit Beglückwünschungen überhäuften.

– Es scheint also, du bist der Held des Tages, Louis, sagte sein Vetter Vernon zu ihm; in welchem Drama hast du eine so schöne Rolle gespielt?

– O, die Geschichte ist zu lang, als daß man sie jetzt erzählen könnte, bemerkte Hamilton, einen süßen Blick auf Louis werfend. Wir wollen davon ein andermal sprechen. Um es kurz zu sagen: Wir haben ihn ziemlich unwürdig behandelt; aber es wird im nächsten Schuljahr besser gehen, nicht wahr, Louis?

Louis konnte vor Freude nicht antworten; er war überglücklich, daß sein Vetter Vernon Zeuge seines glänzenden Triumphes gewesen war.

– Hab' ich's euch nicht gesagt, wie meine geheime Kunst nur prophezeite, daß Louisa die Medaille davontragen werde? sagte Frank.

– Aber ich denke, deine Kunst hat dir nicht gesagt, mit welchen Ehren du überhäuft werden würdest, bemerkte sein Bruder.

– Ich habe mich doch nicht getäuscht, sagte Frank gleichgültig; ich sagte ja, daß Mademoiselle Louisa für ihre vortrefflichen Eigenschaften und ich für mein Genie belohnt werden würde. Ich erliege unter dem Gewicht der Lorbeeren, welche der Magister auf mein Haupt gehäuft hat; ich kann sie unmöglich alle tragen während der Ferien.

– Es ist gut, daß du etwas auf dem Kopf hast, das ihn ein wenig herunterdrückt; er ist gewöhnlich etwas zu hoch, bemerkte Hamilton.

– Aber deine Eltern werden erfreut sein über dich, Louis, sagte Vernon.

– Sie müssen, versetzte der unverbesserliche Schwätzer, wohl überglücklich sein, einen Sohn zu haben, der mit so leichter Mühe Preise davonträgt. Louis, es fällt mir jetzt ein, ich gleiche jenem Mann, von dem du uns erzählt hast, der seine Beine anbinden mußte, damit er dem Hasen im Laufe nicht zuvorkomme. Ich bin jedoch von Herzen betrübt, daß ich dich so lange verkannt habe, und mache dir hiermit meine Entschuldigung, sowie ich dich auf das aufrichtigste beglückwünsche.

– Louis Mortimer, rief ein kleiner, zierlich gekleideter Junge, die Mama möchte gerne deine Medaille sehen; willst du sie ihr zeigen?

– Geh' mit ihm, Reginald, und erzähl' der Lady Stanhope die Geschichte, sagte Vernon. Reginald gehorchte.

Während die Medaille von Hand zu Hand ging, erzählte Reginald den Damen die Geschichte; er hütete sich jedoch, den Namen des Schuldigen zu nennen. Der Doktor wurde förmlich bestürmt mit Fragen, welche die Damen, die von dem braven Knaben noch mehr vernehmen wollten, an ihn richteten; allein er beantwortete sie sehr klug und vorsichtig; denn er fürchtete, es könnte dem kleinen Louis schaden, zu viel Lobsprüche zu hören. Er konnte jedoch nicht umhin, zu Herrn Percy, der ebenfalls anwesend war, zu sagen: Das, Herr Percy, ist der Knabe, von dem Sie mir zu Ostern gesprochen haben, der Sohn des Herrn Mortimer von Dashwood.

Die allgemeine Aufmerksamkeit, welche ihm zu Theil ward, sowie die Empfindungen seines eigenen Herzens überwältigten Louis. Er huschte zur Thüre hinaus in den Garten, machte Luftsprünge und ließ seiner Freude vollen Lauf. – »O, wie werden Papa und Mama zufrieden sein!«

Mehr konnte er nicht sprechen; sein Herz war zu voll; er fühlte eine tiefe und aufrichtige Dankbarkeit für so unverdienten Segen und hätte gerne seinen treuen Gott mit Worten gepriesen. O, die Dankbarkeit ist etwas Schönes und dem Herrn Angenehmes, und wie glücklich ist derjenige, der in allem die Hand seines treuen Gottes sieht und ihm für alles dankt!

Der Spielplatz war leer; die Zöglinge waren entweder bei ihren Freunden, oder mit Einpacken beschäftigt; und Louis sah aus der Ecke, in welche er sich zurückgezogen hatte, mehrere Fuhrwerke abfahren und die freudestrahlenden Gesichter darin. Als die Mittagsglocke gerufen hatte und er in den Speisesaal trat, war der Tisch, welcher sonst immer voll war, beinahe leer.

– Wo bist du denn gewesen? fragte ihn Reginald, ich habe dich überall gesucht. Es verdroß Hamilton sehr, daß er dir nicht hat Lebewohl sagen können. Er hat mir seine Grüße an dich aufgetragen.

– Es thut mir sehr leid, daß ich ihn nicht mehr gesehen habe, sagte Louis; ich war im Garten. Nicht wahr, Reginald, es ist ein lustiger Anblick, alle diese Koffer und Büchsen im Hausgang? Ich bin lange dabei gestanden und habe die Adressen betrachtet.

– Und ich bin fast närrisch vor Freude, sagte Reginald, der durch den Gang jodelte.

Wie weit er in seiner Freude und mit seinen Sprüngen noch gegangen wäre, könnte ich nicht sagen; denn er wurde von einem der Lehrer unterbrochen, der herbeikam und ihn bat, sich doch ein wenig zu mäßigen und zu bedenken, wo er sich befinde; aber an solchen Tagen haben die Lehrer nicht mehr ihre gewöhnliche Autorität, worauf sie, wir müssen es hier unsern jungen Lesern nur ehrlich gestehen, dann auch nicht sehr eifersüchtig halten. Und so drückte auch Herr Witworth nicht blos ein Auge, sondern beide, ja sogar noch die Ohren zu, und Reginald jodelte fort. Nach dem Essen tobte die kleine Gesellschaft lärmend, pfeifend, jodelnd und musicirend aus dem Speisesaal. Louis und Reginald und noch einige andere hielten sich noch im Gang auf und betrachteten mit freudestrahlenden Gesichtern die Koffer, Mantelsäcke, Botanisirbüchsen und Reiseflaschen. Plötzlich entdeckte Reginald, daß auf einem ihrer Koffer eine sonderbare Adresse war.

– Louis! Louis! rief er aus, sieh' doch einmal, was Frank gemacht hat!

Louis lachte laut, als er auf seinem Koffer die mit großen, schönen Buchstaben geschriebene Adresse las: An Mademoiselle Louisa Mortimer, und beeilte sich, sie zu korrigiren. Als er wieder zurückkam, fand er den ganzen Gang voll Abschiednehmender, unter ihnen auch Ferrer, der auf ihn zukam, ihm die Hand reichte und ein herzliches Lebewohl sagte. Im nächsten Schuljahr werden wir uns wieder sehen, Louis, sprach er; du mußt mir dann helfen, meinen guten Namen wieder zu erlangen. Louis drückte ihm die Hand, und versprach, ihm zu schreiben. Reginald war in einem solchen Uebermaß der Freude, daß er immerfort sprang, jauchzte und sang.

– Hier, Louis, schneid' mir das ab, hier ist mein Messer!

»Christnacht ist da, meine Kinder!«

– Christnacht mitten im Sommer! versetzte Louis lachend.

– Einerlei! – Juheisassa! die Ferien sind da! Und der ganze Chor stimmte ein: Juheisassa! die Ferien sind da! Und Hüte und Taschen flogen in der Luft herum.

– Bravissimo! rief Reginald, roth vor Anstrengung; aber meine liebliche Stimme ist heute sehr heiser, sie will mir nicht mehr gehorchen; ich glaub', sie ist verrückt.

Vernon und Frank Digby nahmen Abschied von Reginald und Louis.

– Wir werden uns in Heronhurst wieder treffen, sagte Vernon, indem er Louis die Hand schüttelte.

– Ich denke, ich darf mich dort wohl nicht blicken lassen, antwortete Frank.

– Ich muß doch noch einen Rosenstrauß für die Mama pflücken, sagte Louis. Ich hoffe, die lieben Eltern werden bald kommen, Reginald, o, wie herrlich!

Damit sprang er hinaus und suchte an einem Strauche einige halb verwelkte Rosen aus den Dornen heraus. Plötzlich erschien einer seiner Kameraden und kündigte ihm an, daß seine Eltern angekommen seien.

– Papa und Mama! wo ist Reginald? schrie er, über den Spielplatz rennend und ohne eine Antwort abzuwarten.

– Wo sind sie? wo ist Reginald? rief er, in's Haus hineinstürzend und über die Koffer wegspringend, und in einem Augenblicke war er im Salon in den Armen seiner Mutter.

– Mein lieber Louis! sagte seine Mutter, ihn an's Herz drückend und mit Küssen bedeckend – mehr konnte sie vor Freude nicht sprechen. Hierauf umarmte und küßte ihn auch der Vater, und der Kleine blickte mit seinen vor Freude leuchtenden Augen bald diesen, bald die Mutter an und rief aus: O Mama, ich hab' eine Medaille! Mama, es ist alles an den Tag gekommen! Papa, ich war unschuldig. O Mama, man weiß jetzt, daß ich die Wahrheit gesagt habe! O Mama, – o Papa, ich bin glücklich! Da sank sein Kopf an die Brust des Vaters; er wurde bleich, und seine Augen starrten. Der Vater erschrak, hielt den zusammensinkenden Knaben und trug ihn auf's Sopha. Der Doktor schickte Reginald nach Wasser; aber ehe derselbe zurückkam, war der Kleine schon wieder munter.

– Was ist dir denn, mein liebes Kind? fragte seine Mutter, ihn in die Arme schließend.

– Ich weiß es nicht, Mama, sagte Louis, indem er sich auf einen Stuhl setzte. Es war mir so sonderbar, als hätte mir jemand in's Gesicht geblasen.

– Ich glaub', er ist müde, sagte der Doktor mit freundlicher Stimme; er hat in der letzten Zeit viel ausstehen müssen. Wir wollen ihn ein wenig in's Bett legen; etwas Schlaf wird ihm wohl thun.

– O, ich bin ganz wohl jetzt, sagte Louis.

– Es ist besser, wenn du ein wenig ausruhst, sagte seine Mutter; ich will mich neben dein Bett setzen.

Louis willigte ein, und der Vater trug ihn in sein Zimmer hinauf. Er legte sich zu Bette, und die Mutter blieb bei ihm.

Ich könnte hier nicht wieder erzählen, was Louis seiner Mutter alles zu sagen hatte, während er mit seinen beiden Händen ihre Hand festhielt und sich von Zeit zu Zeit aus dem Bette herausbog, der Mutter an den Hals hing und sie küßte. Da sie aber sah, wie er immer aufgeregter wurde, so verbot sie ihm das Sprechen, und Louis gehorchte; aber seine Augen füllten sich mit Thränen, und von Zeit zu Zeit erhob er sich wieder und rief aus: O Mama, danke Gott für mich! O, wie gut ist er!

Endlich schlief er ein, und seine Mutter saß ruhig da und betrachtete ihr theures Kind mit einem Herzen voll Dankbarkeit gegen Gott.


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