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Am andern Morgen hielt der Doktor Reginald in dem Augenblick zurück, wo derselbe sich mit seinen Kameraden zum Frühstück begeben wollte und nahm ihn mit sich in das Schulzimmer, woselbst er, nachdem er die Thüre verschlossen, sich niedersetzte und Reginald zu sich her kommen hieß.
– Ich will nun wissen, Mortimer, wie diese unglückliche Geschichte zugegangen ist. Wie ich höre, kann dein Angriff auf deinen Vetter durch nichts gerechtfertigt werden und du hast dich ihm gegenüber auf eine sehr unwürdige Weise benommen. Da man aber niemanden ungehört verurtheilen soll, so will ich vernehmen, was du anzubringen hast, um dein brutales Betragen zu rechtfertigen.
Reginald erröthete und der durchdringende Blick des Doktors zwang ihn, seine Augen niederzuschlagen. Er schwieg.
– Soll ich aus deinem Stillschweigen schließen, daß du keine Entschuldigung hast? fragte der Doktor mit einem Tone, in welchem sich Betrübniß und Unwillen zugleich vernehmen ließ. Soll ich glauben, daß die Ursache dieser wilden Zornesaufwallung ein paar elende Späße gewesen sind, die sich dein Vetter nach seiner gewöhnlichen Manier erlaubt haben mag und wodurch du dich hast hinreißen lassen, sein Leben in solche Gefahr zu bringen?
– Mein Vetter hat mich auf alle Weise gereizt, antwortete Reginald in einem mürrischen Ton.
– Und worin sollte dieses Reizen bestanden haben? versetzte der Doktor. Wenn das Unrecht auf Digby's Seite ist, warum zögerst du denn, es mir zu sagen?
Reginald schwieg auf's Neue und der Doktor fuhr fort:
– So lange du mir nicht eine Ursache angibst, so lange muß ich bei meiner Meinung verharren, daß du deiner heftigen Leidenschaft freien Lauf gelassen hast, ohne eine erhebliche Ursache. Du sagst, er habe dich »gereizt,« das will nichts heißen. Ich kenne Digby; wenn du das reizen nennst, so ist wohl niemand, den er nicht schon gereizt hat. Er hat einmal diese Schwachheit, die Leute durch seine Späße zu necken. Ich will ihn nicht entschuldigen, wenn du aber nicht mehr so viel vertragen kannst, wie willst du denn in dieser Welt durchkommen? Du bist kein Kind mehr, aber dießmal hast du dich nicht wie ein vernünftiger Mensch betragen, sondern wie ein wildes Thier. Zwar möcht' ich gern glauben, es müsse etwas Besonderes vorgefallen sein, um einen solchen Wuthausbruch bei dir hervorzurufen; denn schon seit einiger Zeit hatte ich Ursache zu hoffen, daß du dir alle Mühe gebest, deine Leidenschaft zu überwinden.
– Ich versichere Ihnen, Herr Wilkinson, sagte Reginald, indem er seinen Lehrer mit jenem ihm eigenen offenen und ehrlichen Blick ansah, ich versichere Ihnen, ich habe den Frank lange ertragen, und ich hätte ihn noch länger ertragen können, wenn er nicht so viel Böses gesagt hätte von … von …
Das Wort wollte nicht über Reginalds Lippen. Der Unwille über das seinem Bruder zugefügte Unrecht verhinderte ihn, seinen Satz zu vollenden.
– Von wem? fragte der Doktor.
– Von meinem Bruder, erwiederte Reginald barsch.
– Und was hat er über deinen Bruder gesagt, daß dein Zorn so entbrannte?
Reginalden stieg das Blut in den Kopf und seine Augen funkelten. Er antwortete nicht auf der Stelle, als aber sein Lehrer darauf wartete, brach er also aus:
– Den ganzen Nachmittag hat er den Louis gequält; er hat meinen Zorn zu reizen gesucht; er sagte so viel Böses als er konnte. Das war mehr als man hinnehmen kann. – Ich habe lange geschwiegen.
– Ja, du hast einen Beweis abgelegt, wie du Beleidigungen ertragen kannst, sagte der Doktor.
– Ich bitte Sie um Verzeihung, Herr Wilkinson, aber ich konnte nicht anders – noch jetzt empört es mich, wenn ich daran denke, so daß ich fürchte, ich würde ihn noch einmal durchprügeln, wenn er seine boshaften Reden wieder anfinge.
– Pfui doch, Mortimer, sagte der Doktor in einem ernsten Ton, ich denke, du hast gestern eine Lektion bekommen, die du nicht so leicht vergessen wirst. Ich will wissen, was er über deinen Bruder gesagt hat, daß du so aufgebracht wurdest; ich will's durchaus wissen.
– Er hat gesagt, Louis sei … er sage nicht die Wahrheit; und er hat gesagt, daß ich es wisse … daß ich es glaube – das Schluchzen erstickte Reginald's Stimme.
– Was wissen und glauben? fragte der Doktor.
– Etwas, was gestern geschehen ist, erwiederte Reginald. Er hat gesagt, Louis sei ein Heuchler, und er hat ihm immer den letzten Sommer vorgehalten …
– Den letzten Sommer! wiederholte der Doktor.
– Ja, Herr Wilkinson – einen Irrthum, ein Versehen. Niemand hat Mitleiden mit Louis; niemand nimmt ihn in Schutz. Ich hätte noch alles ertragen können, wenn er nur nicht so unverschämt gewesen wäre, mir zu sagen, daß ich wohl wisse, wie Louis ein Lügner sei. Jeder, der mir so etwas sagt, soll meine Fäuste zu fühlen kriegen. Ich habe ihn mehr als einmal gebeten, zu schweigen und mich nicht zu reizen; aber er hat nicht auf mich gehört – und er kennt mich doch.
– Genug, genug! unterbrach ihn der Doktor, ich will jetzt nichts mehr vom Prügeln hören. Deine Leidenschaft vermehrt noch die Strafbarkeit deines Fehlers. Gerne geb' ich zu, daß dein Vetter nicht recht gegen dich gehandelt hat; aber das entschuldigt die Ausbrüche deines Zornes nicht. Bedenke, in welcher Lage du dich jetzt befändest, wenn das Leben deines Vetters bedroht wäre. Es würde dir wenig Trost gewähren, zu behaupten, daß er zuerst unrecht gehabt habe. Dein ganzes Leben wäre verbittert – und das in Folge eines einzigen unbewachten Augenblickes. Danke Gott, Mortimer, daß er dir diese furchtbare Strafe erspart hat. Aber du bist noch immer in Gefahr, so lange du deinen heftigen Charakter nicht bezähmest. Dieselbe Leidenschaft, die dich gegen deinen Vetter in Wuth gebracht hat, wird dich später hinreißen, jedermann aufs Duell heraus zu fordern. Das ist eine ganz falsche Vorstellung von Tapferkeit und Ehre, die dich zu solcher Vergeltung des Unrechts antreibt. In dem Leben Dessen, der unser einziges Vorbild ist, sehen wir nichts von solcher Ungeduld, er schalt nicht wieder, da er gescholten ward (1. Petri 2, 23.); und wenn er, der Herr, solche Schmähungen und solchen Widerspruch der Sünder gegen sich erduldete: sollten denn wir nicht auch von unsern Mitmenschen etwas ertragen können? Ach, mein Sohn, wenn wir nicht ein wenig des Tages Last und Hitze tragen, so verdienen wir den herrlichen Namen Nachfolger Christi nicht.
– Es thut mir sehr leid, sagte Reginald, der durch die ernste und liebenswürdige Sprache seines Lehrers beruhigt war, es thut mir sehr leid, daß ich so leidenschaftlich gewesen bin, ich habe Unrecht gethan; aber ich wage nicht, für die Zukunft Versprechungen zu machen, ich könnte sie vielleicht doch nicht halten; ich hoffe jedoch, daß ich mit Gottes Hülfe Ihre liebevollen Ermahnungen nie vergessen werde.
– Mit Gottes Hülfe können wir alles ausrichten, sagte der Doktor; mit seiner Hülfe kannst du die Heftigkeit deines Charakters, diesen Stein des Anstoßes, entfernen, ehe derselbe sich dir so in den Weg legt, daß er dich verhindert, das ewige Leben zu ergreifen. Erinnere dich, was die Schrift sagt: »Ein Geduldiger, ist besser, denn ein Starker, und der seines Muthes Herr ist, denn der Städte gewinnt.«
Darauf folgte eine ziemliche Pause; dann fragte Reginald den Doktor um die Erlaubniß, Frank bis zu seiner Wiedergenesung verpflegen zu dürfen.
– Aber darf ich hoffen, daß du auch genug Geduld haben wirst? sagte der Doktor; bedenke, daß er krank ist, und daher oft ungeduldig und bei schlechter Laune sein wird – und daß du die Ursache davon bist.
– Ich will versuchen, Herr Wilkinson, sagte Reginald, indem er die Augen niederschlug; ich will mein Möglichstes thun, um geduldig zu sein.
– Nun, dann will ich dir erlauben, zu deinem Vetter zu gehen; aber ich warne dich, Mortimer; ein zweites Mal folgt eine andere Strafe. Ich hoffe, daß du die erhaltene Lehre zu Herzen nimmst; wo aber nicht, so werde ich aufhören, dich als einen vernünftigen Menschen zu betrachten und zu behandeln.
Der Doktor erhob sich und verließ das Zimmer. Reginald blieb noch einige Augenblicke, ehe er sich zu seinen Kameraden verfügte. Sein Herz war schwer, und die väterliche Liebe, mit welcher ihn der Vorsteher behandelte, hatte einen tiefem Eindruck auf ihn gemacht, als wenn er bestraft worden wäre.
Dem armen Louis wollte dießmal das Frühstück nicht schmecken und die Freistunde war für ihn keine Erholung. Die Ungewißheit, welchen Ausgang die Geschichte mit dem Buch noch nehmen würde, lastete schwer auf seinem Herzen.
Reginald begab sich nach dem Frühstücke zu Frank, den er in einem düstern Zimmer fand. Derselbe war schlecht gelaunt und ungeduldig. Er hatte keine gute Nacht gehabt, sondern schrecklich gelitten. Er empfing seinen Vetter mit einer mürrischen Miene und warf ihm allerlei bittere und beleidigende Bemerkungen hin, die Reginald mit Sanftmuth ertrug. Während der ganzen Zeit seiner Krankheit opferte Reginald alle seine freien Stunden für ihn, und diese Geduldschule, welche ihm Frank nicht sehr erleichterte, war ihm außerordentlich heilsam.
Herr Danby befand sich in seiner zweiten Klasse, als ein Zögling der ersten Klasse ins Zimmer trat und ihm ein Billet überreichte. Herr Danby überflog dasselbe und als die Stunde beendigt war, gab er Louis den Befehl, sich zum Doktor zu verfügen. Louis wurde blaß und roth; aber er gehorchte, ohne ein Wort zu sagen. Sein Herz entfiel ihm, als er in das Zimmer trat, wo sich der Doktor mit der ersten Klasse befand. Der scharfe Blick des Doktor entdeckte den Jungen sogleich, aber er nahm gar keine Notiz von ihm, bis er seine Unterrichtsstunde geschlossen hatte. Während nun die Zöglinge die gebrauchten Bücher an ihre Plätze stellten, kehrte er sich gegen Louis und deutete auf einen Tisch, der neben ihm stand: – da ist ein Buch, Louis Mortimer, mit dem du, glaub' ich, Bekanntschaft gemacht hast.
Louis kam bis zum Tisch hervor und erblickte den Schlüssel zu Kenrick's griechischen Exercizien.
– Nicht wahr, du kennst das Buch? sagte der Doktor.
– Ja, Herr Wilkinson, aber ich hab' es nicht gebraucht, sagte Louis.
– Aber du wirst doch nicht leugnen wollen, daß man es im Schulzimmer unter deinen Büchern gefunden hat? sagte der Doktor.
– Ich weiß, Herr Wilkinson, daß Herr Witworth es daselbst gefunden hat, aber ich versichere Ihnen, ich habe es nicht dorthin gelegt, antwortete Louis in einem sanften Ton.
– Hast du es gar nie gebraucht?
– Nie, Herr Wilkinson, sagte Louis in einem festen Ton.
In diesem Augenblick begegneten seine Blicke denen des Hamilton, der an der Seite des Doktors still gestanden war, um das Resultat der Untersuchung abzuwarten, und der ihn mit einer ungläubigen verachtenden Miene ansah. Es fiel dem Louis ein, daß jener das Buch wirklich einmal bei ihm gesehen, als Churchill es ihm zugeschoben hatte und in seiner Hast rief er aus:
– Ich versichere dir, Hamilton, ich habe es nicht gebraucht.
– Was soll das bedeuten, Hamilton? sagte der Doktor sich umwendend, weißt du etwas von der Geschichte?
– Ich möchte Sie bitten, Herr Doktor, sagte Hamilton in einem trockenen Tone, mir die Antwort zu erlassen.
– Nein, ich kann das nicht erlauben, du mußt mir sagen, was das zu bedeuten hat.
– Aber ich weiß nichts Gewisses von der Sache, und ich möchte nicht, daß Sie auf meine bloße Vermuthung hin Louis Mortimer falsch beurtheilen würden. Nein, es ist mir nicht möglich, etwas zu sagen. Damit wandte er sich um, ein wenig empfindlich darüber, daß sein Lehrer ihn in die Sache hineingezogen hatte.
Doktor Wilkinson war in Verlegenheit. Er blieb einen Augenblick nachdenkend, die Blicke auf den Tisch geheftet, stehen, da wagte Louis endlich zu sagen:
– Hamilton sah einmal ein Buch unter meinen andern Büchern, aber ich habe es nie gebraucht.
– Was soll das bedeuten, sah ein Buch? fragte der Doktor, was war das für ein Buch?
– Es waren Kenrick's griechische Exercizien.
– Der Schlüssel, willst du sagen?
Louis bejahte es.
– Welcher war es? sagte der Doktor, dessen Ausdruck immer ernster wurde.
– Derjenige, den Sie einst dem Harrison weggenommen haben, sagte Louis.
– Hm … ich glaubte, ich hätte ihn weggenommen. Bring mir ihn her. – Louis gehorchte; der Doktor sah das Buch einen Augenblick an und fuhr dann fort: Und dieses Buch befand sich unter deinen Büchern, sagst du? Wie kam es dahin?
– Einer von den Knaben hat es mir gegeben, versetzte Louis.
– Und du hast ihn nicht damit zurück gewiesen?
– Doch, Herr Doktor. – Und Louis wurde roth. – Ich habe es nicht gebraucht.
– Wer hat dir dieses Buch gebracht?
– Salisbury, rufe mir einmal den Churchill, sagte der Doktor.
Salisbury gehorchte, und während seiner Abwesenheit herrschte im Zimmer die tiefste Stille. Die ganze erste Klasse war neugierig, welchen Ausgang die Sache nehmen würde. Der Doktor stand in Gedanken vertieft und Louis betrachtete mit ängstlicher Aufmerksamkeit die Physiognomie seines Lehrers und diejenige des Hamilton und Trevannion. Hamilton blickte ihn nicht an, sondern er stützte sich auf den Tisch und blätterte ungeduldig und hastig in einem Buche, während Trevannion, sich hinter des Doktors Rücken an die Wand lehnend, stolze und Verachtung ausdrückende Blicke auf Louis warf, in denen der arme Junge sein Verdammungsurtheil las.
Endlich erschien Salisbury mit Churchill. Der letztere war von so untergeordneter Bedeutung in der Anstalt, daß er mit dem Doktor selten etwas zu schaffen hatte; um so größer war daher seine Bestürzung, als er jetzt plötzlich vor ihn gefordert wurde.
– Churchill, redete ihn der Doktor in einem ernsten Tone an, ich habe dich kommen lassen, damit du hörest, wessen man dich beschuldigt. Also, Louis Mortimer, wer hat dir damals das Buch gegeben, ehe Hamilton es bei dir liegen sah?
– Churchill, Herr Doktor, antwortete Louis heftig bewegt. Du hast mir's gegeben Churchill, weißt du nicht mehr, besinn' dich nur.
– Still! sagte der Doktor. Was hast du darauf zu erwiedern, Churchill?
– Nichts, Herr Doktor. Ja es ist wahr, ich habe es ihm gegeben, stotterte Churchill.
– Und warum hast du es ihm gegeben?
Churchill gab keine Antwort, bis der Doktor seine Frage wiederholt hatte; dann sagte er, daß er es dem Louis gegeben hätte, um ihm seine Aufgabe zu erleichtern.
– Hat dich Louis darum gebeten?
– Nein, mein Herr.
– Wünschte er es zu haben?
– Nein, Herr Doktor, so viel ich weiß, nicht.
– Weißt du noch, Henry, ich habe dich gebeten, du möchtest es wegnehmen, weißt du nicht mehr? sagte Louis.
– Ich weiß nicht … doch … ich glaube, ja, sagte Churchill, der ganz roth wurde.
– Warum hast du es nicht wieder weggenommen? fragte der Doktor.
– Weil ich dachte, er würde sehr froh darüber sein.
– Aber ich wünschte es gar nicht, Henry, ich habe es gar nicht verlangt, sagte Louis etwas ärgerlich.
– Still, Louis! sagte der Doktor und fuhr fort zu fragen.
– Hast du ihn bewegen wollen, Gebrauch davon zu machen?
Churchill antwortete nicht sogleich, aber endlich gestand er, wie er den Louis habe überreden wollen; und der Doktor ermangelte nicht, ihm eine derbe Zurechtweisung zu geben, so wie eine nicht unbedeutende Aufgabe, die er in den Freistunden machen sollte.
Churchill trat ab und der Doktor wandte sich auf's Neue an Louis.
– Es freut mich, sagte er zu ihm, daß du wenigstens hier die Wahrheit gesagt hast; aber ich bin noch nicht fertig, ich möchte jetzt noch gerne wissen, wie dieser Schlüssel gestern unter deine Bücher gekommen ist? Es muß ihn jemand aus meinem Zimmer genommen haben. Es scheint, du bist den ganzen Nachmittag allein im Schulzimmer gewesen, oder doch fast allein, und Herr Witworth hat ihn bei dir gefunden, während du deine Aufgaben machtest.
– Ich versichere Ihnen, Herr Doktor, ich habe ihn nicht genommen.
– Leider kann ich auf deine bloße Betheurung nicht gehen, sagte der Doktor. So lange so starke Beweise gegen dich obwalten, so kann ich dir unmöglich glauben, Louis. Ueberdieß weiß ich, sagte der Doktor leise zu ihm, so daß es niemand anders hören konnte, du hast's schon früher mit der Wahrheit nicht immer genau genommen, merk' dir das, Louis!
Die Zöglinge, die sich in dem Zimmer befanden, waren neugierig, den Grund zu wissen, warum Louis auf einmal so roth wurde und zu weinen anfing. Die herzlichen Worte seines Lehrers hatten ihn so gerührt, daß er nicht antworten konnte. Und der Doktor fuhr fort:
– Die einfache Entdeckung dieses Buches in deinen Händen wäre Grund genug, dich augenblicklich aus der zweiten Klasse fortzuschicken; aber die Betheurung deiner Unschuld bestimmt mich, die Sache von einem ernstern Gesichtspunkte aufzufassen. Es ist klar, daß jemand dieses Buch genommen hat, um es zu benutzen, und wenn du es nicht bist, so ist's ein Anderer gewesen. – Die Frage ist nur die, wer ist dieser Jemand?
– Ich nicht, Herr Doktor, sagte Louis halb verzweifelt.
– Aber wer denn? War jemand aus deiner Klasse bei dir im Zimmer?
– Nein, Herr Doktor.
– War sonst jemand im Zimmer?
Louis besann sich. Plötzlich fiel ihm ein, daß er gesehen hatte, wie eine Hand den Schlüssel unter seine Bücher schob. Er hatte in demselben Augenblick nicht darauf geachtet und es fiel ihm erst jetzt wieder ein. Er sah Ferrer an und sagte mit zitternder Stimme:
– Ich erinnere mich jetzt, Ferrer hat es hingeschoben – ich bin fast gewiß.
– Ferrer! schrie die ganze Gesellschaft, wie aus einem Munde.
– Was für ein Unsinn, sagte Salisbury leise für sich.
– Hörst du, Ferrer? sagte der Doktor. Wie kamst du dazu, dieses Buch unter Louis' Bücher zu legen?
– Ich? mein Herr, – ich … nie hab' ich … stotterte Ferrer; was sollte ich mit diesem Schlüssel thun? Ist das nur möglich?
– Es handelt sich jetzt nicht darum, ob es möglich oder unmöglich ist; ich möchte ganz einfach wissen, ob du es gethan hast.
– Ich, Herr Doktor? rief Ferrer mit der unschuldigsten Miene, ich hab' es nicht gethan. Wenn ich's gethan hätte, warum hat er mich nicht zuerst schon angeklagt, anstatt so lange nachzudenken.
– Weil ich mich erst jetzt daran erinnert habe, daß du etwas an meinen Büchern gemacht hast, und ich bin fast gewiß, es war das – antwortete Louis.
– Es wäre besser, wenn du ganz gewiß wärest, erwiederte ihm Ferrer.
Der Doktor heftete seine Augen bald auf den Einen, bald auf den Andern, und sein durchdringender Blick hätte jeden Andern wankend gemacht; aber der verstockte Ferrer blieb auf seiner lügenhaften Behauptung.
– Hast du gestern Nachmittag zu gleicher Zeit deine Aufgaben gemacht, als Louis Mortimer im Zimmer war, Ferrer? Ferrer nickte bejahend, und der Doktor ließ Herrn Witworth rufen. Als derselbe gekommen war, fragte er ihn, ob alle beide, Ferrer und Louis, in seinem Zimmer gewesen seien und was sie dort geholt haben. Herr Witworth sagte, daß beide dort gewesen seien; aber er wisse nicht, zu welchem Zwecke.
– Ich habe einen Atlas für Ferrer geholt, schrie Louis, heftig bewegt.
– O Louis, du weißt wohl, daß ich ihn selber geholt habe, sagte Ferrer.
Diese Frechheit war dem Louis zu stark; er bedeckte das Gesicht mit seinen Händen und fing an bitterlich zu weinen.
– Das ist eine traurige Geschichte, sagte der Doktor in einem sehr ernsten Tone, viel trauriger, als ich nur dachte. Einer von euch beiden hat also jetzt eine entsetzliche Lüge gesagt; welcher von beiden?
– Aber Herr Doktor, sagte jetzt Trevannion, was sollte Ferrer mit einem Schlüssel für die zweite Klasse machen? Es wäre denn, er hätte dem Louis einen Streich spielen wollen, was ich von Ferrer nimmer glauben kann.
– Bis jetzt habe ich Zutrauen gehabt zu Ferrer, erwiederte der Doktor, und so lange ich nicht gegründete Ursache habe, werde ich ihm dasselbe auch nicht entziehen. Ferrer, auf dein Ehrenwort, hast du mir die Wahrheit gesagt?
Ferrer wurde blaß; aber die Augen des Doktors und aller seiner Kameraden waren auf ihn geheftet, und er glaubte in denselben schon die Verachtung, oder gar die Strafe zu lesen, welche ihn treffen würde, wenn er die Wahrheit gestünde; da hielt ihn keine innere Macht zurück, auszusprechen:
– Ja, auf mein Ehrenwort, Herr Doktor, ich habe die Wahrheit gesagt.
– Dann muß ich dir glauben. Ich sehe nicht ein, warum du einem Kinde unrecht thun solltest. Wenn sich je einer meiner Zöglinge eine solche Gottlosigkeit erlaubte, so würde ich ihn augenblicklich aus dem Hause jagen.
Die feierliche Stille, welche auf diese Worte des Doktors folgte, durchschauerte denjenigen, der sich so eben einer solchen Gottlosigkeit schuldig gemacht hatte.
– Jetzt Louis, sagte der Doktor in einem festen und ernsten Tone, ich gebe dir noch einige Augenblicke Zeit, um dich zu besinnen und deinen Fehler einzugestehen.
Der arme Knabe antwortete nur durch Schluchzen und verzweifelnde Mienen, und nachdem der Doktor einige Augenblicke gewartet hatte, sagte er zu ihm: – Geh' auf mein Zimmer und warte dort, bis ich komme! Ich gebe dir eine halbe Stunde Zeit zum Nachdenken.
Louis ging hinaus und begab sich auf das Zimmer des Doktors, wo er eine Viertelstunde in einer Angst und Verzweiflung zubrachte, die man nicht beschreiben kann. – Er hat einen schwachen Charakter – der Doktor weiß die Geschichte vom letzten Jahre; Alle halten ihn für schuldig – wie sollte Ferrer so haben lügen können! – Wie soll die Sache an's Licht kommen! – Sein Vater und seine gute Mutter und sein Großpapa werden alles vernehmen und werden es glauben.
Aber allmälig wurde er ruhiger; denn er konnte sich im Gebet zu seinem himmlischen Vater erheben, und das erleichterte ihm die Last, welche auf seinem Herzen lag. Je ruhiger er wurde, desto deutlicher standen seine frühern Fehler vor seinen Augen, und dieses Leiden erschien ihm viel leichter als die Pein, die er empfinden würde, wenn er diesen Fehler wirklich begangen hätte. Er erinnerte sich an die Worte aus der ersten Epistel Petri 2, 20–23: »Denn was ist das für ein Ruhm, so ihr um Missethat willen Streiche leidet? Aber wenn ihr um Wohlthat willen leidet und erduldet, das ist Gnade bei Gott. Denn dazu seid ihr berufen. Sintemal auch Christus gelitten hat für uns, und uns ein Vorbild gelassen, daß ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen; welcher keine Sünde gethan hat, ist auch kein Betrug in seinem Munde erfunden worden; welcher nicht wieder schalt, da er gescholten ward, nicht drohete, da er litt; er stellete es aber dem heim, der da recht richtet.« Der Unwille, den er gegen Ferrer hatte, verwandelte sich in Mitleiden für ihn; denn Louis wußte aus Erfahrung, was ein beschwertes Gewissen sei. Während er solchen Gedanken und Empfindungen Raum gab, hörte er plötzlich die festen Tritte des Doktors, und beinahe in demselben Augenblicke ging die Thüre auf, und sein Lehrer trat herein. Der Ausdruck desselben war sehr streng, und vergebens suchte Louis in seinen Zügen einige Milde zu entdecken. Mit ernster Miene erinnerte ihn der Doktor, daß die halbe Stunde abgelaufen sei, und fragte ihn, ob er seinen Fehler gestehen wolle. Louis fuhr fort, in einem sanften Tone seine Unschuld zu betheuern. Allein diese Betheuerungen machten, daß der Doktor glaubte, er habe einen verhärteten Sünder vor sich, und nachdem er ihm in den allerernstesten Ausdrücken seine Gottlosigkeit und seine Feigheit vorgehalten hatte, züchtigte er ihn auf eine empfindliche Weise und schickte ihn augenblicklich in's Bett, obgleich es erst mitten am Tage war.
Obschon Louis sich große Mühe gegeben, sein Herz bessern Gefühlen zugänglich zu machen, so konnte er sich des Gedankens doch nicht erwehren, daß er ungerecht und hart bestraft worden sei. Er eilte schnell in sein Schlafzimmer, froh, mit seinem Kummer allein zu sein. In seiner großen Betrübniß erinnerte er sich gern an ein Lied, das er zu Hause gelernt hatte:
Die schwachen Schäflein, treuer Hirt,
Führst du an deiner Hand,
Damit sich kein's von dir verirrt,
Bis in das Vaterland.
Ich bin noch jung, und o wie oft
Hab' ich dich schon betrübt!
Vergib dem Kind, das auf dich hofft,
Und das dich dennoch liebt.
Wie liebst du mich, Herr Jesu Christ!
Aus Liebe schlägst du mich;
Laß mich, dir folgen williglich,
Nicht murren wider dich!
Ich schäme mich, du lieber Herr,
Daß ich so böse bin,
Daß ich nicht leb' zu deiner Ehr';
Ach, nimm mein Herz dir hin!
Endlich verfiel er in einen tiefen Schlaf, der bis an den Morgen dauerte. Da kündigte ihm der Doktor eine neue noch ärgere Strafe an, indem er ihm verbot, in den Freistunden auszugehen und überhaupt mit seinen Kameraden zu reden. Als er einige Zeit allein im Arbeitszimmer gesessen hatte, trat der Doktor mit einem Brief in der Hand herein und setzte sich an das entgegengesetzte Ende des Tisches.
– Ich habe eine sehr unangenehme Aufgabe zu erfüllen, sagte er, indem er sein Schreibpult öffnete. Ich habe soeben einen Brief von deinem Vater erhalten, worin er mich bittet, ihm einen genauen Bericht über euch beide einzuschicken. Du weißt, Louis, welch' unglückliche Botschaft ich ihm zu übermachen habe.
Louis hörte dem Doktor stillschweigend zu; aber kaum hatte dieser geendigt, so überließ er sich einem solchen Schmerz, daß selbst der Doktor davon gerührt wurde. Er weinte bitterlich und flehte dann den Doktor inniglich an, er möchte doch seinem Vater nichts schreiben von dem, was geschehen sei; – »es wird der Mama das Herz brechen, – es wird der Mama das Herz brechen; Herr Doktor, ich bitte Sie, schreiben Sie's meinem Vater nicht!
– Gestehe deinen Fehler ein, Louis, so kann ich ihm doch wenigstens diesen Fortschritt zu deiner Besserung melden, sagte der Doktor.
– Ich kann nicht, ich versichere Ihnen, Herr Doktor, ich kann nicht. Es wird sich alles nach und nach aufklären; Sie werden sehen, schluchzte der arme Louis, welcher die immer finsterer werdende Miene des Doktors beobachtete. – O, sagen Sie's der Mama nicht, denn es ist nicht wahr!
– Ich will jetzt nichts mehr hören, schweig'! sagte der Doktor unwillig.
– O, was soll ich machen! was soll ich machen! schrie Louis, indem er seinen Stuhl vom Tisch wegriß und vor dem Doktor auf die Kniee fiel und seine Hand ergriff, die schon den Brief angefangen hatte; – ich versichere Ihnen, Herr Doktor, ich hab' es nicht gethan; ich rede die Wahrheit.
– So, wie du sie immer sprichst, wahrscheinlich, versetzte der Doktor, der seine Hand schnell zurückzog. Mach', daß du aufstehest! Wirf dich vor dem auf die Kniee, den du durch deine Sünde so tief beleidigt hast!
Louis stand auf, blieb aber auf derselben Stelle stehen. – Wollen Sie mich nur etwas anhören, Herr Doktor? ich will nicht mehr von meiner Unschuld reden; ich möchte Sie nur noch um eines bitten.
Der Doktor sah ihn mit gleichgültiger Miene an. Louis wischte sich die Thränen ab und begann dann in einem ruhigern Tone:
Wollen Sie mich in der zweiten Klasse lassen und mir erlauben, meine Aufgaben hier in diesen Zimmer zu machen? Sie werden dann sehen, Herr Doktor, ob ich eines Schlüssels oder einer fremden Hülfe bedarf.
– Ich weiß, daß du das kannst, wenn du willst; ich hätte dich sonst nicht in diese Klasse gethan.
– Aber ich bitte Sie, Herr Doktor. Ich weiß alles … doch er hielt plötzlich inne; denn er erinnerte sich seines Versprechens, nicht mehr davon zu reden.
Nun folgte eine kleine Pause, während welcher der Doktor prüfende Blicke auf Louis heftete. Endlich sagte er zu ihm: du darfst in der zweiten Klasse bleiben; allein du wirst dich daran erinnern, daß ich dir das Sprechen mit deinen Kameraden verboten habe.
– Darf ich auch nicht mit meinem Bruder reden?
– Nein. Geh' jetzt!
– Darf ich an die Mama schreiben?
– Ja, wenn du willst.
Louis dankte dem Doktor schüchtern, ging wieder an seinen Platz und schrieb dann an seine Mutter, während Doktor Wilkinson seinen Brief an den Vater ebenfalls fertig machte. Beide Briefe gingen mit derselben Post ab.