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Die erste Woche des neuen Schuljahres war vorbei, und die Zöglinge von Ashfield hatten sich wieder ernstlich an ihre Pflichten gemacht, indem sie für vernünftig hielten, anzunehmen, was einmal nicht zu ändern war. Die Beziehungen des Louis zu seinen Lehrern und Mitzöglingen waren jetzt so verschieden von denen im letzten Halbjahre, daß ihm die Liebe, welche ihm von allen Seiten entgegen kam, fast zu viel war. Er war sichtlich des Doktors Liebling; aber niemanden fiel es ein, deßhalb neidisch zu werden; denn Louis blieb immer sanft und bescheiden und genoß nie eine Freude oder ein Vergnügen für sich allein. Vor allen liebte ihn Hamilton, durch welchen er Zutritt bekam zu allen Gesellschaften der ältern Zöglinge. Er ging mit ihnen spazieren, spielte und arbeitete mit ihnen. Sein Platz war jeden Abend bei Hamilton, der gleichsam sein Lehrer und Beschützer war und alles Mögliche aufbot, seinem Schützling den ersten Platz in seiner Klasse zu verschaffen.
Eines Abends, als die Zöglinge der obern Klassen unter Hamilton's und Trevannion's Aufsicht an ihrer Arbeit saßen, öffnete sich leise die Thüre, und herein trat mit einer Miene, wie sie demjenigen eigen ist, der noch nicht weiß, wie man ihn empfangen wird – ihr Kamerad Ferrer. Im Saale herrschte beziehungsweise Stille; diese darf jedoch nicht als eine absolute genommen werden, denn es war immer noch Lärm genug. Ferrer's Hereintreten wurde nicht bemerkt. Hamilton war mit Schreiben beschäftigt, und zu gleicher Zeit ermahnte er Louis, nicht auf Salisbury zu hören, der eine interessante Geschichte erzählte, die einen neuen Zögling betraf, welcher aus einer benachbarten Schule gekommen war. Dieser neue Zögling war ein listiger, verschlagener Mensch von beschränkten Anlagen, der Louis' schwache Seiten schon entdeckt hatte. Er war die Ursache, daß Hamilton seinem jungen Freunde schon einige ernste Verweise hatte geben müssen, daß er andern helfe, ehe er mit seinen eigenen Aufgaben fertig sei.
Ferrer war unterdessen am obern Ende des Tisches angelangt, ehe jemand seiner gewahr wurde, als Trevannion, der eben aufschaute und die Feder in die Tinte tauchen wollte, ihn erblickte. Er, den sonst nicht leicht etwas aus der Fassung brachte, fühlte sich überrascht. Eine Röthe überflog sein Gesicht, während er mit der größten Kaltblütigkeit und Gleichgültigkeit sein »Guten Abend« sagte und sich dann sogleich wieder an's Schreiben machte. Indessen hatten seine Bewegungen die Aufmerksamkeit seiner Nachbarn erregt, und mit Blitzesschnelle durchlief die Nachricht alle Bänke: »Ferrer ist angekommen.« Die jungen Leute sahen einander stillschweigend an, als wollten sie sich gegenseitig fragen, ob sie ihn begrüßen sollen oder nicht. Diese stillschweigende Kundgebung der Gesinnung, welche die Gesellschaft erfüllte, war für unsern armen Ferrer nicht sehr ermuthigend. Er that jedoch, als ob er nichts bemerkte, und suchte mit seinen Blicken einen Platz zu entdecken, wo er seine mitgebrachten Bücher ablegen könnte. Die plötzlich eingetretene Stille bewirkte, daß die feierliche Stimme Hamilton's in auffallender Weise vernommen wurde. Derselbe sprach nämlich seinem Schützling Louis gerade sehr ernst über den Nutzen der Behaglichkeit und über die Nachtheile der Schwächen des Charakters. Der Klang seiner Stimme stand in so auffallendem Gegensatze zu seiner gewöhnlichen Art, sich auszudrücken, daß sich aller Augen von Ferrer ab- und ihm zuwandten.
– Welche hinreißende Beredtsamkeit! rief Frank, der die Worte Hamiltons mit den Grimassen und Handbewegungen eines Redners begleitete, während Trevannion seinem Freunde neugierig und verwundert in's Gesicht gaffte. – Seine Majestät ist heut' Abend begeistert; welcher Strom von lieblichen, zierlichen, überzeugenden, ernsten, honigsüßen Worten, die von seinen Lippen fließen!
– Ein Vivat auf die Rede Seiner Majestät! schrie Salisbury. Und ein donnerndes Gelächter und Händeklatschen folgte diesem Vorschlag.
Hamilton lachte selbst aus vollem Halse mit, obgleich er nicht recht wußte, warum man lache.
– Es scheint, daß Ihre Majestät die Redekunst studirt haben, seit wir das Vergnügen hatten, Sie zum letztenmal zu hören, sagte Reginald, nachdem der Tumult sich endlich gelegt hatte. Der Götterbote Merkurius würde es nicht besser gemacht haben.
– Wenn man bedenkt, sagte Smith, daß die Reden Eduard's des Großen gewöhnlich ganz außerordentlich spartanisch sind, so muß man sich nicht verwundern, wenn uns dieses Meisterstück so überrascht hat.
– Ihr versteht alle mit einander nichts von Seiner Majestät merkwürdigen Eigenschaften, sagte Frank.
Louis hatte die schlimme Gewohnheit, beständig mit den Augen sein Buch oder Heft zu verlassen und herum zu wandern; er bemerkte deßhalb in diesem Augenblick den auf einer entfernten Bank sitzenden Ferrer. Augenblicklich flog er zu ihm hin, um ihn zu begrüßen.
Hamilton folgte ihm mit seinen Blicken und wurde bis über die Ohren roth; aber ehe Ferrer Zeit hatte, die von Louis an ihn gerichteten Fragen zu beantworten, erhob sich Hamilton, ging auf Ferrer zu und reichte ihm die Hand.
– Wie geht's, Ferrer? sagte er in heiterm Tone zu ihm; ich sah dich nicht, als du kamst. Bist du schon lange da?
Ferrer ergriff Hamilton's Hand und sah ihn mit einer Miene an, in der zugleich Ueberraschung und Dankbarkeit zu lesen war. Eine neue Stille trat ein; aller Augen waren auf Hamilton gerichtet. Dieser bemerkte deutlich, daß Ferrer in großer Verlegenheit und daher außer Stand war, etwas zu antworten; er wartete daher nicht auf seine Antwort, sondern fuhr fort:
– Du bist diesmal sehr spät gekommen; wir haben dich alle Tage erwartet. – Dann setzte er sich zu ihm und fing an, über allerlei Neuigkeiten, die in der Schule vorgefallen waren, mit ihm zu sprechen; er sagte ihm, wie weit die erste Klasse schon gekommen sei, und fragte ihn, was er auf seiner Reise gesehen habe, und das alles so aufrichtig und zutraulich, daß man wohl fühlte, es sei nichts Erzwungenes. Dem armen Ferrer thaten diese Worte ungemein wohl.
– Seine Majestät will uns mit einem guten Beispiel voran gehen und die Ermahnung des Magisters befolgen, murmelte Frank unwillig.
– Hamilton ist sein eigener Herr, er kann thun, wie er will, versetzte ein anderer; aber ich werde mich hüten, seinem Kopfe zu folgen; wir sind dazu gar nicht verpflichtet.
– Trevannion wird es ihm gewiß nicht nachmachen, ihr werdet sehen, bemerkte Peters.
– Willst du so gut sein und mir dein Wörterbuch leihen, Salisbury? sagte Trevannion, der nun, seitdem er diesen freundlichen Empfang Ferrer's bei Hamilton gesehen hatte, eine stolzere Haltung annahm als gewöhnlich; dann ging er an Ferrer vorbei, um das genannte Buch zu holen, und that, als ob niemand da wäre. Ferrer wollte ihm helfen; aber diese Höflichkeit wurde von Seiten Trevannion's mit stolzer Miene abgewiesen. Louis bemerkte, daß Hamilton das sah, aber weiter nicht beachtete, sondern fortfuhr mit Ferrer zu sprechen, bis er ihm endlich in einem wohlwollenden, heitern Tone sagte, daß er nun genöthigt sei, wieder an seine Arbeit zu gehen. Reginald wollte zuerst Trevannion's Beispiel folgen; aber der traurige Ausdruck in Ferrer's Gesicht rührte ihn, und er ging zu ihm hin und begrüßte ihn herzlich. Wenn sich alle so benommen hätten wie Trevannion und seine Gesinnungsgenossen, so wäre Ferrer wahrscheinlich gleichgültig und trotzig geworden; nun aber rief die Liebe und Aufmerksamkeit der Bessergesinnten ein Gefühl der Dankbarkeit und Bescheidenheit in ihm hervor, und dieses Gefühl war in diesem Augenblick so vorherrschend und überwältigend, daß er es nicht länger aushalten konnte und sich in den Garten hinaus begab. Kaum war die Thüre hinter ihm geschlossen, als seine Feinde in einem wahren Sturm Hamilton angriffen.
– Seiner königlichen Majestät Huld ist würdig zu nehmen Lob und Ehre, Allerdurchlauchtigster Eduard der Große, sagte Frank Digby.
– Das ist deiner würdig, Hamilton, sagte Trevannion mit Unwillen. Ferrer ist ein sauberer Geselle für die Gesellschaft ehrlicher Gentlemen.
– Da ich mein Betragen nicht mit dem eurigen vergleichen will, versetzte Hamilton kalt, so habe ich keine solche Furcht vor der Ansteckung wie ihr.
– Das ist auf dich gemünzt, Trevannion, sagte Smith; du hast einen dummen Streich gemacht mit deinem Wörterbuch.
– Du hättest besser gethan, bei der alten Frau in dem Häuschen oberhalb des Weges Extra-Stunden in den feinen Sitten und Manieren zu nehmen; sie fordert nur zwei Groschen für die Stunde.
– Das ist ein guter Einfall, sagte Trevannion lachend. Willst du das Schulgeld für mich zahlen, Hamilton?
– O ja, sehr gerne! versetzte Hamilton in einem tiefen Baßton.
– Ich bin dir sehr verbunden, erwiederte Trevannion erröthend, besonders für die Sorgfalt, die der Freund des Herrn Ferrer für mich hat.
– Wie es dir beliebt, Trevannion, sagte Hamilton; ich sehe, es ist besser, daß ich heraus sage, was ich denke. – Wir sind der Ermahnung des Doktors noch nicht alle nachgekommen.
– Wie hätten wir das gekonnt? – Ist so etwas möglich? – Nein, gewiß nicht! – Danke schön! – schrie man von allen Seiten.
– Hört mich doch nur an, bis ich fertig bin, fuhr Hamilton fort; ich werde euch keine lange Predigt halten.
– Zwei Predigten an einem Abend! bemerkte Jones; ein solches Glück ist uns noch nie zu Theil geworden.
Hamilton achtete nicht auf alle diese Bemerkungen, sondern benutzte den Augenblick der Stille, um fortzufahren.
– Wir haben diese Geschichte jetzt weit genug getrieben, sagte er; es wäre eine Schmach für uns, wenn wir dieses unwürdige Betragen fortsetzen wollten. Ich für meine Person muß gestehen, daß ich gegen den armen Ferrer denselben Widerwillen empfunden habe wie ihr; aber laßt uns erstens bedenken, daß wir hier Herrn Wilkinson's Zöglinge sind und also die Pflicht haben, seinen Wünschen Rechnung zu tragen, ob sie dann mit den unsrigen übereinstimmen oder nicht; zweitens, ob es recht und christlich ist, einen unserer Kameraden aus unserer Gesellschaft auszustoßen, damit er der Mittel beraubt werde, sich zu bessern. Stellen wir uns an seinen Platz!
– Ja, es ist eine herrliche Lage, sehr verführerisch in der That; ich muß gestehen, daß meine Imagination nicht stark genug ist, mich dahin zu versetzen, sagte Trevannion.
– Es ist eine sehr unangenehme Lage, ich weiß es, versetzte Hamilton; aber gerade darum sollen wir ihm helfen, damit er aus derselben heraus komme. Ich bin überzeugt, wenn wir uns in derselben Lage befänden, wir würden weit davon entfernt sein, uns aufzugeben und uns für unverbesserlich zu halten. Ebenso ist auch Ferrer deswegen noch nicht unverbesserlich, weil er diesen Fehler begangen hat. Hüten wir uns, ihn wegzuwerfen. Er ist diesen Abend ganz beschämt, daß nicht alle so unvernünftig gewesen sind, wie er es erwartet hatte.
– Und wie er gewesen wäre, sagte Meredith; er wäre nicht so nachsichtsvoll gewesen wie wir; das könnt ihr glauben.
– Das ändert nichts an der Sache, erwiderte Hamilton; deswegen sind wir unserer Pflicht nicht enthoben. Erleichtern wir ihm seine Besserung! Wenn er sich noch ein einziges Mal eines ähnlichen Fehlers schuldig macht, so verspreche ich euch, daß ich alsdann kein Wort mehr zu seinen Gunsten sagen werde.
Eine Todtenstille folgte diesen Worten Hamilton's. Seine Berufung auf das Gefühl seiner Kameraden hatte um so mehr Wirkung, da man wußte, wie wenig Gewicht er auf Dinge legte, die nicht gerade seine Person angingen, und daß er die Sachen sein ließ, wie sie waren.
– Wenn wir ihm Gelegenheit gäben, seine Fehler zu bereuen, antwortete Trevannion, der von allen der einzige war, welcher fest auf seiner Ansicht beharrte, so würden wir uns eine große Blöße geben. Als ehrliche Leute und Gentlemen können wir keinen in unsere Gesellschaft aufnehmen, der sich in einem solchen Grade weggeworfen hat. Wenn wir ihm erlauben wollten, sich als Unsersgleichen zu betrachten, so müßten wir uns ja zu ihm herabwürdigen. Und ich möchte wissen, wodurch wir ihn denn hindern, sich zu bessern. Wenn er einmal so weit sein wird, so ist's dann noch früh genug, darüber zu berathen, ob wir ihn wieder in unsere Gesellschaft aufnehmen wollen. Nach meiner Meinung ist ihm schon dadurch, daß ihm der Doktor erlaubt hat, wieder in die Anstalt zurückzukehren, mehr Ehre widerfahren, als er verdient.
Ich werde nichts mehr sagen, versetzte Hamilton. Es kommt nicht oft vor, daß ich etwas von euch verlange.
– Louis möchte gerne etwas sagen, rief Salisbury, welcher während Hamilton's Rede den bedeutungsvollen Ausdruck in des Knaben Gesicht beobachtet hatte. Es scheint mir, wir sollten seinen Rath einholen.
– Ich? o, ich habe gerade denselben Wunsch, wie Hamilton – das ist schon lange mein Wunsch, ihr wißt es ja.
– Wir wollen alles thun, was Louis uns befiehlt, rief Jones; wir werden ihm nichts verweigern.
– Besonders in dieser Angelegenheit, versetzte Salisbury. Louis soll unser Anführer sein und Seine Majestät. Ich stelle mich unter deine Fahne, Louis.
– Und ich verspreche, daß ich dem Schuldigen meine äußerliche Vergebung ertheilen will, sagte Frank; und mehrere andere sprachen denselben Entschluß aus. Hamilton drückte ihnen durch seine Blicke seine Zufriedenheit aus. Trevannion griff mit finsterer Miene wieder zu seiner Arbeit, und Louis stahl sich aus dem Zimmer und begab sich zu Casson, dem er versprochen hatte, ihm bei seiner Aufgabe behülflich zu sein.
Als der Doktor dieses Betragen der Zöglinge gegen Ferrer bemerkte, freute er sich über das Resultat seiner Bemühungen. Er wußte freilich nicht, auf welchem Wege diese Höflichkeit zu Stande gekommen war. – Die jungen Leser haben nun die Gesellschaft in der Anstalt des Doktors Wilkinson zu Ashfield hinlänglich als eine solche kennen gelernt, die, wenn sie auch allerlei Fehler hatte, doch großmüthig und edelgesinnt genug war, um ihr Versprechen hinsichtlich des Betragens gegen Ferrer zu erfüllen; und es währte gar nicht lange, so stand derselbe wieder in seinen frühern freundschaftlichen Verhältnissen zur großen Freude des Doktors.