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Am nächsten Samstag Nachmittags wanderte die gesammte Einwohnerschaft von Ashfield an das Ufer des Meeres. Einige der ältern Zöglinge erhielten die Erlaubniß, nach Bristol zu gehen, und die andern ordneten ein großes Ballspiel an. Unter den letztem befand sich Reginald Mortimer, dessen kräftiger Arm und gelenkige Füße bei solchen Gelegenheiten unentbehrlich waren. Als er mit dem Hut in der Hand in Gesellschaft Merediths durch das Hofthor hinaus gehen wollte, bemerkte er seinen Bruder Louis mit einem Buch in der Hand, aus welchem er begierig einige seiner Lieblingsgedichte verschlang.
– Louis, du Faulpelz, rief ihm Reginald scherzend zu, bei diesem schönen Wetter liest man nicht. Komm her da, mit uns!
– Ich kann nicht Ball spielen, sagte Louis.
– Du wirst es nie lernen, wenn du es nie anfängst, erwiederte ihm sein Bruder. Komm mit uns, ich will dich's lehren; thu' doch dein dummes Buch weg!
– Dummes Buch! sagte Louis; es ist das schöne Gedicht, das uns die Mamma vorzulesen versprochen hatte.
– Geh' mir doch weg mit deiner Poesie! rief Reginald aus; ich begreife nicht, wer solchen Grümpel lieben kann. Gib mir dein Buch, Louis, und komm mit uns!
– Ach nein, ich will nicht, ich mag nicht spielen.
– Du bist ein Esel, sagte Meredith, warum willst du denn nicht spielen?
– Es ist besser, wenn ich nicht sage warum, mein Ruf könnte darunter leiden, sagte Louis etwas boshaft. Du kannst damit zufrieden sein, wenn ich dir sage, daß ich eben nicht spielen will.
– Nicht will, wiederholte Meredith, das ist wieder einmal einer von deinen Gründen.
– Das ist kein Grund, denn er hat uns ja keinen angegeben, sagte Reginald; vorwärts, wenn er nicht kommen will.
Und fort rannten sie, und Louis, der ihnen ein paar Sekunden nachsah, fing wieder an auf und ab zu gehen; aber kaum hatte er sein Buch aufgemacht, so hüpfte der kleine Alfred mit einem Freudensprung auf seinen Rücken.
– Louis, schrie derselbe, ach, wie froh bin ich, daß ich ein wenig mit dir plaudern kann! Ich weiß gar nicht, wie das kommt, ich habe jetzt schon lange nicht mehr mit dir reden können; ich habe geglaubt, Eduard würde es nicht gern haben; aber er hat mich heut gefragt, warum ich nicht mehr mit dir gehe.
– So? rief Louis erfreut aus; ich bin sehr froh, daß du gekommen bist; komm, wir wollen ein wenig spazieren gehen.
– Ich versteh' gar nicht, Louis, was das ist; allemal, wenn ich von dir etwas sage, so machen die Andern so böse Gesichter. Was ist denn auch das?
– Ach, ich weiß wohl, was sie haben; es ist eine traurige Geschichte, es ist ein Irrthum, ich bin ganz unschuldig; aber sag' es niemanden, Alfred! Man glaubt von mir, ich habe etwas Schlechtes gemacht, etwas sehr Schlechtes, Alfred; aber es wird schon einmal herauskommen.
– Hoffentlich, versetzte Alfred; aber ich kann mir gar nicht denken, was du gemacht haben kannst; du bist ja so gut, Louis.
Alfred betrachtete das Gesicht des Louis, wie wenn er auf eine Antwort wartete.
– Du meinst, ich sei gut, und glaubst nicht, wie bös ich bin, Alfred; aber in dieser Sache bin ich unschuldig.
Alfred fragte nicht weiter; er warf nur von Zeit zu Zeit einen prüfenden Blick auf Louis' trauriges Gesicht, während sie am Meeresufer hinschlenderten.
– Da kommt Eduard und Trevannion, sagte Alfred, der sich umgewendet hatte, und dort sind Frank Digby und Ferrer. Ich habe gemeint, Eduard sei nach Bristol gegangen.
Und in einem Augenblick waren jene den beiden nahe gekommen, Eduard Hamilton wie gewöhnlich auf Trevannion's Arm gestützt, und Frank rückwärts laufend und einige seiner gewöhnlichen Späße machend.
– Genug, genug, Frank, rief Hamilton, der sich des Lachens nicht enthalten konnte. Ich durchschaue dich schon; du kannst uns nicht am Narrenseil herum führen.
Louis hob seinen Kopf auf, als Hamilton an ihm vorbeiging, in der Hoffnung, einen huldvollen Blick von Seiner Majestät zu erhalten, und seine Hoffnung wurde nicht zu Schanden. Eduard der Große hatte ihn aus der Ferne bemerkt und nicht aus dem Auge verloren. Seine Miene war nicht finster; aber es lag darin eben so wenig ein Wohlwollen. Er richtete einige Worte an seinen Bruder, dann wandte er sich an Louis: – Wenn der kleine Alfred bei dir bleiben soll, so mußt du ihn überwachen, und wenn du das nicht willst, so schick' ihn gleich fort.
– O ja, ich will ihn gerne haben, sagte Louis mit freudestrahlendem Gesicht; ich will ihn gewiß überwachen, Hamilton. Ich bin hinaufgerückt in der Klasse, ich bin jetzt der Fünfte, fügte er in einem halb freudigen, halb furchtsamen Ton hinzu, weil er nicht wußte, wie diese Bemerkung von Seiner Majestät würde aufgenommen werden.
– Es freut mich, das zu hören, sagte Hamilton lakonisch. – Was hast du da? fragte er, als er das Buch erblickte.
– Es sind Gedichte, ich habe darin gelesen; aber nicht wahr, ich darf mit Alfred sprechen? sagte Louis; indem er Eduard den Großen mit zufriedenen und dankbaren Blicken ansah.
Was in Hamilton's Innerm vorging, konnte man in seinen Mienen nicht lesen. Er wandte sich zu Trevannion, und als er den Churchill erblickte, bemerkte er: – da kommt der Blutegel.
– Es ist furchtbar heiß, sagte Churchill, seinen Hut abnehmend und mit seinem Schnupftuch sich Kühlung zuwehend.
– » Furchtbar heiß!« sagte Frank Digby genau in demselben Tone.
– Und auch nicht ein kühles Lüftchen weht in dieser gräßlichen Sahara, fuhr der gelehrte junge Mann fort, Franks Nachahmung nicht beachtend.
– Was macht die schöne Louise hier? sagte Frank. Ach, daß kein Zephir fächelt, um die zarte Dame zu erfrischen!
Mitten auf der Straße stand ein Wagen ohne Pferde. Auf der einen Seite des Wagens war Schatten und Schutz gegen die Sonnenhitze, und noch einladender war die Decke für diejenigen, welche Lust hatten unter dieselbe zu kriechen. Ferrer kroch der Länge nach in dieses Kabriolet, und Louis setzte sich mit dem kleinen Alfred im Schatten in das Gras. Churchill war nicht zu träg, ihrem Beispiel zu folgen, indem er ausrief: Ach, wie herrlich! das ruft mir einen lateinischen Vers in's Gedächtniß, aber ich kann ihn nur auf englisch; er heißt, glaub' ich, so: »Wie köstlich ist's im Schatten!«
– Eines Wagens, schrie Frank kichernd, es ist wahrhaft romantisch! Ach, wie wohl thut es doch, die süßen Stimmlein der Vögel unter dem Himmel und die fernen Klänge der menschlichen Stimme zu hören! – Aber ich finde keine Worte – Fräulein Louise ist im Elysium – es ist wirklich feenhaft.
– Kommst du auch nach Bristol, Frank? Ich will hingehen, sagte Hamilton.
– Wart', ich komm«, erwiederte Frank. Wir lassen diese Ritter in ihrem elysischen Schatten; meine Herren, die Imagination ist doch etwas Herrliches!
Sie gingen ihres Weges, und Trevannion sagte zu seinem Freunde: Dieser kleine Mortimer ist aber doch ein hübsches Bürschchen. Er hat etwas so Anständiges in seinem ganzen Wesen; nie sagt er etwas Gemeines; nur Schade, daß man ihm nicht trauen darf.
– Ich bin nicht ganz überzeugt, daß man ihm nicht trauen könne, versetzte Hamilton.
– Wie so? sagte Trevannion erstaunt.
– Bist du nicht der Kavalier dieser kleinen Schönheit? sagte Frank.
– Ich habe den Louis alle Tage sorgfältig überwacht, und ich zweifle immer mehr daran, daß er schuldig sei.
– Nach dem, was du selbst gesehen hast und was Andere gesehen haben, kann man ihm nicht trauen, mein guter Hamilton, sagte Trevannion hastig. Du kannst ihn nicht von Schuld freisprechen, ohne damit Andere anzuklagen.
– Wir werden sehen, versetzte Hamilton, und weißt du was, Trevannion, selbst der Doktor zweifelt jetzt, ob Louis schuldig sei.
– Weiß unser Magister von den alten Streichen des Louis? fragte Frank mit ungläubiger Miene.
– Ich weiß es nicht, erwiederte Hamilton, aber ich möchte es wohl glauben; denn seine Ohren sind fein genug, um alles das zu hören, was unter uns vorgeht.
– Aber, mein lieber Hamilton, fing Trevannion wieder an, du mußt für deinen kleinen Liebling wirklich sehr eingenommen sein, daß du hier noch zweifeln kannst. Hat dir denn der Doktor etwas gesagt?
– Nein, versetzte Hamilton; du kennst ja den Doktor, daß er so etwas nicht an die große Glocke hängt; aber ich habe mehrere Anzeichen, aus denen ich schließen kann, daß er dem Louis nicht mehr so mißtraut, und in kurzer Zeit werden wir vielleicht etwas Neues hören.
– Das kleine Bürschchen hat dich ganz eingenommen, sagte Trevannion.
– Der gute Junge, erwiederte Hamilton, er ist so sanft, so liebenswürdig; aber er liebt es ein wenig zu sehr, wenn man ihn dafür hält; er ist ein klein wenig eitel, das ist wahr; dennoch hab' ich ihn recht lieb. Er dauerte mich schon gleich Anfangs sehr, als ich ihn so furchtsam sah und er so geplagt wurde, und ich habe mich immer mehr überzeugt, daß er ein guter Junge ist. Ich würde mich darüber nicht wundern, wenn er in seiner Verlegenheit eine Lüge gesagt hätte; aber ich glaube nicht, daß er im Stande ist, auf einer Lüge zu beharren.
– Der weise Herr wird sich wahrscheinlich irren, versetzte Frank kopfschüttelnd. Du wirst doch nicht behaupten wollen, daß Ferrer ihm das Buch hingeschoben habe, um ihm einen Streich zu spielen?
– Ich klage niemanden an, Digby, versetzte Hamilton in einem ruhigen und kalten Ton. Ich möchte niemanden unrecht thun.
– Schweig doch einmal still von dieser Geschichte, bemerkte Trevannion unwillig; es ist immerfort das Gleiche, es ist zum Davonlaufen langweilig; gibt's denn nichts Interessanteres zu besprechen?
Wir wollen diese jungen Herren ihren Weg ziehen lassen und zu unserm Wagen zurückkehren.
Als Churchill fühlte, daß er den beiden kleinen Knaben kein willkommener Gesellschafter war, erhob er sich langsam und nahm Abschied von dem Orte des erquickenden Schattens, obgleich es ihm wehe genug that. Nach seinem Abzug plauderten die beiden in glücklicher Zufriedenheit mit einander über tausenderlei Dinge. Nach einer Pause machte Louis eine kindliche Bemerkung über die Schönheit des Wetters, die von Alfred auf eine naive Weise erwiedert wurde, indem er sagte, daß er seit dem Hochzeitstag der Miß Wilkinson keinen so schönen Tag mehr gesehen habe.
– Glaubst du? sagte Louis. Wir haben doch seitdem zwei schöne Sonntage gehabt.
– Vielleicht habe ich jenen Tag deßwegen so schön gefunden, weil ich gern ausgegangen wäre.
– Aber was meinest du damit? fragte ihn Louis, wir haben ja den ganzen Tag frei gehabt.
– O, ich weiß es wohl; aber ich durfte nicht ausgehen, ich war faul gewesen und hatte Herrn Norton nicht antworten können. Ach, das war ein trauriger Tag, Louis, ich habe fast immer geweint; denn ich war in euer Schulzimmer eingeschlossen und hörte, wie alle Andern so lustig waren. Es macht mich jetzt noch traurig, wenn ich daran denke.
Ein Gedanke durchblitzte Louis Kopf, und er fragte hastig:
– Was, du warst in unser Schulzimmer eingeschlossen? Ich habe dich doch nicht gesehen.
– Aber ich habe dich wohl gesehen, wie du einen Atlas geholt hast, und ich habe auch Ferrer gesehen und den Eduard und Trevannion und Salisbury; sie sind zu Ferrer gekommen, aber sie haben mich nicht gesehen, ich habe mich hinter den Bücherschrank verborgen, denn ich schämte mich.
– Wußte dein Bruder, daß du dort warst?
– Nein, er glaubte, ich sei im Studierzimmer des Doktors.
– Hast du gesehen, daß Ferrer etwas gesucht hat in des Doktors Zimmer?
Alfred fing an zu lachen:
– Ich wollte nicht aus der Schule schwatzen; aber ich will dir es jetzt sagen. Ferrer ist gekommen und hat den Schlüssel geholt, den der Doktor für die erste Klasse braucht.
– Aber wie weißt du denn, daß es ein Schlüssel zur ersten Klasse war, Alfred? fragte Louis aufgeregt.
– Ich weiß, daß Eduard Kenrick's griechische Exerzitien macht, und ich kenne den Schlüssel, er sieht gerade so aus, wie das Buch; ich hab ihn einmal gesehen, als ihn Ferrer gehabt hat. Ich weiß noch, es war ein freier Nachmittag, und er hat seine Aufgabe an meinem Platz geschrieben. Er hatte das Buch offen im Schreibtisch und sah immer hinein. Ich habe etwas herausnehmen müssen, und da hab' ich es gesehen. Er hat gemeint, ich sehe es nicht; aber ich hab' es wohl gesehen.
– O Alfred! Alfred! rief Louis aus, und schloß ihn in seine Arme. O Alfred! Alfred! mein lieber Alfred!
Alfred wußte gar nicht, was Louis wollte. Er sah ihn erstaunt an; aber Louis war so aufgeregt, daß er ihm keine Erklärung geben konnte.
In diesem Augenblick hörten sie ein Geräusch in dem Wagen, und ein Kopf kam zum Vorschein, – es war Ferrer.
– O, Ferrer ist im Wagen! schrie der erschrockene Alfred.
– Was für Dummheiten sagst du da, du kleiner Vagabund? kreischte Ferrer. Wart' du Kerl, ich will dir dieses Geschwätz austreiben; ich hätte große Lust, dich in's Meer zu schmeißen.
– Ferrer, du weißt wohl, daß es wahr ist, sagte Louis.
Ferrer wurde kreideweiß.
– Pack' dich, Alfred! nimm dich in Acht, wenn ich noch einmal solche Lügen höre; nimm dich in Acht, ich will dich gewarnt haben.
– Du würdest nichts gehört haben, Ferrer, wenn du nicht gelauscht hättest, erwiederte ihm Alfred, der sich in respektabler Entfernung von ihm hielt. Der Horcher an der Wand hört seine eigene Schand. Herr Ferrer, du weißt wohl, daß es wahr ist; wenn ich es dem Eduard sagen würde, es würde dir kein großes Vergnügen machen, he?
– Lieber Alfred, sag' es nicht! sagte Louis.
Ferrer setzte ein Bein über den Wagen hinaus, um auf Alfred loszustürzen; aber dieser nahm Reißaus. Anstatt dem Alfred nachzuspringen, ging Ferrer nun auf Louis los. Dieser empfand eine solche Freude über die Aufklärung jener fatalen Geschichte, daß wir es ihm schon verzeihen müssen, wenn dieselbe durch den Gedanken an Ferrer's Schande nicht getrübt wurde. Als er jedoch einen Blick auf dessen Gesicht warf, so konnte er nicht anders, als Mitleiden mit ihm haben, so leidenschaftlich sah der unglückliche Ferrer aus, und Louis sagte mit sanfter Stimme zu ihm:
– Es thut mir wirklich sehr leid für dich, Ferrer, daß du das vom kleinen Alfred hast hören müssen.
– Louis Mortimer! schrie Ferrer in Verzweiflung, und der arme Louis bebte zusammen, wie jener seinen Arm packte. – Louis Mortimer, ja, es ist Alles wahr – aber was soll ich machen? was soll ich machen?
Louis wußte zuerst nicht, was antworten; dann sagte er: Geh', und erzähle Alles dem Doktor; das ist das Beste.
– Louis, hör', was ich sagen will; sobald der Doktor die Geschichte weiß, so werd' ich fortgejagt und ich bin für immer unglücklich. – O, wenn du wüßtest, Louis, was ich ausgestanden habe! Du weißt, wie es zugegangen ist. Ich durfte es im ersten Augenblick nicht sagen. Sage mir, Louis, kannst du mir vergeben?
– Du hast schon lange sehen können, daß ich dir vergeben habe, antwortete Louis. Ich wollte, ich könnte etwas für dich thun; aber du wirst doch begreifen, daß ich diese unverdiente Schande nicht mehr länger tragen kann. Ich glaube, wenn du dem Doktor die ganze Wahrheit sagst, er wird dir vergeben, und ich will ihn auch bitten für dich.
– O Louis, sagte Ferrer und ergriff seine Hand, du hast gehört, was der Doktor gesagt hat; er macht keine leeren Worte – und wegen eines einzigen Fehlers soll ich also mein ganzes Leben lang unglücklich sein! Ich trete in den Ferien aus, und dann werde ich dem Doktor Alles sagen; willst du – kannst du mir diese Schande ersparen? O Louis, warte noch etwas, nur noch vier Wochen, dann haben wir Ferien; o Louis', ich will dir mein ganzes Leben lang dankbar sein! – Ach, mein Vater – denke doch, Louis, wie es deinem Vater sein müßte, wenn er an der Stelle meines Vaters wäre! O Louis! ich bitte dich, ich weiß wohl, daß ich keine Gunst von dir verdiene; aber du bist besser als ich.
Der arme Louis war in peinlicher Verlegenheit. Der Gedanke an die Entdeckung seiner Unschuld, die Traurigkeit und das Unglück seines Kameraden; er wußte wirklich nicht, was er machen sollte. Dieses Opfer schien ihm doch etwas zu groß; er hielt es nicht für seine Pflicht, es zu bringen. Schon hatte er sich gefreut, wie ihm der Doktor wieder sein Zutrauen schenken – wie sein Bruder erfreut sein würde – und sein Vater und seine Mutter – und sein Großpapa – und wie freundlich Hamilton sein würde – und dem allem sollte er nun entsagen – das war doch etwas zu viel gefordert.
Er stand stillschweigend da, und Ferrer hielt seine kleine Hand fest und küßte dieselbe und wiederholte immer wieder:
– Lieber Louis, hab' Mitleiden mit mir! – ich bitte dich – denk' daran, denk' an Alles das, was ich dir gesagt habe – ich verdiene es nicht, ich weiß es wohl.
Diese Kriecherei und Zudringlichkeit war dem kleinen Louis zum Ekel, obgleich der Ausdruck der Verzweiflung im Gesicht seines unglücklichen Kameraden ihm tief zu Herzen ging.
– Küsse mir nicht die Hand, Ferrer, ich kann's nicht leiden! sagte er endlich, indem er dieselbe schnell wegzog und ihm einen etwas verächtlichen Blick zuwarf.
– Louis, willst du nicht?
– O Ferrer, du forderst wirklich zu viel von mir, antwortete Louis etwas ärgerlich.
– Ach, es ist ja nur für eine so kurze Zeit, flehte Ferrer; willst du mich denn nicht retten?
Louis wandte das Gesicht ab; der Kampf in seinem Innern war furchtbar; endlich sagte er:
– Wenn Gott mir beisteht, so will ich es versuchen; aber jetzt will ich nicht weiter davon reden.
– O Louis, wie soll ich dir danken! ich kann dir nicht genug danken, o lieber Louis! – aber Alfred wird es sagen.
– Alfred weiß nichts von meiner Geschichte, sagte Louis mit leiser Stimme.
– Aber er wird vielleicht sagen, was heute begegnet ist?
– Ich will es ihm verbieten, sagte Louis.
Ferrer fing seine Dankbezeugungen wieder an; aber Lonis hörte nicht darauf. Er sah ihn mit Thränen an und sagte im Tone des herzlichsten Mitleids:
– O Ferrer, du hast etwas sehr Böses gethan; bitte den lieben Gott um Vergebung!
– Ich will Alles thun, was du wünschest.
– Das hilft dir nichts, wenn du es nur mir zu Gefallen thust. Du mußt fühlen, daß du gegen Gott gesündiget hast; ich bitte dich, Ferrer, geh' in dich! Wenn ich wüßte, daß du aufrichtig Buße thun würdest, so wollte ich diese Schande gerne noch etwas länger tragen, obschon sie sehr groß ist.
– Du bist ein Engel, Louis! rief Ferrer aus.
– Ach, sage das nicht, ich bitte dich! ich bin ein armer Sünder, wie du, und die Erinnerung an meine eigenen Fehler erfüllt mich mit Mitleiden gegen dich. Laß mich jetzt allein; ich kann es nicht hören, wenn du mir so schmeichelst.
Ferrer wollte sich nicht entfernen, obgleich Louis ein paar Schritte vorwärts that, wie wenn ihn die Schmeichelei seines Kameraden fortgetrieben hätte, und da Ferrer noch nicht fortgehen wollte, so fragte er ihn, ob er noch etwas zu sagen habe.
– Wird es dein Bruder vernehmen?
– Reginald? versetzte Louis, nein, ich werde ihm nichts sagen.
– Tausend und tausend Mal Dank! O Louis, Louis, wie bist du gut!
– Willst du nun so gut sein und mich allein lassen? sagte Louis sanft, aber mit entschiedenem Ernste.
Ferrer gehorchte jetzt endlich. Louis aber setzte sich wieder in den Schatten des Wagens, und während er die schöne Aussicht genoß, dachte er über das so eben Geschehene nach. Er mußte sich gestehen, daß er eigentlich nicht der Neigung seines Herzens, sondern nur der Gewalt nachgegeben habe, als er Ferrer versprach, von der Sache zu schweigen, und daß er eigentlich nicht aus Großmuth so gehandelt habe. Er fing wieder an, sein Loos hart zu finden, und war innerlich unzufrieden. Einige Augenblicke blieb er in einem Zustande der Unempfindlichkeit und war nicht fähig zu beten, obgleich er überzeugt war, daß nur der Herr allein ihm helfen könne. Endlich rollten ihm die heißen Thränen über die Wangen herunter, und er bedeckte das Gesicht mit den Händen und sagte: Es ist sehr unrecht von mir, so undankbar gegen den lieben Gott zu sein, der so gut gegen mich ist. Er hat so viel Geduld mit mir, und ich will nicht einmal ein wenig Geduld mit dem armen Ferrer haben. O, was für ein gottloses Kind bin ich! Mein lieber himmlischer Vater, lehre du mich, wie ich Geduld haben kann mit dem armen Ferrer; denn niemand erbarmt sich über ihn; hilf du ihm und lehre ihn, sich selbst erkennen und Buße thun.
So betete der kleine Louis, und er wurde auch erhört. Seine böse Laune verschwand, und Ruhe und Heiterkeit kehrte in sein Herz zurück. In demselben Augenblick kam der kleine Alfred und kündigte an, daß der Lehrer Befehl gegeben habe, nach Hause aufzubrechen. Und ich bin gekommen, lieber Louis, fügte er hinzu, um dich abzuholen; denn ich will mit dir nach Hause gehen. Aber dieser Ferrer, das ist ein Kerl, ich sag's gewiß dem Eduard.
– Still, Alfred, still! sagte Louis, indem er seinen Finger auf den Mund des Knaben legte. Weißt du nicht, daß der liebe Gott Mißfallen an uns hat, wenn wir einander schlechte Namen geben? weißt du nicht, was unser Heiland uns gelehret hat: » Liebet eure Feinde, segnet die euch fluchen, und bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.« Und während der kleine Lehrer diese Worte hersagte, fühlte er selber etwas von ihrer Kraft; es gefiel ihm so gut: Kinder des Vaters im Himmel.
– Und ich bin ein Kind – ja, ein Kind dieses guten Vaters im Himmel. – O, ich will immer meinen Heiland lieben, der mir einen so schönen Namen gegeben hat.
Louis und sein kleiner Freund hatten sich gegenseitig den Arm um den Nacken geschlungen und gingen fröhlich ihres Weges, und Louis suchte den Alfred dahin zu bringen, daß er nichts von dem sage, was geschehen war, und er selbst war fröhlicher und zufriedener, als je zuvor.
Nur noch ein Wort, liebe Kinder! und ich will dieses lange Kapitel schließen. Erinnert euch daran, daß wir gar keine Kraft in uns haben, etwas Gutes zu thun oder zu denken. Wir müssen das wissen und glauben, wenn wir durch Jesum, unsern Heiland, selig werden wollen. Er allein kann uns gut machen, uns gute Gedanken und gute Wünsche geben, und wenn er im Herzen ist, so können wir alles thun, was recht ist; aber ein Kind, das ihn nicht liebt, bleibt immer ein böses Kind, selbst dann, wenn es von allen Leuten gelobt würde.