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Bei dem Pastor zu Dashwood hatte unser Louis wirklich ein saures Leben. Er mußte früh aufstehen und wurde mit unerschwinglichen Aufgaben und mit lateinischen Versen fast erdrückt. Sein Bruder Reginald, dem er in Briefen sein Herz ausschüttete, ermangelte nicht, ihm dieses Leben dadurch noch unerträglicher zu machen, indem er ihm dasjenige in der Pension zu Ashfield mit den reizendsten Farben schilderte. Endlich fand der arme Louis, er könne es nicht mehr länger aushalten, daher schrieb er seinem Bruder folgenden Klagebrief:
Mein lieber Reginald!
Du kannst gar nicht glauben, welche Freude Du mir mit Deinem Briefe gemacht hast. Herr Philipp ist zwar ein guter Mann; aber er ist nicht, wie mein lieber Herr Daunton. Was mich am meisten empört, ist das, daß er jeden Augenblick zu mir sagt: »Was hast du denn beim Herrn Daunton gelernt? Ich habe noch nie einen so unwissenden Jungen gesehen, wie du bist.« Was er von mir sagt, ist mir einerlei; aber ich kann nicht leiden, daß er meinem lieben Herrn Daunton den Vorwurf macht, er habe meinen Unterricht vernachläßigt. Ich weiß wohl, daß ich sehr oft träge bin, allein es ist mir schon mehr als einmal begegnet, daß es mir gerade dann, wenn ich mir alle Mühe gab, meine Aufgabe gut zu machen, am allerwenigsten gelang. So hatte ich z. B. kürzlich zwei volle Stunden an meinen lateinischen Versen studirt und mich dabei so sehr angestrengt, als mir nur immer möglich war, um eine Ode an die aufgehende Sonne zu machen. Es war das wirklich auch eine interessante Arbeit und ich dachte, dießmal werde Herr Philipp gewiß zufrieden sein; doch er nahm sich kaum die Mühe, meine Arbeit durchzusehen. Er machte vielmehr mit der Feder einen dicken Strich von oben bis unten und sagte in einem höchst verächtlichen Tone: »schlechte Arbeit, Louis, schlechte Arbeit! Es ist wirklich unbegreiflich nach dem, was ich dir gestern gesagt, und nachdem ich so viel Mühe mit dir gehabt habe!« »Aber ich versichere Ihnen, Herr Philipp,« sagte ich ihm, »daß ich mein Möglichstes gethan habe.« »Schöne Gedanken sind da,« sagte er, »aber ich habe dir's schon mehr als hundertmal gesagt, daß ich keine Gedanken will, sondern Füße.« Ja, ich wollte, ich hätte Füße, Reginald, die mich bis nach Clifton tragen würden. Aber nicht wahr, das ist doch nichts Schlechtes, was ich über Herrn Philipp sage? ich wollte ihn nicht beleidigen, denn er ist doch sehr gut in seiner Art. Er sagt immer, ich wisse nicht, was ich wolle, und daß das Pensionsleben durchaus nicht für mich passe; auch versichert er mir, ich würde in der Anstalt zehnmal mehr arbeiten müssen, und zehnmal mehr gestraft werden, als bei ihm. Das ist mir jedoch einerlei; ich wollte dennoch lieber dort sein, ich wäre dann bei Dir, und so sehr ich Dashwood liebe, so würde ich es doch gern verlassen. Ach! es ist so traurig, seitdem der Papa und die Mama fort sind. Ich gehe fast nie mehr nach Hause, denn es ist mir immer, als höre ich Freddy's Stimmchen, und unsern guten Henry und unsere Schwester Marie … ach! wie lange hab' ich sie nicht gesehen! Reginald, ach, wenn ich nur auf Ostern zu Dir kommen könnte! Nicht wahr, Du wünschest es auch? Ich habe gestern einen schönen Brief von der Mama erhalten. Sie war in Florenz, als sie ihn schrieb; und sie sagt, daß es ihr besser gehe und der kleinen Marie auch. Ich muß jetzt diesen Brief schließen; denn die Mama sagt mir, der Papa habe Dir geschrieben, sonst hätte ich Dir noch mehr gesagt. Ich wollte Dir auch noch erzählen, was unsere Tauben und Marie's Kaninchen und Hühnchen machen. Ich will dieselben der Frau Coltrop zur Pflege übergeben, wenn ich Dashwood verlasse. Adieu Reginald, ich muß enden. Ich bin
Dein treuer Bruder
Louis Francis Mortimer.«
P. S. »Weißt Du noch, wie unser Cousin Vernon letztes Jahr gelacht hat, als wir uns in Heronhurst umarmten? Ach! wann wird es wieder geschehen? Wenn ich nur zu euch kommen könnte!«
Die lieben jungen Leser sollen nicht mit einer langen Beschreibung der Gebäulichkeiten, in welcher sich die Erziehungsanstalt des Doktor Wilkinson zu Dashwood befindet, aufgehalten werden; nur ein paar Worte mögen hier darüber stehen. Diese berühmte Erziehungsanstalt steht unweit Clifton. Das Gebäude selber bietet nichts besonders Merkwürdiges dar, es sei denn durch die vielen eckigen Anbauten, die in dem Maße, wie die Zöglinge zunahmen, nach allen Himmelsgegenden dem Hauptgebäude angefügt wurden. Das Anstaltsgebäude ist von einem lieblichen Wäldchen umgeben, das den Zöglingen als Ort des Vergnügens und der Erholung dient. Zu der Zeit, wo wir nun in unserer Geschichte stehen, war die Zahl der Zöglinge auf achtzig gestiegen, von denen die meisten aus den entferntesten Provinzen des Königreichs hergekommen waren. Doktor Wilkinson war ein vortrefflicher Erzieher, und dazu ein sehr gelehrter Mann.
Es war an einem schönen Apriltage, als sich an der Thüre des Hauses ein Knabe anmeldete, und die lieben, jungen Leser werden schon errathen, wer dieser Knabe war. Ein Wagen hatte ihn von Bristol bis hierher gebracht. Er war abgestiegen und einem Diener in den Speisesaal des Doktor Wilkinson gefolgt, wo er die Ankunft des letztem erwarten sollte. Wir wollen ihn einen Augenblick allein lassen, und uns in das am entgegengesetzten Ende des Hauptganges befindliche Zimmer begeben. Da treffen wir einen Mann an, den wir mit leichter Mühe als unsern Doktor Wilkinson erkennen. Bei ihm befindet sich ein anderer Herr, der soeben seinen kleinen Jungen in die Anstalt gebracht und nun mit dem Vorsteher derselben allerlei zu besprechen hatte. Ihr könnt euch wohl denken, liebe Kinder, daß der Knabe nicht dabei sein durfte, derselbe befand sich unterdessen im Schulzimmer. Herr Percy, so hieß der Vater, hatte allerlei Wünsche anzubringen, was sein Söhnchen alles lernen und nicht lernen solle, und als er mit diesem Register fertig war, stand er noch einem Augenblick stillschweigend da, als besinne er sich, ob er noch etwas vergessen habe.
– A propos! Herr Wilkinson, begann er dann wieder, indem er den Bleistift fallen ließ, mit welchem er die ganze Zeit über auf den Tisch gehämmert hatte, haben Sie nicht unter Ihren Zöglingen einen Enkel von Sir George Vernon?
– Zwei sogar, versetzte der Vorsteher.
– Ah! wirklich? Ich wollte sagen, einen jungen Mortimer, Sohn des Herrn Mortimer von Dashwood.
– Ja, sein ältester Sohn ist hier und in diesen Tagen erwarte ich seinen jüngeren Bruder, versetzte Herr Wilkinson.
Da sprach Herr Percy: Es ist also derselbe, den ich diesen Morgen sah.
– Wo denn, wenn ich Sie bitten darf? fragte Herr Wilkinson.
– Im Gasthof zum weißen Löwen, antwortete Herr Percy. Er ist mit der Londonerpost angekommen. Ich sah einen Koffer mit Ihrer Adresse und vermuthete gleich, es müßte der junge Mann sein, der sich letztes Jahr eine so schöne Berühmtheit erworben hat.
– Wie so, versetzte der Vorsteher.
– Er hat Lorbeeren eingestrichen, war die Antwort, für einen ausgezeichneten Aufsatz, den nicht er, sondern sein Bruder gemacht hatte. Denken Sie nur, er hatte die Frechheit, von seinem Großvater dafür einen Preis anzunehmen.
– Aber wie ist das möglich? sagte der Doktor.
– O! es war eben ein Irrthum, aber der Bursche hat diesen Irrthum benutzt.
– Herr Percy erzählte ihm nun den ganzen Hergang der Sache, und fügte dann bei: Ich war nicht selbst zugegen; aber ein Augenzeuge hat mir Alles erzählt. Ich fürchte sehr, Sie werden mit diesem Burschen viel Arbeit bekommen.
– Aber, sagte der Doktor, das ist ja unglaublich! sein älterer Bruder ist der aufrichtigste Charakter, den ich kenne.
– Ja, ich habe davon gehört, antwortete Herr Percy, allein es ist eben gar nicht selten der Fall, daß Glieder einer und derselben Familie verschiedene Charaktere haben. Sie verstehen übrigens, Herr Doktor, das ist Alles nur unter uns. Ich habe für meine Pflicht gehalten, es Ihnen zu sagen. Einem Andern würde ich es nicht mitgetheilt haben.
Herr Wilkinson verneigte sich stillschweigend, ohne für die Offenbarung dieses Geheimnisses besondere Erkenntlichkeit blicken zu lassen.
Herr Percy erhob sich hierauf und nahm Abschied. Der Doktor begleitete ihn, und als er zurückkam und sich in sein Zimmer begeben wollte, meldete ihm ein Diener, daß im Speisesaal ein junger Herr auf ihn warte.
– Aha! sagte der Doktor vor sich hin, das ist wahrscheinlich mein neuer Zögling, und für einen Augenblick in Gedanken vertieft, durchschritt er dann langsam den Hausgang und trat in den Speisesaal.
Mit ängstlicher Ungeduld hatte unser Louis unterdessen auf die Ankunft des Vorstehers gewartet, und als die Thüre aufging und die imposante Gestalt des Doktors vor ihm stand, schlug sein Herz stärker und er konnte fast kein Wort hervorbringen.
Dr. Wilkinson war aber auch eine Persönlichkeit, die jungen Leuten wohl Respekt einflößen konnte. Er war von großer Gestalt, hatte eine hohe Stirne und ein schönes Antlitz; sein ganzes Wesen trug einen Ehrfurcht gebietenden Ausdruck, und seine Miene war mehr ernst, als freundlich. Wenn er lächelte, so verschwanden jedoch diese ernsten Züge und machten einer wohlwollenden und einnehmenden Liebenswürdigkeit Platz. Auf einen neuen Zögling machten aber seine zusammengepreßten Lippen und seine großen, überhängenden Augenbraunen mit dem durchdringenden Feuerblicke seiner Augen immerhin einen majestätischen Eindruck.
Louis erhob sich und grüßte den Doktor ehrerbietig.
– Nun wie geht's, Mortimer? sagte der Doktor, indem er ihm die Hand schüttelte. Du mußt wohl müde sein, so lange auf mich zu warten. Hast du deinen Bruder schon gesehen?
– Nein, Herr Doktor, sagte Louis, durch die freimüthige Herzlichkeit dieser Worte schon etwas beruhigt.
Der Doktor lächelte und fügte hinzu: du siehst deinem Vater sehr ähnlich. Besonders wie er damals aussah, als er in deinem Alter war.
– Sie haben ihn also in seiner Jugend gekannt? versetzte der Knabe schüchtern.
– Ja, antwortete der Vorsteher, so gut, wie ich dich in kurzer Zeit zu kennen hoffe. Wie heißest du denn?
– Louis Francis, mein Herr.
– Also wie dein Vater! so ist's recht, sagte freundlich der Doktor. Ich hoffe, du wirst deinem Vater Ehre machen. Ein solcher Vater, wie der deinige ist, und eine solche Familie, in welcher du erzogen wurdest, ist ein großer Vortheil; aber für dieses Privilegium wirst du einst verantwortlich sein. Es ist deine Pflicht, den Erwartungen, die deine Eltern von dir hegen, zu entsprechen, und die Mühe, die sie sich für deine Erziehung geben, mit Dankbarkeit zu belohnen. Indem Hause, in das du jetzt eintrittst, wird Vieles anders sein als bei deinen Eltern, und wenn du nicht beständig auf deiner Hut bist, so könntest du leicht zu Dingen verleitet werden, die dir später vielen Kummer verursachen würden. Gedenke daran, daß der Schöpfer dir eine Aufgabe stellt, über die er einst Rechenschaft von dir verlangen wird. Es ist daher nicht einerlei, ob du deine Gaben gut anwendest, oder ob du sie in die Erde vergräbst. Ich hoffe, mein lieber Louis, du werdest dich immer als Christ betragen.
Der Doktor bemerkte mit Vergnügen, daß ihn sein neuer Zögling aufmerksam anhörte und daß er den Vorsatz habe, die erhaltenen Ermahnungen zu befolgen, und diese Wahrnehmung verdrängte die vorgefaßte ungünstige Meinung, welche er von ihm hatte, und flößte ihm unwillkürlich Liebe für ihn ein.
Komm jetzt mit mir, sagte er zu ihm, ich will dich deinen künftigen Mitschülern vorstellen. Du wirst wahrscheinlich deinen Bruder unter ihnen antreffen.
Louis folgte dem Vorsteher durch einen großen, dann durch einen kleineren Gang, wo Mäntel, Röcke, Hüte und Mützen von allen Formen und Moden aufgehängt waren. An dem Geräusch, das in seine Ohren drang, konnte er merken, daß er sich einem Haufen junger Leute näherte. Als der Vorsteher die Thure des großen Schulzimmers öffnete, wurde Louis betäubt und bestürzt von dem entsetzlichen Lärm und von dem Anblick der sich ihm darbot. Eine große, auf den Spielplatz, gehende Glasthüre war geöffnet und durch dieselbe wirbelte und wälzte sich ein Strom von Jungen hinaus, denn die Lehrstunden waren soeben beendigt. Im Zimmer kletterten einige auf die Schreibtische und auf die Bänke. Alle sangen, schrieen, oder pfiffen; der Lärm der umstürzenden Schreibtische, das Hinwerfen der Bücher und Hefte, das Krachen der über einander stürzenden Stühle – all' dieser Tumult und dieses Durcheinander bot unserm Louis eine Scene dar, wie er sie noch nie gesehen und gehört hatte.
Beim Eintritt des Vorstehers wurde es etwas stiller, und einige Augenblicke später war das Zimmer beinahe leer, so daß die Neuangekommenen sich ohne große Mühe einen Weg nach dem oberen Ende des Zimmers bahnen konnten. Hier befand sich ein Trupp großer Knaben – um Verzeihung! junger Herren, – welche ganz gemüthlich zusammen plauderten. Ihre gegenseitige Aufmerksamkeit war so groß, daß sie die Ankunft ihres Vorstehers nicht bemerkten. Einer dieser jungen Herren saß in Schneiderpositur auf einem Schreibtische und hielt eine erbauliche Ansprache an seine Kameraden, und diese waren, so weit man aus den Erschütterungen ihres Zwergfells urtheilen konnte, von dem Rednertalente, von den Einfällen und Bemerkungen dies begeisterten Redners ganz entzückt. Ein wenig seitwärts von dieser Gruppe, stand ein siebenzehnjähriger Herr, den man nicht würde bemerkt haben, wenn die Ruhe und Entschlossenheit, welche auf seinem Gesichte lag, ihn nicht vor den Andern ausgezeichnet hätte. Er schien entschlossen, der mächtigen Versuchung zum Lachen nicht nachgeben zu wollen; aber trotz der Gewalt, die er sich anthat, und trotz dem, daß er in ein Buch vertieft zu sein schien, konnte er zuletzt doch nicht mehr widerstehen. Er brach in lautes Gelächter aus, und indem er dem Redner sein Buch an den Kopf warf, rief er aus: Aber Frank, ist's möglich, solcher Unsinn!
– He da! es ist gut, sagte Frank, ohne sich im Mindesten zu rühren, der Schwerpunkt ist verrückt. – Wie ich Ihnen sagte, meine Herren! – Da ist der Doktor! Und nun stieg unser Gentleman, der Niemand anders war, als Frank Digby, der Vetter unsers Louis, von seiner Tribüne herunter, während seine Kameraden wirklich ihren Vorsteher erblickten.
Dieser redete sie folgendermaßen an: »Ich bringe euch hier einen neuen Kameraden, Gentlemen. Wo ist Mortimer?«
– Hier, mein Herr, rief Reginald, hinter einem Schreibtisch hervorkriechend, wo ihn ein kurzer, stämmiger Bursche gehalten hatte, der sich nun gleichzeitig mit Reginald wie durch einen Zauberschlag vom Boden, erhob.
– Hier, Mortimer, ist dein Bruder, sagte der Vorsteher.
Reginald bahnte sich einen Weg durch die Hindernisse, und in einem Augenblick stand er vor dem Doktor.
Louis wagte es ungeachtet der Bitten seines Vetters Vernon doch nicht, in Gegenwart auch nur des vierten Theils von hundert und sechzig Augen seinen Bruder zu umarmen. Er begnügte sich damit, ihm kräftig die Hand zu schütteln und ihm einen Blick zuzuwerfen, der viel bedeuten wollte. Ich muß übrigens hier hinzufügen, daß Reginald's ganzes Aussehen und besonders sein Gesicht nicht sehr zum Umarmen und Küssen einlud; denn abgesehen davon, daß seine Haare im buntesten Wirrwarr durch einander lagen und sein Kleid über und über mit Staub bedeckt war, sah sein Gesicht ganz tättowirt aus von einer Menge Tintenflecken, die ihm sein boshafter Gegner als Verzierung beigebracht hatte. Der Anblick dieser liebenswürdigen Erscheinung versetzte die ganze Gesellschaft in eine heitere Laune.
Der Doktor machte einige Bemerkungen über das sonderbare Antlitz seines Zöglings, und nachdem er den jungen Louis seinen Kameraden empfohlen hatte, verließ er das Schulzimmer.
Kaum hatte derselbe die Thüre geschlossen, als Einige, die zu diesem Schauspiel zu spät gekommen waren, auf die Gruppe zustürzten, und nun wurde Reginald und sein Bruder mit einer solchen Menge von Fragen bestürmt, daß auch die größte Zungenfertigkeit sie unmöglich hätte beantworten können.
– Wann bist du angekommen? – Wer ist dieser Mortimer? – Ist das dein Bruder? – Wie heißt er? – Wird er in unsere Klasse kommen? – Warum bist du nicht in Bristol geblieben, Ha! ich wäre nicht hierher gekommen, wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre.
Louis war ein wenig in Verlegenheit, obgleich ihm das Alles sehr lustig vorkam. Er wandte sich bald auf die eine, bald auf die andere Seite, um die Menge Fragen zu beantworten, die von seinen neuen Kameraden an ihn gerichtet wurden.
– Macht Platz! rief endlich Frank Digby, ihr bringt dieses junge Mädchen ja ganz aus der Fassung. Dürft ich Fräulein Louise vielleicht meinen Arm anbieten? Erlauben mir Fräulein, daß ich Sie gegen diese unverschämten Burschen in Schutz nehme!
Und mit solcher Zärtlichkeit bot er dem jungen Louis seinen Arm an und machte ein so graziöses Kompliment, daß Alle in ein schallendes Gelächter ausbrachen. Frank war einer von denen, welche das Privilegium haben, komisch zu sein und die durch die unbedeutendsten Dinge jedermann zum Lachen bringen.
– Nun Frank, mach' keine Dummheiten, sagte Reginald.
– Schöne Dummheiten, Herr Mortimer, entgegnete Frank, wenn Sie Ihre liebenswürdige Schwester nicht besser in Schutz nehmen, so ist's Zeit, daß ich mich d'rein lege. Sie erlauben dieser Rotte von – ich weiß nicht, welchen Namen ich ihr geben soll, – sie mit ihren Fragen zu übertäuben? es wird ihr ja bald übel, sie ist ja in Todesangst. Fort, mit euch! weg da, ihr unverschämten, zudringlichen Affen! Könnt ihr Ihre Majestät nicht in Ruh lassen, ihr werdet ihre Ungnade auf euch ziehen!
– Wie befinden Sie sich, Fräulein Louise? Es freut mich sehr, wenn Sie gesund sind! – Zerdrückt doch dieses schöne Mädchen nicht! –
Denn man drängte sich von allen Seiten an den armen Louis, um boshafte Fragen an ihn zu richten. Louis wurde bis über die Ohren roth bei dieser so unerwarteten Begegnung.
– Nun, darf ich Ihnen meinen Arm anbieten? fuhr Frank fort, indem er die Hand des Louis ergriff und trotz der Anstrengung seines Opfers sich loszumachen, denselben unter seinen Arm nahm und ihn, mir nichts, dir nichts, sich durch die Menge einen Weg bahnend, zu Eduard Hamilton, dem schon erwähnten, ernsten jungen Manne führte.
– Diesen redete er also an: Ich bringe Ihrer Majestät hier eine charmante Unterthane. Wollen Ihre Majestät mir erlauben, Ihnen die sanfte, liebenswürdige Fräulein Louise Mortimer vorzustellen, die erst kürzlich in Ihrer Majestät Königreich angekommen ist. Ihre Majestät werden sehen, welche treue, ergebene … nun, die Mamsell hat einen Nervenzufall, wie es scheint. – Der arme Louis suchte sich mit aller Gewalt dem Arm seines Beschützers zu entwinden.
– Frank, laß ihn doch gehen! sagte jener.
– Was befiehlt Ihre Majestät, fragte Frank, indem er den Anstrengungen seines Vetters nur um so größern Widerstand entgegensetzte.
– Daß man den Louis Mortimer in Ruh' lasse, antwortete Hamilton. Du wirst uns nach einigen Wochen schon lieb gewinnen, sagte er zu Louis, indem er seine Hand ergriff. Meine Unterthanen halten, wie es scheint, für ihre Pflicht, mit jedem Neuangekommenen grob zu sein, aber mein königliches Beispiel wird sie schon bald sanftere Sitten lehren.
– Der Trompeter und Großvezier Ihrer Majestät wird sich dienstbeflissen zeigen, sagte Frank.
– Aber da er in diesem Augenblick von einem heftigen Anfall der Selbstsucht darnieder liegt, versetzte Hamilton, so sehen wir uns in der Nothwendigkeit, unsere Geschäfte selbst zu besorgen.
– Ich flehe Ihre Majestät demüthigst um Vergebung an, sagte Frank, und legte dabei mit der ehrerbietigsten Zärtlichkeit seine Hand auf die Schulter seines Gebieters. Dieses Zeichen seiner Zärtlichkeit wurde mit einem kräftigen Puff erwiedert, worauf er auf den Boden taumelte.
– Ich bin doch immer das Opfer meiner Gutmütigkeit, sagte Frank, der sich erhob und auf Louis zuging; aber meine Zuneigung gegen Sie, Fräulein ist noch dieselbe; ich bin noch immer Ihr ergebener Diener. Wollen Sie mir nur gefälligst sagen, was ich für Sie thun kann? Nach welcher Seite sich Louis wandte, immer stand Frank mit seinem freundlich bittenden Gesicht vor ihm. »Wissen Sie denn gar nichts, womit Ihr Sklave Ihnen dienen kann?«
– Ich wünsche, daß mein Sklave mir aus der Sonne gehe, sagte Louis in einem humoristischen Tone.
– Sehr gut, rief Hamilton.
– Aus der Sonne! Also hinter Sie soll ich mich stellen? Das ist wirklich sehr grausam, aber ich werde Ihren Befehl augenblicklich ausführen.
Louis mußte die ganze Reihe der unangenehmen Erfahrungen durchmachen, die auf einen jeden neuangekommenen Zögling warteten, aber er ertrug sie mit der musterhaftesten Gutmüthigkeit, obgleich sein Vetter dafür Sorge trug, daß ihm keine einzige erspart wurde. Glücklicherweise machte der Beginn der Nachmittagsschule diesen Verfolgungen ein Ende, so daß Louis etwas freier athmen konnte. Im Laufe des Nachmittags wurde Louis zu Doktor Wilkinson gerufen, der sich in einem an das große Schulzimmer anstoßenden kleinern Zimmer befand. Der Doktor schien in seiner gewöhnlichen, ernsten Stimmung zu sein.
Außer vier Zöglingen der ersten Klasse befand sich daselbst noch ein kleinerer Knabe, der sehr bestürzt aussah. Nachdem der Doktor ein Buch, das er in der Hand hielt, zugemacht hatte, entließ er jene vier, wandte sich dann an den kleinen Jungen, indem er ein anderes Buch vom Tisch nahm und zu ihm sagte:
– Kennst du dieses Buch, Harrison?
– Ja, Herr Doktor, erwiederte der Knabe verlegen.
– Woher hast du es?
– Ich hab' es gekauft.
– Damit es dir, wie ich vermuthe, helfen soll, deine Kameraden zu überflügeln, die zehnmal braver sind als du, sagte der Doktor in einem Tone der Verachtung. Wenn du den Kenrick zu schwer findest für dich, so kannst du in die Klasse hinuntergehen, wo die Aufgaben deine Fähigkeit nicht übersteigen, aber gieb Achtung, daß du mir das nicht zum zweiten Mal machst! Du kannst jetzt gehen.
Unser gute Louis hatte Mitleiden mit dem armen Knaben, der am ganzen Körper zitterte und die Thränen kaum zurückhalten konnte.
– Nun, Louis, wir wollen sehen, in welche Klasse du gehörst, sagte der Doktor, indem er sein Examen mit ihm begann.
– Hm, Hm! sagte er von Zeit zu Zeit, es ist nicht übel, du kannst's einmal in der zweiten Klasse versuchen, aber ich sage dir zum Voraus, du mußt alle deine Kräfte zusammennehmen, um den Karren zu schieben, wenn du Schritt halten willst mit der Klasse, sonst würde ich mich genöthigt sehen, dir einen weniger ehrenvollen Platz anzuweisen. Und nun laß uns sehen, wie das gehen wird. Stelle diese Bücher nun wieder an ihren Ort! und mit diesen Worten zeigte er ihm einen leeren Platz auf dem Büchergestell und verließ das Zimmer. Louis stellte die Bücher hin und begab sich wieder in das Schulzimmer, um seinen Bruder aufzusuchen. Er hatte jedoch kaum angefangen, demselben das Ergebniß des Examens mitzutheilen, als nach den beendigten Schulstunden der gewöhnliche Sturm wieder losbrach.
Reginald war sehr lebhaft und dem Spiel leidenschaftlich ergeben. Er nahm seinen Bruder bei der Hand und rannte mit ihm auf den Spielplatz mit jenem Gefühl des Vergnügens, das nur ein fleißiger Schüler aus Erfahrung kennt.
– Was für ein schöner Spielplatz, sagte Louis.
– O! es ist was Herrliches! erwiederte Reginald. Nun, welchen Spaß treibt man denn da unten, Frank? schrie er seinem Vetter zu, der in vollem Galopp dem untern Theile des Platzes zurannte, wo eine nicht unbedeutende Anzahl Zöglinge zusammen gedrängt waren.
– Ah! es ist der Papa Dunn, schrie Frank.
– Ah! der alte Kuchenhändler. – Louis, sagte Reginald, ich muß ein Paar Groschen loswerden, die ich zu viel habe.
– Hast du die Kuchen gern? fragte ihn Louis. O, ich habe viel Geld; die Frau Coltrop hat mir meine Taschen reichlich versorgt.
– Ho, da will ich mein Geld für ein ander Mal sparen, sagte Reginald. Komm her, wir wollen sehen, was es dort gibt!
Reginald lief auf den Kuchenmann zu, Louis folgte ihm und stellte sich außerhalb des Zirkels seiner Kameraden, welche um einen alten Mann und einen kleinen Jungen eine beinah undurchdringliche Mauer bildeten. Diese beiden hatten jeder einen Korb am Arm, der mit Dingen angefüllt war, welche der Gaumen eines Knaben nie verschmäht.
Ich halte nicht gern Predigten, liebe Kinder, ihr hört doch nicht darauf, sonst wollte ich euch bei der Gelegenheit ein Paar Bemerkungen machen über die Lüsternheit des Gaumens und über die Thorheit, sich seines Geldes auf diese Weise zu entledigen und dergleichen Dinge mehr; aber es ist euch gewiß lieber, wenn ich in der Geschichte fortfahre und euch erzähle, was sich jetzt in der Gesellschaft der Kuchenesser weiter ereignet hat. Ihr hättet den armen Kuchenmann sehen sollen, wie er mit dieser Schaar Jungen zu parlamentiren und zu kämpfen hatte.
Frank Digby und Hamilton standen in dem äußern Zirkel; denn es war ihnen unmöglich gewesen, bis zum Mittelpunkt der Verhandlungen vorzudringen. Hamilton hatte sich mit seinem gewöhnlichen, gefälligen Anstand genähert; aber auch er konnte den geheimen Wunsch nach dem Besitz einiger Kuchen nicht unterdrücken. Er betrachtete den alten Mann mit einer unwandelbar ernsten Miene, während Trevannion, ebenfalls ein Schüler der ersten Klasse, sich nachlässig auf seinen Arm stützte.
Frank Digby nahm zu großen Antheil an allem dem, was in der Anstalt vorging, als daß er hier stiller Zuschauer hätte bleiben können; er fing an rechts und links sich mittelst seiner Ellenbogen Platz zu verschaffen.
– Fort mit euch! Platz da, ihr Vagabunden! rief er mit höflicher Stimme. Vorwärts ihr kleinen Gassenjungen, was fällt euch denn ein, mir den Weg zu versperren? Alfred, du unwissender Tropf! Alfred, warum machst du denn nicht Platz?
– Weil ich hier etwas kaufen will, erwiderte der Kleine, während er den Ungestümen mit der größten Rube ansah.
– Da locum melioribus, Alfred, wie der Dichter sagt, weißt du, wo diese Stelle ist, mein Sohn? Es ist die erste Zeile des dreizehnten Buches der Aeneide, der Anfang der Rede des Sohnes des Anchises an die Königin von Karthago. Du findest ein Exemplar von Virgil's Werken in meinem Schreibpult.
– Es kann sein, aber ich habe jetzt keine Lust, darnach zu laufen, sagte Alfred, ich weiß wohl, wo sich diese Stelle findet, im Delectus.
– Was für ein Gedächtniß! Ich bewundere dieses köstliche Buch, schrie Frank, der immerfort schwatzte, indem er sich einen Weg bis zum Kuchenkorb bahnte. – Nun, Papa Dunn, sagte er zu dem alten Manne, ich hoffe, Sie werden heute vernünftiger sein, als das letzte Mal, der Geldmarkt ist gegenwärtig in schlechtem Zustand.
– Du sprichst immer vom Geldmarkt, Frank, sagte der kleine Alfred, was ist denn das, der Geldmarkt?
– Das ist ein Ort, mein Sohn, ich werde dir's gleich erklären, nur Geduld. Da, Papa Dunn. – Das ist ein Ort, mein lieber Alfred, wo die alten Weiber Goldstücke verkaufen, das Viertel um einen Groschen.
– O! Frank! rief Alfred aus.
– O! warum nicht? Willst du mir etwa nicht glauben? Nicht wahr, Papa Dunn, das ist so?
– Ah! Herr Digby, Sie machen doch immer Späße, sagte der Alte.
– Späße? sagte Frank, mit einer ernsthaften Miene, haben Sie denn die Kupfertische in der Börse zu Bristol noch nie gesehen?
– O ja!
– Nun gut, also dort war es, wo in den guten alten Zeiten die alten Weiber hinter diesen Tischen standen und riefen: hieher! Goldstücke, um einen Groschen das Viertel! – darum waren damals die Leute so reich.
– O Frank! Jetzt sieht man, daß es nur eine Dummheit ist, sagte Alfred.
– Um so schlimmer, du dummer Junge, wenn du mich nicht einmal verstehst; es scheint, du kannst dir keinen Verstand kaufen. He da, wer will meinen Platz? Louis, komm her, ich will dir ihn abtreten, er kostet nichts.
– O, ich will nichts kaufen, sagte Louis.
– Wie häßlich! schrie Frank, alle Andern kaufen; seht einmal den Geizhals.
Und der gute Louis wurde von allen Seiten gepufft, gestoßen und gezogen, und er mußte auch kaufen, nur, weil er es nicht wagte, nein zu sagen.
Die zwei obersten Klassen hatten das Privilegium, sich am Abend im großen Schulzimmer aufzuhalten; daher führte Reginald nach dem Thee seinen Bruder in die ehrwürdige Gesellschaft ein, und nachdem er ihn über seine Pflichten unterrichtet hatte, setzte er sich an seine Arbeit. Die meisten der anwesender: jungen Herren waren bald in ihr Studium vertieft; es gab jedoch einige, die vor dieser Tiefe zurückschreckten und lieber ihrer geschwätzigen Zunge Gelegenheit verschafften, sich in der Uebung zu erhalten, während sie zu gleicher Zeit mit großem Eifer in ihren Büchern blätterten oder ihre Federn in Stücke zerschnitten. Unter den Letztem war auch Frank Digby, den seit seiner ersten Kindheit wohl kaum jemand eine Viertelstunde stille gesehen hatte. Er besaß aber auch ein bewunderungswürdiges Talent, jedermann zu ergötzen, ohne daß sein Studium darunter zu leiden schien. Es hatte das Ansehen, als verwende er nicht die geringste Aufmerksamkeit auf seine Aufgaben, und doch behauptete er immer seinen Platz in der Klasse, und dieser Platz war der zweitletzte.
Louis war bald überzeugt, es sei nothwendig, daß er alle seine Kräfte zusammennehme; da er aber nicht gewohnt war, bei solchem Geräusch zu arbeiten, so konnte er sich im Anfang nur mit Mühe drein schicken. Immer und immer mußte er wieder von seiner Arbeit wegschauen, um die scherzhaften Fragen zu beantworten, die Frank unermüdlich an ihn richtete. Endlich bezwang er sich und hielt sich allen Ernstes an seine Arbeit und das um so mehr, da ihn auch sein Bruder wiederholt mit den Blicken dazu aufforderte, ja ihn sogar oft mit Worten ermahnte. Aber kaum hatte er angefangen, so öffnete sich langsam die Thüre und herein trat der kleine Junge, den er am Nachmittag in der Menge gesehen hatte.
– Hollah! Was willst du hier? schrie einer der ältesten der Klasse, du hast hier nichts zu suchen.
– Ist Eduard da, Mister Salisbury?
– Nein.
– Wissen Sie, wo er ist, wenn ich bitten darf?
– Beim Doktor, erwiederte der junge Gentleman.
– Ach! wie langweilig! seufzte der kleine Junge, der sich unterdessen bis zum Tisch hervorgewagt hatte.
– Was hast du denn? fragte ihn Reginald.
– Ach! ich kann meine Aufgabe nicht machen, ich habe Eduard bitten wollen, mir zu helfen.
– Mein liebes Bürschchen, hat dir der gelehrte Herr Frederic Salisbury nicht so eben gesagt, daß dein freundschaftlicher Präceptor, Eduard, der Prächtige, – non est in ventus, sagte ihm Frank im entschiedensten Ton, begleitet von einem höflichen Kompliment.
– Und daß du also, fügte Salisbury hinzu, nach York, Peterwardein, Jericho oder irgendwo anders auswandern kannst, wohin solche Taugenichtse, wie du einer bist, sich gewöhnlich begeben.
– Ich bitte dich, Frank, sagte der kleine Junge, hilf mir nur für diesmal.
– Ich kann es wirklich nicht, ich kann meine eigene Aufgabe kaum machen, wie soll ich denn dir noch helfen können?
– Ach! wenn mir doch nur jemand helfen wollte, der Doktor würde so böse werden, wenn mich Herr Morton morgen wieder wegschicken müßte.
– Wirst du dich jetzt fortmachen? schrie Salisbury mit solcher Entschiedenheit, daß Alfred sich zurückzog. Was nützt es dir, wenn du deine Aufgaben nicht selber machst, du lernst ja nichts dabei.
– Komm hieher, Alfred, sagte Louis mit leiser Stimme. Alfred flog zu ihm hin und Louis fing an, ihm seine Aufgabe zu zeigen.
– Sag' ihm nicht alle Wörter, Louis, bemerkte Reginald; Hamilton würde gewiß sehr unwillig werden, er zeigt ihm nie Alles.
– Aber darf ich ihm denn nicht zeigen, wie er seine Aufgabe allein machen kann? fragte Louis.
– Ja, aber Louis, du hast nicht Zeit, du würdest ja deine eigenen Aufgaben nie machen können, wenn du Andern die ihrigen machen wolltest, und zudem ist der Junge noch so dumm.
Aber der gute Louis dachte, er hatte genug Zeit für Alles. Er schlug seinen Arm um Alfred und mit unermüdlicher Geduld und Güte zeigte er ihm nun, wie er seine Aufgabe machen müsse und ging dann wieder an seine eigene Arbeit.
Aber kaum hatte er sein Buch aufgemacht, als ihn Frank wieder störte, der die Anzeige machte, daß » Gold« bald erscheinen werde.
– Wer ist das, » Gold?« fragte Louis.
– Es ist Churchill, versetzte Reginald lachend.
– Welch' drolliger Name! bemerkte Louis.
– Digby, schrie ein Knabe aus der hintern Ecke des Zimmers, man sagt, du habest ihm diesen Namen gegeben. Wir haben aber nie erfahren können warum.
Der Ursprung dieses Namens ist sehr einfach, erwiederte Frank. Churchill kam eines Tages zu mir mit seiner gewöhnlichen Bitte: »He da, du bist ein guter Kerl, hilf mir ein wenig!« Nachdem er mich so einige Minuten gelangweilt hatte, fragt' ich ihn, ob er denn nicht das Geringste von seiner Aufgabe verstehe, und nachdem er wieder einige Minuten die Nase in's Buch gesteckt fing er an: » Omnes,« »alle.« – Bravo, sagte ich. – » Continuere« – was heißt das, Frank? – waren still, antwortete ich. Nur vorwärts. – Nach einigen Augenblicken tiefen Nachdenkens und da ich ihn beständig drängte, entdeckte er endlich, daß tenebant eine entfernte Verwandtschaft mit einem Verbum haben müsse, das festhalten bedeutet. Nun ging ihm plötzlich ein Licht auf und wir fuhren fort: » Intentique ora tenebant« – sie hielten ihr Gold fest. Der arme Kerl dachte, ich wollte ihn zum Besten halten; allein er beruhigte sich wieder, als ich ihm sagte, daß Aeneas sic orsus infandum, bedeute: Aeneas war ein furchtbarer Bär.
– Und du hast ihn in diesem Irrthume gelassen? fragte Louis, der sich nicht enthalten konnte zu lachen.
– Warum denn nicht? es hätte mir das ganze Vergnügen gestört und zugleich die Lektion geschwächt, welche ich ihm dadurch geben wollte.
– Und dann weiter Frank? sagte Reginald.
– Ihr könnt euch das Erstaunen des alten Witworth denken, als ihm ein Schüler der ersten Klasse übersetzte: sie hielten ihr Gold fest und noch ähnliche Dummheiten. Der alte Witworth ließ ihn bis zum Ende übersetzen, und dann fragte er ihn, wo er solchen Unsinn gelernt habe. Ich glaube, der arme Kerl sei augenblicklich in den Orden der Dummköpfe versetzt worden, und er laborirt nun, wie ich meine, am Delectus oder am Eutrop. Zu mir kam er nie mehr.
Louis sagte nicht, was er über Frank dachte, aber ganz recht kam ihm sein Betragen nicht vor. Als er sein Buch wieder zur Hand nehmen wollte, war dasselbe verschwunden.
– Ich erkläre hiermit feierlich, sagte Reginald zornentbrannt, daß ich meinen Bruder nicht so behandeln lasse. – Wer hat sein Buch genommen? Du, Ferrer, ich bin gewiß.
– Ich? Was für einen Einfall! erwiederte dieser. Digby, hast du mich gesehen das Buch anrühren?
– Nein, sagte Frank.
– Augenblicklich gib mir das Buch zurück! donnerte ihn Reginald an. Und mit diesen Worten sprang er auf den Tisch, indem er wiederholte, augenblicklich gib es mir und mach' nicht solche Dummheiten.
– Herunter, Mortimer, du bist nicht durchsichtig, schrieen mehrere Stimmen.
Reginald bekümmerte sich nicht um dieses Geschrei, er stürzte auf Ferrer los, warf ihn von seiner Bank, fiel mit ihm auf den Boden und hinter ihm drein eine Lawine von Büchern, Tintenfässern, Heften und Kerzenstücken, Alles im herrlichsten Durcheinander.
– Was soll denn dieses Gepolter bedeuten? schrie Salisbury, der schnell von seinem Platz aufstand und die beiden Kämpfer trennen wollte. In demselben Augenblicke wurde auch das letzte Licht ausgelöscht. Louis war ganz betäubt von dem Tumult. Die Einen nahmen Partei für seinen Bruder, die Andern für Ferrer. Freunde schlugen sich mit Freunden; denn in der Finsterniß wußte Keiner, wen er traf, und niemand dachte daran, den Aufruhr zu beschwichtigen.
Plötzlich öffnete sich die Thüre und herein trat Hamilton, Trevannion und einige Andere. Hamilton blieb einen Augenblick stehen, ohne ein Wort zu sagen, bestürzt über diesen Lärm und die ägyptische Finsterniß. Das Hereintreten desselben bewirkte jedoch für einen Augenblick Ruhe; denn man dachte, es wäre einer der Lehrer. Hamilton verschaffte sich ein Licht und benutzte diesen Augenblick der Stille, seiner Stimme Geltung zu verschaffen. »Seid ihr verrückt, Gentlemen? schämt ihr euch nicht? Was ist denn geschehen, Mortimer?
– O! sagte Ferrer, man hat seinen kleinen Bruder ein wenig geneckt und er will es nicht leiden.
– Ich wiederhole noch einmal, schrie Reginald in seiner Wuth, ich werde nimmermehr zugeben, daß man meinen Bruder auf diese Weise behandelt. Ihr wißt wohl, daß ihr ihn nicht so hättet behandeln dürfen, wenn die Anderen hier gewesen wären, ihr unverschämtes Volk.
– Pfui! Mortimer, sagte Hamilton ruhig, indem er sich ihm näherte, und nicht ohne Mühe auf die Seite zog. – Was gibt's denn, Mortimer?
– Was es gibt? Man hat meinen Bruder mit aller Gewalt am Lernen seiner Aufgabe verhindern wollen, und das wollte ich nicht haben, er hat diese Dummheiten nur zu lange und zu geduldig ertragen.
– Und deßwegen beträgst du dich wie ein Gassenjunge? erwiederte ihm Hamilton.
– Ich hab' mein Buch wieder gefunden, Reginald, sagte Louis, indem er seinen Bruder sanft beim Arm nahm.
Reginald warf einen zornigen Blick auf Ferrer; da er aber keine Beweise gegen ihn hatte, so schwieg er still und blieb den ganzen Abend ruhig an seinem Platz, bewacht von Hamilton und Trevannion. Die Arbeiten wurden nun allgemein in aller Ruhe fortgesetzt; nur Louis war durch das Ungewohnte dieser Scene zu sehr aufgeregt worden, als daß er auch wieder hätte arbeiten können und als um neun Uhr der Doktor zum Abendgebete erschien, hatte er kaum Eine Aufgabe für den folgenden Tag fertig.