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VII

Wohl denen, die in deinem Hause wohnen:
die loben dich immerdar. Denn ein Tag in
deinen Vorhöfen ist besser, denn sonst tausend.
Ich will lieber der Thür hüten in meines Gottes
Hause, denn lange wohnen in der Gottlosen
Hütten.

Psalm 84, 5 u. 11.

Die Anzahl der Zöglinge in der Anstalt des Doktors Wilkinson war zu groß, als daß sie in der benachbarten Kirche alle hätten Platz finden können; sie wurden daher jeden Sonntag in zwei Abtheilungen getheilt. Die eine derselben besuchte dann jedesmal den Gottesdienst in einer Kirche zu Bristol, in welcher Herr Wilkinson, der Sohn des Doktors, von Zeit zu Zeit predigte. Louis war gewöhnlich unter denen, die nach Bristol gingen, was ihm auch nicht unlieb war; denn es führte ein äußerst angenehmer Weg dahin, und in dem harmonischen Glockengeläute, sowie in dem Anblicke der vielen Thürme der Stadt lag etwas ganz besonders Feierliches, das ihm sehr wohl gefiel.

Der Sonntag, welcher der traurigen Strafzeit Louis folgte, war ein schöner und freundlicher Tag, der mehr als alle andern das Volk des Herrn einzuladen schien, sich zu freuen der Werke seiner Hände. Louis war in einer heitern Stimmung, sein Herz hüpfte ihm im Leibe vor Freude und Dankbarkeit, als er von der Höhe eines Hügels die schöne Schöpfung Gottes um sich ausgebreitet und die große Stadt zu seinen Füßen sah. Er war mit einigen Kameraden schneller gegangen als die andern; daher standen sie auf der Anhöhe still, um auf jene zu warten.

– Ich gebe dir einen Groschen, Mortimer, sagte sein Gefährte, ein munterer Bursche von fünfzehn oder sechzehn Jahren, wenn du mir sagst, was du jetzt denkst. Du bist heute so still, du machst wohl Kalender, oder bist vielleicht in eine gelehrte Betrachtung versunken?

Louis schien die Frage nicht zu beachten: denn plötzlich wandte er sich mit freudestrahlendem Gesicht zu seinem Kameraden und rief aus: Ach, wie schön ist es hier! Was für ein herrlicher Anblick! so viele Kirchthürme bei einander, Meredith, ich glaube, unser Land ist darum so glücklich, weil es so viele Kirchen hat.

– Es scheint, du schreibst diesen grauen steinernen Thürmen eine große Macht zu, erwiederte Meredith.

– Ich will damit sagen, die Religion mache unser Land glücklich. Ach, die Kirchen gefallen mir so gut! Manchmal, wenn ich so eine Kirche ansehe, und das Wetter schön und ruhig ist, so kommen mir die Thränen in die Augen.

– Ei, welch fromme Gefühle! du solltest ein Pfarrer werden.

– Das wünschte ich auch. Ach, wenn ich nur einst ein Diener des Herrn werden könnte; was für ein glückliches Leben! Ich dachte so eben, wie du zu mir sprachst, Meredith, an einen Vers, den wir gestern morgen gelesen haben und der ganz meine Gefühle ausdrückt, »Eins bitte ich vom Herrn, das hätte ich gern, daß ich im Hause des Herrn bleiben möge mein Leben lang, zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn und feinen Tempel zu besuchen.« (Psalm 27, 4.)

Meredith sah den Louis etwas erstaunt an und sagte in ziemlich gleichgültigem Tone zu ihm: Wahrscheinlich wird man eines Tages das Vergnügen haben, mich in einem langen schwarzen Rock zu sehen, wie ich meine andächtige Heerde erbaue.

– Du willst also Geistlicher werden? fragte ihn Louis.

– Ja, ich werde wohl müssen. Denkst du nicht, ich werde ein würdiger Schwarzmantel werden?

– O, gewiß! du willst gern Pfarrer werden, nicht wahr?

– Ho, ich weiß nicht, was ich sagen soll, erwiederte Meredith, der dabei eine Hand voll Laub von der Hecke streifte. Ja, wenn ich eine fette Pfründe bekommen könnte, das ließ ich mir schon gefallen.

Louis entsetzte sich über diese Art und Weise, das geistliche Amt anzusehen. O Meredith! sagte er, ich begreife wirklich nicht, wie du so leichtsinnig reden kannst von einer so heiligen Sache. Es ist dir gewiß nicht Ernst.

– Was ist denn Böses daran? sagte Meredith lachend, ich sage eben heraus, was hundert Andere denken. Ich würde das Soldatenleben vorgezogen haben; aber mein Vater will durchaus, daß ich Geistlicher werde, weil er selbst einer ist und mein Großvater auch einer war. Am Ende ist es auch lange nicht so mühsam wie das Soldatenleben.

– Meredith! Meredith! ich bitte dich, sprich nicht so leichtsinnig, es ist eine zu wichtige Sache. Ich habe mich schon oft gewundert, wie es Pfarrer geben kann, die es mit ihrer Pflicht so leicht nehmen; aber wenn sie so denken, wie du, so wundere ich mich nicht mehr. Meredith, wie kannst du denn hoffen, du werdest glücklich sein, wenn du so leichtsinnig in den geistlichen Stand trittst?

– Du bist ein Frömmler, Louis. Glaubst du denn nicht, daß ich eben so gute Predigten machen werde, wie du? Man macht ein gravitätisches Gesicht, verfertigt schöne Phrasen, legt einen schönen Ring an den niedlichen Finger, macht schöne Locken? und dann ist man ein Prediger, wie man ihn haben will. Und wenn man dann noch manchmal sein weißes Schnupftuch heraus nimmt, graziöse Bewegungen mit den Händen macht und sich über das Kanzelbrett herüber lehnt und thut, als ob man die ganze Zuhörerschaft umarmen wollte, dabei dann gehörig mit schönen, zierlichen Sätzen um sich wirft: so wird die Kirche immer voll werden und die Ladies werden ganz entzückt sein.

– Das ist aber gewiß nicht die rechte Art, sich beliebt zu machen, erwiederte Louis, und dann ist es noch sehr die Frage, ob dir das alles so nach Wunsch gelingen wird. Uebrigens, Meredith, du bist wirklich ganz entsetzlich leichtsinnig. Warst du schon einmal dabei, wenn man einen Geistlichen einsegnete?

– Nein, ich hab's noch nie gesehen, sagte Meredith.

– Ich bin gewiß, wenn du einmal dabei gewesen wärest, du würdest anders reden. Ich habe es einmal gesehen in der Kathedrale zu Norwich; ich war mit meinem Vater dort. Es war so schön und feierlich, daß ich es nie vergessen werde. O, es ist mir unbegreiflich, wie man die Sache so leicht nehmen kann! Und der Gesang ertönte so erhaben! Ach, wenn du da gewesen wärest, Meredith, es hätte dir gewiß auch gefallen, und du würdest dann gesehen haben, wie gottlos es ist, wenn man so heilige Sachen verspricht und sie nicht halten will! Ja, das ist gewiß sehr gottlos.

Louis war sehr ernst und äußerst bewegt.

Meredith wurde ein wenig empfindlich, und zugleich schämte er sich; aber er fuhr in seinem gewöhnlichen leichtsinnigen Tone fort: du bist sehr streng, Louis. Andere denken nicht so streng und sind deßwegen doch nicht schlechter; sieh nur den Trevannion an, er will auch Pfarrer werden, weil er findet, daß das so hübsch sei.

– Ich hoffe, daß du dich täuschest, fiel ihm Louis ins Wort.

– Gewiß nicht, er hat es mir selbst gesagt.

– Das betrübt mich sehr, sagte Louis traurig; ich wollte lieber das ganze Leben lang ein armer Handwerker bleiben, als aus solchen Gründen Pfarrer werden, und doch wollte ich lieber der ärmste Pfarrer sein, als der reichste Herzog. Es muß ein glückliches und nützliches Leben sein! Diese letzten Worte sprach Louis so leise, daß man sie kaum hörte, und damit wurde das Gespräch abgebrochen.

Doktor Wilkinson wollte, daß der Tag des Herrn in seinem Hause auf eine würdige Weise gefeiert werde. Es war jedoch keine leichte Sache, das zu erzielen bei den verschiedenen Neigungen und Gewohnheiten einer so großen Anzahl von Zöglingen. Herr James Wilkinson unterstützte hierin seinen Vater treulich, und widmete zu diesem Zweck den ganzen Sonntag-Nachmittag den Zöglingen. Allein trotz dieser Aufsicht waren immer einige, die sich um die Heiligkeit und Ruhe des Sonntags nicht viel kümmerten; denn das Herz des Menschen kann durch keine Aufsicht und durch keine Erziehung wirklich gebessert und geändert werden. Höchstens bringt man es zu einer äußern Wohlanständigkeit oder wohl gar zur Heuchelei. Hier muß eine andere Kraft wirken, als die des Erziehers, nämlich die des Lehrers, der gesagt hat: » Lernet von mir!« Es wird von Eltern und Erziehern so gar oft verkannt, wie die wahre Bildung nur dann vollständig ist, wenn nicht bloß der Kopf und der Geist, sondern auch das Herz gebildet ist, oder mit andern Worten, wenn Jesus mit seiner Liebe im Herzen wohnt.

Am Nachmittage des erwähnten Sonntags hielten sich die Zöglinge des Hauses alle in dem die Anstalt umgebenden Park auf. In einem abgelegenen Theile desselben hatte der Doktor zwanzig bis dreißig um sich versammelt, und andere standen anderswo ebenfalls in Gruppen um ihre Lehrer herum in christlichen Gesprächen mit ihnen begriffen. Man würde sich jedoch irren, wenn man glaubte, die jungen Leute wären alle aufmerksam gewesen. Das wäre ja überhaupt beinahe ein Wunder. Ganz besonders aber pflegt die Jugend gern mit ihren Gedanken in der ganzen Welt herum zu schwärmen, wenn das Wort Gottes verhandelt wird; denn die Religion ist bei der Jugend leider zu sehr nur eine Frag- und Antwortsache, die sie eben lernt, wie eine andere Lektion. Und wenn's nur bei der Jugend allein so wäre; aber es gibt leider auch Lehrer und Erzieher, welche mit der Religion Jesu gerade so umgehen, wie mit einem Rechnungsexempel. Sie kennen ebensowenig, als ihre Zöglinge, die heiligende und selig machende Kraft des Wortes Gottes; daher nimmt auch der christliche Religionsunterricht bei ihnen denselben Rang ein, wie der Unterricht in der heidnischen Fabel- und Götterlehre.

Meredith, Reginald und Louis lagen nachlässig unter einem Baum, dessen Aeste sie studirten. Nicht weit von ihnen standen zwei oder drei ihrer Kameraden. Sie hatten so eben Herrn Danby ihren Katechismus und einen Psalm hergesagt. Louis sprach nichts; er dachte an die Ferien, an das elterliche Haus und an die glücklichen Sonntage daselbst, diese Lichtpunkte in dem Leben eines Christenmenschen, als Trevannion mit seiner gewöhnlichen kalten und stolzen Miene den in seliger Ruhe Dahingestreckten sich näherte.

Trevannion war der eleganteste und zierlichste der ganzen Anstalt. Nie gerieth er in Eifer, und alles Lächerliche und Abgeschmackte war ihm verhaßt. Er fand es eines gebildeten Menschen unwürdig, wegen jeder Kleinigkeit aus der Fassung zu kommen; es brauchte daher sehr viel, bis er seine gewöhnliche ruhige Haltung verlor; ja, wenn der Mond auf seinen Kopf gefallen wäre, so wäre er immer noch ruhig geblieben. Seine Angelegenheiten besorgte er nie selber und ließ sich durch nichts und durch niemanden stören.

– Warst du heute morgen in Bristol, Meredith? fragte er.

– Ja, Ihre Hoheit, versetzte Meredith.

– Du bist wohl sehr müde, wie es scheint? sagte Trevannion in einem ironischen Tone und einem bedeutungsvollen Blick auf den Baumlagerer werfend.

– Ach, dieser alte und langweilige Danby, er hat mir eine ganze Stunde lang vorgepredigt mit seinem ewigen »mein liebes Kind« etc. Ich bin so müde, wie … wie ein … wie ein … ach, helft mir doch ein Gleichniß suchen! – ah! wie ein paar alte Schuh.

– Sie ist sehr poetisch, deine Vergleichung, sagte Reginald lachend.

– Ihr habt gewiß einen schönen Spaziergang gehabt? sagte Trevannion.

– O, einen köstlichen! und noch obendrein eine Predigt gratis; sie würde dir gut gethan haben, Trevannion; du hättest hören können, wie sehr du im Unrecht bist, so zierlich zu sein.

– Ich versteh' dich nicht, sagte Trevannion gleichgültig.

– Louis Mortimer hat mir eine fromme Predigt gehalten über die Pflichten der Geistlichen im Allgemeinen und besonders diejenigen Ihres unterthänigsten Dieners.

– Die Lust wird dir jetzt wohl vergangen sein, in die geistliche Brüderschaft einzutreten? sagte Trevannion.

– Noch nicht ganz; aber ich habe ihm meine Absichten dargelegt, und der kleine Kerl hat mich sehr derb zurecht gewiesen und meinen Leichtsinn scharf getadelt. Seine donnernde Predigt war wirklich sehr interessant und geistreich.

– Vielleicht dürfte ich den ehrwürdigen Herrn Pfarrer bitten, uns jetzt den zweiten Theil seiner Predigt zu halten, damit auch ich einen Nutzen daraus ziehen kann, sagte Trevannion zu Louis gewendet.

Louis gab keine Antwort, und Trevannion sagte, indem er die Lippen verzog:

– Seiner Hochwürden kennen scheint's das Sprüchwort nicht: »Arzt, hilf dir selber!«

Der arme Louis wandte sich ab, und Meredith, der sich seiner ganzen Länge nach ausstreckte und auf eine furchterregende Weise gähnte, fuhr fort: Du mußt wissen, Trevannion, daß ein Prediger nichts taugt, wenn er nicht fromm ist, oder wenn er zu leben wünscht, wie andere ehrliche Leute.

– Nein, Meredith, das ist nicht wahr, ich hab' das nicht gesagt, erwiederte Louis seinen Kopf abwendend.

– Wir dürfen also nicht thun, wie andere Leute, fuhr Meredith fort, und wenn wir etwas nicht wissen, so wird uns Louis Mortimer schon sagen, was wir zu thun haben.

– Ich bin dem Herrn Mortimer sehr verbunden für seine Bereitwilligkeit, sagte Trevannion.

– Ich ebenfalls, fügte Meredith hinzu. Ich habe vergessen, dem Herrn Pfarrer meinen Dank abzustatten, und ich verspreche hiemit, wenn ich einmal den schwarzen Rock trage, daß ich nicht öfter auf die Jagd gehen werde, als ich mit Ehren darf, auch weder am Charfreitag Karten spielen, noch am Samstag Abend auf den Ball gehen will.

– Aber Meredith, schäm' dich, sagte Trevannion; es ist sehr schlecht von dir, so zu reden von diesem heiligen Amte. Ein Pfarrer, der auf die Jagd geht und Karten spielt, sollte augenblicklich fortgejagt werden, und jeder rechtschaffene Mensch würde sich mit Entsetzen von ihm abwenden. Ein Geistlicher sollte sein heiliges Amt nicht schänden und seiner Heerde kein Aergerniß geben. Meredith, du bist sehr leichtsinnig.

– Darf ich dich wohl bitten, sagte Meredith, daß du deine Predigt noch etwas verlängerst? Würdest du vielleicht einem Pfarrer doch wenigstens erlauben, ich will nicht sagen, auf den Ball zu gehen, das ist, scheint's, zu gottlos, aber doch wenigstens von Zeit zu Zeit einem ehrlichen Tanz beizuwohnen? oder ist das auch zu gottlos?

– Ein Geistlicher soll nicht tanzen, versetzte Trevannion in gravitätischem Ton.

– Aber zusehen, darf er das?

– Ein Geistlicher hat heilige Pflichten zu erfüllen, und er darf sein Amt nicht herabwürdigen, sagte Trevannion; sein Betragen darf nicht im Widerspruch sein mit dem, was er predigt.

– Sehr verbunden, Herr Trevannion, sagte Meredith immer in demselben leichtsinnigen Ton; ich werde wohl einen Vikar haben müssen, der mit seinem Wandel das ersetzt, was ich nicht recht mache.

Herr James Wilkinson saß nicht weit davon mit einigen kleinern Zöglingen; er hatte einiges von der Unterhaltung verstanden, und eilig kam er zu der unter dem Baum versammelten Gruppe, gerade in dem Augenblick, als Reginald ausrief: Aber, Meredith, schäme dich doch, so zu reden!

– Ja, schäme dich, Meredith! sagte Herr James; ich habe eure Unterhaltung gehört, und es betrübt mich sehr, dich über diese heilige Sache so leichtsinnig sprechen zu hören. Meredith, du hast gewiß nicht bedacht, was du sagst; ich möchte gerne etwas über diesen Gegenstand mit euch sprechen, wenn ich hoffen darf, angehört zu werden.

Trevannion setzte sich auf eine Bank, schlang die Arme in einander und schien aufmerksam zuhören zu wollen.

– Gib mir ein Kirchenbuch, Mortimer! sagte Herr James. Wißt ihr, fuhr er fort, welches die erste Frage ist an einen Kandidaten, der sich dem heiligen Amte widmen will? Hier ist sie: »Bist du überzeugt, daß du innerlich vom heiligen Geist berufen bist, ein Diener Gottes zu werden, an der Ausbreitung seines Reiches und zum Heil der Seelen zu arbeiten?« Nun Meredith, was meinst du, könntest du mit solchen Gefühlen, wie du sie so eben ausgesprochen hast, in Wahrheit sagen: » Ich glaube

– Ich habe nie ernstlich darüber nachgedacht, sagte Meredith.

– Aber das sind Dinge, an die man ernstlich und mit Gebet denken muß. Von jedem Menschen ohne Ausnahme, in welcher Stellung er sich auch befindet, wird verlangt, daß er seine Pflichten treu erfülle und dem Herrn diene. Für unsere Nachlässigkeit sind wir ihm verantwortlich. Man soll nicht meinen, daß ein einzelnes Beispiel nichts zu bedeuten habe. Der Herr hat einem jeden unter uns ein Talent gegeben, und gesagt: »Handle damit, bis daß ich wieder komme.« (Luc. 19,13.) Was würdest du von einem Menschen sagen, der solche Verpflichtungen übernimmt und von vornherein sie nicht zu halten gedenkt? Er wäre ein unwürdiger Miethling. Was würde man von einem solchen Menschen halten müssen, der in der Gegenwart Gottes und Seines Volkes öffentlich erklärte, »die Armen und Kranken seiner Gemeine besuchen und ihnen helfen, seinen eigenen Wandel würdiglich vor Gott führen, im Gebet und im Lesen der heiligen Schrift anhalten und die Welt mit ihrer Lust verläugnen zu wollen,« und der bei sich selbst die Absicht hätte, sich der Welt gleich zu stellen – der also vergäße, daß das Auge seines Meisters auf ihn blickt? Er würde den Allwissenden belügen. O, der Beruf eines Dieners Christi ist der schönste und edelste, den es auf Erden gibt; ein Geistlicher ist ein Bote des Evangeliums von dem Heilande der Sünder; er hat die verwundeten Herzen mit dem Balsam von Oben zu heilen; er wohnt in den Vorhöfen des Herrn vor dem Angesichte Gottes, entfernt von der Welt und ihrer Eitelkeit! So wie aber jede wichtige Stellung große Verantwortlichkeit mit sich bringt, so ist auch der Beruf eines Dieners Christi in hohem Grade verantwortungsvoll. Wehe ihm, wenn er seine heiligen Pflichten vernachlässigt! Er wird desto größere Verdammniß empfangen. Du würdest mir ein großes Vergnügen machen, Meredith, wenn du einmal diese Verse hier lesen wolltest.

Meredith nahm aus Herrn Wilkinsson's Hand die ihm dargereichte offene Bibel und las mit lauter Stimme die ersten zehn Verse des vierunddreißigsten Kapitels im Propheten Ezechiel. – Wir sehen in diesem heiligen Buche, welches die Regel unsers Lebens sein soll, nirgends, daß der Herr das heilige Wächteramt so oberflächlich ansieht, wie du es thust, Meredith. Im dreiunddreißigsten Kapitel ist eine so feierliche Warnung an untreue Wächter, daß ich nicht verstehe, wie einer, der es mit seiner Pflicht leicht nimmt, dieselbe lesen kann, ohne zu erzittern. »Wenn der Wächter sähe das Schwert kommen und die Trompete nicht bliese noch sein Volk warnete und das Schwert käme und nähme etliche weg, so würden dieselben wohl um ihrer Sünden willen weggenommen, aber ihr Blut will ich von des Wächters Hand fordern. Und nun, du Menschenkind, ich habe dich zu einem Wächter gesetzt über das Haus Israel, wenn du etwas aus meinem Munde hörest, daß du sie in meinem Namen warnest. Wenn ich nun zu dem Gottlosen sage: Du Gottloser mußt des Todes sterben, und du sagst ihm solches nicht, daß sich der Gottlose warnen lasse vor seinem Wesen, so wird wohl der Gottlose um seines gottlosen Wesens willen sterben, aber sein Blut will ich von deiner Hand fordern.« Das ist eine feierliche Warnung Gottes durch den Mund des Propheten; es ist die zweite, denn schon einmal finden wir eine solche im dritten Kapitel. Diese Wahrheiten lassen sich nicht aus dem Worte Gottes ausstreichen, aus dem Worte, durch welches wir am letzten Tage werden gerichtet werden. Seht, meine jungen Freunde, ich muß so zu euch reden; denn auch ich bin vom Herrn zu einem Wächter bestellt, und ich muß euch warnen vor der Sünde.

Meredith hatte aufmerksam zugehört. Der Ernst des Herrn Wilkinson und die zweischneidigen Wahrheiten schienen Eindruck auf ihn zu machen; – überhaupt waren alle mächtig ergriffen.

In diesem Augenblick rief die Glocke zum Thee, und man mußte die Unterhaltung abbrechen; aber nach dem Abendgebet gab Herr Wilkinson Meredith ein Papier in die Hand, auf welchem er alle die Stellen der heiligen Schrift angemerkt hatte, die sich auf das geistliche Amt beziehen.

Als die Zöglinge zu Bett gegangen und die Lichter ausgelöscht waren, wurde Louis von einigen aufgefordert, eine Geschichte zu erzählen.

– Ja, ja, Louis, erzähl' die Geschichte von der Prinzessin Rosette fertig, schrie Frank. Ich möchte gar zu gerne wissen, wie das schöne Thier aus seiner nassen Kammer hervorgeschwommen ist, und ob die Austern dem Waschbären nicht die Nase abgebissen haben.

– Ja, ja, schrieen mehrere Stimmen; ist sie wirklich zum König des Pfauenreichs gekommen, Louis?

– Nein, nein, sagte Reginald, das ist keine Geschichte für den Sonntag.

– Wir haben ja heut' viele gute Werke gethan, sagte Frank in seinem Leichtsinn, erzähl du nur, Louis!

– Nein, es ist besser, wenn ich nicht erzähle, sagte Louis mit sanfter Stimme; ich erzähle nicht gern Geschichten, wenn wir im Bette sind, und es ist auch nicht recht, wenn wir den Kopf mit solchen Gedanken erfüllen, ehe wir einschlafen. Nein, ich will diese Geschichte nicht erzählen.

– Nun, Louis, willst du anfangen oder nicht? sagte Frank mit Verachtung, du bist sonst zu nichts gut als um Geschichten zu erzählen. Ha, seht einmal, das Bürschchen will heilig werden! Du hast gewiß Ursache, Louis, mehr als Andere.

– Du verstehst mich nicht, Frank.

– Wenn du den Louis nicht in Ruh lassest, schrie Reginald, so werd' ich dich …

Louis hielt seinem Bruder den Mund zu.

– Gut so! schrie Frank in seinem Spötterton. Sprich fertig, was du angefangen hast! Es macht nichts, meine Herren, ich will euch eine wundervolle Geschichte erzählen.

– Ich glaube aber doch, es wäre besser, wenn wir heute Abend nichts erzählten, sagte ein Anderer; Mortimer hat recht.

– Ja, ja, ich bitte, erzählt nicht! rief Louis. Vergeßt nicht, daß heute des Herrn Tag ist.

– Wir haben jetzt genug von dir gehört, rief eine Stimme.

– Wir wollen schlafen, wir hören dann nicht, was er sagt, bemerkte Meredith. Aber ich versichere dir, daß er wunderschön erzählen kann, wenn er will, sagte er zu seinem Nachbarn Frank.

– Desto schlimmer für ihn, den kleinen Heuchler. Ich liebe die aufrichtig frommen Leute, aber nicht dieses scheinheilige Wesen, erwiederte Frank.

Was Frank unter wahrer Frömmigkeit verstand, könnte ich wirklich nicht sagen; vielleicht wußte er es selber nicht.


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