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Wo ist Louis Mortimer? fragte Hamilton am folgenden Samstag einige Zeit nach dem Mittagessen; weiß niemand, wo Louis Mortimer ist?
– Da bin ich, Hamilton, prêt à vous servir, rief Louis hinter der Thüre hervor.
– Hast du diesen Nachmittag etwas vor?
– Nein, Hamilton, ich verspreche nie etwas, wenn du mich zu haben wünschest, sagte Louis.
Hamilton warf einen zufriedenen Blick auf Louis; aber er ließ ihn nicht merken, wie viel Vergnügen ihm diese Antwort machte.
– Das ist nicht recht, Louis; ich will nicht, daß du meinetwegen ein Versprechen, welches du schon einem andern gegeben hast, nicht haltest.
– Aber wenn ich jedesmal die Bedingung vorausschicke, daß ich zuerst Hamilton fragen will, ob er mich wünsche, versetzte Louis lächelnd, so wirst du keine Einwendung mehr zu machen haben, oder?
– Ich denke, dieser Fall wird nicht sehr oft eintreten.
– Um Verzeihung, Hamilton, gerade diesen Nachmittag ist dies der Fall. Ich will dir sagen, ich habe in meiner Eitelkeit eigentlich darauf gerechnet, daß du mich einladen werdest, mit dir spazieren zu gehen, und so habe ich mein Versprechen nur bedingungsweise gegeben.
– Und wem hast du denn versprochen?
– O, ich wollte nur bei Casson bleiben, antwortete Louis etwas zögernd. Er hat Kopfweh; drum bat er mich, bei ihm im Zimmer zu bleiben, weil er nicht ausgehen darf.
– Casson! wiederholte Hamilton etwas verwundert und unwillig; war er's, mit dem du soeben gesprochen hast?
– Nein, ich habe Ferrer zugehört; er erzählte von einer Wette, die Frank mit Salisbury eingegangen.
– Aber wie kannst du nur die Gesellschaft des Casson derjenigen Clifton's vorziehen?
– Ich versichere dich, Hamilton, ich habe den Casson nicht so gern, wie du denkst; aber er bittet mich immer, der arme Junge. Ueberdieß hat Charles versprochen, mit West spazieren zu gehen. – Unsere Tage sind der Sonntag, der Montag und der Donnerstag.
– Wer ist jetzt der erste in der Klasse?
– Charles, antwortete Louis; o, er ist so geschickt, Hamilton!
– Ich weiß es, lieber Louis; aber du bist älter, mein Lieber, und auch kein Dummkopf, nur etwas träge. Wenn du nicht anders anfängst, so will ich nichts mehr mit dir zu schaffen haben.
– Das wäre schrecklich! sagte Louis, seine Hand in die Hamilton's legend; ich könnte es nicht aushalten ohne dich; du bist so gut gegen mich. Aber ich bin doch wirklich nicht so faul gewesen, Hamilton!
– Doch, Louis, du machst mich jetzt bald böse. Wenn ich dich nicht immer so überwachen würde, so wärest du schon längst wieder in deinem alten schleppenden Gang. Sage mir nicht mehr, du könnest nicht Schritt halten mit Clifton; du kannst es, wenn du willst.
Louis warf einen prüfenden Blick auf Hamilton's Gesicht und legte auch seine andere Hand in die, welche er schon hielt. Hamilton zog die seinige schnell zurück.
– Mademoiselle Louisa, sagte er, spare diese Zärtlichkeiten für die Augenblicke auf, wo wir allein sind; wir wollen hier nicht vor dem Publikum auf eine so rührende Weise Damon und Pythias spielen; es ist ja abgeschmackt.
Louis wurde roth und schien etwas beleidigt zu sein; aber er antwortete:
– Nicht wahr, ich bin manchmal ein wenig mädchenhaft?
– Versteht sich, mein Freund, sagte Hamilton, seine Hand auf Louis' Schultern legend; aber ich erlaube nicht, daß sich jemand über dich lustig macht, außer meine königliche Person.
– Gehen wir zu den Dünen? fragte Louis.
Ehe Hamilton antworten konnte, schrie Frank Digby: Versteht sich von selbst, Hamilton gehört zu uns.
– Zu euch? versetzte Hamilton.
– Wissen denn Ihre Majestät nicht, daß unter der Menge von Titeln und Würden, die Sie tragen, die Präsidentschaft des Ballspielklubbs nicht eine der geringsten ist?
– Wir werden unsern getreuen Sekretär beauftragen, unsern biedern Unterthanen unser Bedauern auszusprechen, daß wir heute Nachmittag keine Audienz geben können, indem wir einer Erfrischung in freier Luft und einer Erquickung unseres Gemüthes an den Schönheiten der Natur gar sehr bedürfen.
– Nein, Hamilton, rief Louis, du würdest ja mein ganzes Vergnügen zerstören!
– Nicht spielen! schrie Frank, dann machen wir eine Verschwörung, um Eduard den Großen zu entthronen, wenn er nicht augenblicklich nachgibt.
– Es könnte mir nichts lieber sein, sagte Hamilton, als wenn ich für diesen Nachmittag meines Thrones entsetzt würde; ihr würdet mir einen großen Dienst damit erweisen. Ich fürchte nur, ich werde der köstlichen Freiheit nicht lange genießen können; meine Unterthanen scheinen ohne mich nichts machen zu können.
– Nieder mit dem Liebling! schrie Smith, wir wollen keine Günstlinge. Wir werden dich behandeln wie alle Günstlinge der Könige, Louis, wenn du deinen Gebieter nicht bewegst, unserer Bitte nachzugeben.
– Das wäre ja ein Verrath an mir selbst und an meinem Vergnügen, rief Louis lachend, indem er vergebliche Anstrengungen machte, sich vom Boden zu erheben, wo Jones auf ihm kniete. »Zu Hülfe! zu Hülfe! Ihre Majestät.«
– Zu Hülfe! zu Hülfe! schrie Reginald, herbeispringend, der die Gelegenheit nicht versäumen wollte, beim Lärm zu sein. Er wollte seinen Bruder Louis hervorziehen, konnte es aber nicht, weil sich noch mehrere auf ihn warfen.
– Ihre Majestät sehen, rief Frank, daß eine Revolution ausgebrochen ist. Ein königliches Wort wird hinreichen, sie zu dämpfen.
– Ich habe Louis Mortimer versprochen, mit ihm spazieren zu gehen, und ich gehe nicht von der Stelle ohne ihn, sagte Hamilton.
– Wir können dich nicht entbehren, Hamilton, sagte Trevannion, der jetzt auch herbeigeeilt war; du hast dich für jedes Spiel verpflichtet.
– Ja, aber eine Sitzung darf nie anberaumt werden ohne Vorwissen des Präsidenten, – Herr Sekretär.
– Wie es dir beliebt, antwortete Trevannion kalt und stolz.
– Laß doch den Louis aufstehen, Jones! sagte Hamilton.
– Wird Ihre Majestät mitspielen oder nicht? sagte Jones, der immer noch auf Louis kniete.
– Laß erst den Louis gehen; denn werde ich dir antworten.
Jones ließ Louis los, der sich keuchend und lachend erhob, sich seiner wiedererlangten Freiheit freuend.
– Ich werde spielen unter der Bedingung, daß Louis mitspielt.
– Versteht sich, schrie man.
– Aber der kleine Mann kann ja nicht spielen; oder? mein Kerlchen, sagte Smith.
– Er kann es lernen, sagte Hamilton, der wohl wußte, daß Louis nichts davon verstand.
– Ich habe nichts dagegen, sagte Jones, weil ich auf der Seite der Gegenparthei bin.
– Ich auch nicht, schrie Salisbury, obgleich es mehr als wahrscheinlich ist, daß ich gegen den kleinen Helden verlieren werde.
– Aber ist's nur möglich, sagte Trevannion, wie könnt ihr nur wegen dieses kleinen Kerls so viele Geschichten machen; er ist uns nur im Wege; wenn ihr ihn entbehren könnt, so soll er auf der Seite stehen und uns zusehen.
– Ich liebe das Spiel nicht, sagte Louis.
– Halt dein Maul, dummer Junge! schrie Salisbury!
– Ich werde euch nur im Wege fein, fuhr Louis fort, wie Trevannion gesagt hat; ich bin gewiß, daß ich das Spiel nie lernen kann.
– Patientia et perseverantia omnia vincunt! schrie Frank; das kann auf dreierlei Art übersetzt werden, entweder:
»Geduld und Zeit
Hebt Schwierigkeit;«
oder:
»Man muß nie sagen:
Ich kann das nicht lernen;«
oder endlich:
»Wenn's ein- und zweimal dir mißglückt,
versuch's ein drittes Mal.«
– Louise, ich muß mich ja deiner schämen, sagte Hamilton; und du mußt wirklich etwas mehr Energie entwickeln.
– Bravo, Hamilton, sagte Reginald; jag' ihn etwas in's Feuer!
Es blieb dem armen Louis nichts übrig, als in den sauren Apfel zu beißen, nachdem er von Salisbury und Hamilton ein paar tüchtige, obgleich ganz freundschaftliche Püffe erhalten hatte. Trevannion zeigte seine böse Laune auf jede Weise; aber man achtete nicht auf ihn. Der Spielplatz wurde abgesteckt und Louis in seine Rolle eingeweiht. Hamilton übernahm die Schutzherrschaft über ihn, worin ihm Reginald und Salisbury beistanden. Louis spielte mit; aber als er wieder zu Hause ankam, wußte er nicht, wie viele von seinen Fingern noch ganz waren. Er hatte jedoch das Spiel schon etwas lieb gewonnen; denn seine Freunde hatten sich alle Mühe gegeben, ihm dasselbe beizubringen. Sie applaudirten seinen Erfolgen und lachten ihn hinwiederum herzlich aus, wenn er zu furchtsam war.
Als die Spielgesellschaft wieder in den Hof zurückgekehrt war, nahm Salisbury einen silbernen Bleistifthalter aus der Tasche und sagte zu Frank: Du wirst wissen, Frank!
– Denkst du denn, daß ich ein so kurzes Gedächtniß habe, Meister Salisbury? erwiederte Frank.
– Was gibt's, Salisbury, fragte Jones.
– O, es ist nur eine Wette.
– Eine Wette! versetzte Hamilton, welche Dummheiten hat denn Frank wieder angesponnen?
– Er hat eine Wette gemacht, daß Casson eine von ihm bereitete Medizin verschlucken werde. Ich habe meinen silbernen Bleistifthalter gegen den ganzen Inhalt seiner Börse gewettet, daß er das nicht zu Stande bringen könne; Casson ist zu listig.
– Ich kann nicht begreifen, sagte Hamilton, wie Frank sich so vergeben kann, einem so gemeinen und stupiden Menschen, wie Casson ist, einen Streich zu spielen.
– Frank erwiederte lachend: Nun, er hat mich letzthin zweimal erwischt; ich will es ihm jetzt heimzahlen.
– Aber ich glaube, er ist unwohl, sagte Louis.
– Um so besser wird ihm meine Medizin bekommen, sagte Frank.
– Du wirst mit deinen dummen Streichen gewiß noch einmal in's Netz gerathen, Frank, bemerkte Hamilton. Sie sind überdies eines gebildeten Menschen sehr unwürdig.
– Was ist das? Wer geht dort? sagte Frank, die Aufmerksamkeit der ganzen Gesellschaft auf die Erscheinung einer langen weiblichen Gestalt hinlenkend, die, in einen schwarzen Rock und eine altmodische Haube eingehüllt, einem großen Fernrohr nicht unähnlich sah und aus dem Hause über den Spielplatz wanderte. Diese Frau war niemand anders als die Haushälterin des Doktors Wilkinson, bekannt bei den Zöglingen unter dem Namen Frau Gruffy und bei andern Leuten unter dem Namen Frau Guppy.
– Ist es nicht Gruffy? Es fehlt nicht; wo will sie nur hingehen?
Ohne die Antwort abzuwarten, sprang Frank in's Haus hinein und verschwand in den Regionen der Küche, die sonst den Zöglingen verboten war.
– Was will Frank? sagte Meredith; es gibt heute Abend wieder was Ergötzliches.
– Ich habe diese ewigen Späße bald satt, sagte Hamilton etwas böse. Komm Louis, wir wollen einen kleinen Spaziergang machen.
Kaum hatten sie ein paar Gänge im Garten gemacht, als die Glocke zum Thee rief und Frank wieder mit freudestrahlendem Gesicht erschien.
– Es ist gelungen, Salisbury! schrie er, seinen Hut in die Luft werfend, es ist gelungen! zwei Fliegen mit einer Klappe! Ich gewinne die Wette, es ist alles eingeleitet; nur muß man mir erlauben, die Uhr im Schulzimmer um eine halbe Stunde vorzurücken.
– Das war nicht unter unsere Bedingungen aufgenommen, sagte Salisbury.
– Aber jedenfalls auch nicht ausgeschlossen, erwiederte Frank.
– Ja, schrien einige, laßt ihn machen!
– Aber ihr müßt nichts sagen! bemerkte Frank.
– Ich verspreche nichts, sagte Hamilton.
– Das ist einerlei, erwiederte Frank lachend; ich hoffe, du wirst deinen Mund halten.
Nach dem Thee verschwand Frank auf geheimnißvolle Weise.
Salisbury hatte sich soeben an seine Arbeit gesetzt, als man ihm die Botschaft brachte, daß die Haushälterin ihn zu sprechen wünsche.
– Das alte Weib! rief er aus, was will denn die mit mir? Wenn sie etwas hat, warum kommt sie nicht selber? Was braucht sie mich in meiner Arbeit zu stören? Daß mir nur niemand meinen Platz nimmt; ich bin gleich wieder da.
Es verging längere Zeit, und Salisbury kam nicht zurück; da fragte man sich, was wohl Frau Gruffy Bedeutet: Frau Sauersüß. so lange mit Salisbury zu verhandeln habe.
– Wo ist Frank? fragte einer. Geh' doch, Peters, und sieh', ob Casson noch im andern Zimmer ist.
Peters war im Augenblick wieder da, mit der Nachricht, Casson sei schon seit einiger Zeit zu Bett gegangen.
– Ich vermuthe, die Komödie habe angefangen, sagte Meredith; Salisbury ist schon mehr als eine halbe Stunde fort, und ihr könnt glauben, er ist keine Meile von Frank entfernt.
Plötzlich öffnete sich die Thüre. Salisbury stürzte herein, setzte sich auf den Boden, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, wie wenn er zu schwach wäre, sich aufrecht zu halten, und fing an, entsetzlich zu lachen, ohne dabei ein Wort zu sagen. Er lachte so außerordentlich und ohne Unterbrechung, daß die Heiterkeit allgemein wurde und bald die ganze Gesellschaft mitlachte, ohne zu wissen warum.
– Nun, Salisbury, es ist jetzt genug, erzähl' uns doch, was du hast! Was ist denn geschehen? was hast du denn? Hör' doch auf zu lachen, dummer Kerl, du Hanswurst! Sei doch vernünftig!
– Vernünftig! kicherte Salisbury, mit dem Kopf an eine Bank lehnend. – He, halte mich doch jemand! Ich kann's nicht mehr aushalten; es ist zum Bersten.
– Aber was gibt's denn? sprich doch einmal! sagte Reginald, indem er seinen Platz verließ und mit drohenden Geberden auf Salisbury zuging.
– Frank! fing Salisbury an, und ein neuer Lachanfall erstickte seine Stimme.
– Setze ihm den Kopf ein wenig zurecht, Mortimer! sagte Jones.
– Ja, schütt' ihm ein wenig Verstand ein! rief ihm ein anderer zu.
– Nun, es ist jetzt genug, Salisbury, riefen mehrere, auf ihn zugehend. Wenn du jetzt nicht sprechen willst, so wollen wir dich's lehren.
Salisbury erhob sich und wischte die Augen aus.
– Ich habe in meinem Leben noch nie jemanden gesehen, der sich solche Mühe gab, sich selbst einen Nasenstüber zu versetzen. – Ich weiß nicht, ob ich meinen Lachkrampf überwinden kann; ich will versuchen, euch die Sache zu erzählen.
Louis sah Hamilton an. Er hätte sich auch gerne unter Salisbury's Zuhörer gemischt; aber Hamilton schrieb fort und schien entschlossen, weder Louis hingehen zu lassen, noch selber der Erzählung Aufmerksamkeit zu schenken.
– Ihr wißt, daß Frau Sauersüß nach mir geschickt hat. Ich war nicht sehr gut gelaunt, wie ihr euch denken könnt; dennoch verfügt' ich mich ohne Zögern zu der Lady, die ich, in einen großen, weiten Schlafrock gehüllt, antraf, mit der Brille auf der Nase, ihren gewöhnlichen Haarwald über der Stirne, umgeben von einer Menge kleiner Bursche, die sie in's Bett beförderte. Sie stand gerade vor Cassons Bette mit wahrer mütterlicher Sorgfalt und Zärtlichkeit.
– Entschuldigen Sie, Meister Salisbury, sagte sie, ich werde gleich kommen.
– Sie kam mir ein wenig sonderbar vor; doch war ihre Sprache wie gewöhnlich. Ich war ziemlich unwillig auf sie, und sagte daher: Ich bin sehr beschäftigt; Sie können mich ja rufen lassen, wenn Sie fertig sind. Darauf kam die Lady mit mir hinaus, und im Gang draußen sagte sie mit der deutlichen Stimme Frank Digby's zu mir: Du kannst mich daran erkennen, daß ich bei'm Scheine einer römischen Lampe eine schwarze Medizin fabriziren werde.
Salisbury brach in neues Lachen aus, in welches die ganze Gesellschaft, mit Ausnahme Hamilton's, wieder einstimmte.
– Ihr könnt euch vorstellen, sagte Salisbury, sobald er wieder zu sich selbst gekommen war, daß ich jetzt nicht mehr so pressirt war; vielmehr stellte ich mich hinter der Thüre auf, um die Komödie abzuwarten. Ich sage euch, ich habe noch nie etwas so sprechend Aehnliches gesehen – seine Sprache und alle seine Bewegungen waren täuschend ähnlich; die wilden Haarbüschel hingen über seine Stirne, und um seine Nachtmütze hatte er ein Schnupftuch gebunden, welches den untern Theil des Gesichtes bis an die Nase verdeckte, gerade so wie Frau Gruffy letzthin aussah, als sie Zahnweh hatte; und nun ging er so mütterlich besorgt um den kleinen, kranken Jungen herum, daß es ein rührender Anblick war. Sally half ihm dabei, so gut sie konnte, und ahnte nicht das Geringste, daß es nicht Frau Gruffy sei. Aber das Schönste kommt noch, fuhr Salisbury fort, nachdem er wieder einige Pausen gemacht hatte, um zu lachen. – Er rührte eben, in einer Tasse einen kalten Thee von Tinte, Wasser, geschabtem Bleiweiß, Staub, Zucker, Senf und Salz, da glaubt' ich auf einmal bekannte Tritte zu hören. Kaum hatte ich Zeit, hinter die Thüre zu kauern, als sich dieselbe weit öffnete und der Doktor hereintrat.
Ein schallendes Gelächter erfolgte auf diese Erzählung; selbst Hamilton's Lippen verzogen sich, obgleich er den Kopf nicht aufhob. Sobald Salisbury wieder zu sprechen im Stande war, fuhr er fort:
– O Meister Frank! dachte ich bei mir selber, diesmal bist du gefangen. Wie es ihm zu Muthe war, kann ich nicht sagen; aber er stellte sich sehr in sein Geschäft vertieft, und als der Doktor vor ihm stand, zog er das Schnupftuch bis über die Nase hinauf. Ich glaube, der arme Kerl mußte fast ersticken.
– Haben Sie Zahnweh, Frau Gruffy? fragte der Doktor, und denkt euch die Unverschämtheit des Burschen – er sagte mit leidender Stimme: ja. – Wie geht's der Frau Clark heute Abend? fragte der Doktor weiter, ich habe gehört, sie habe diesen Nachmittag ein wenig schlafen können. Frank wußte gewiß so wenig als ich, wer diese Kreatur ist, wenigstens ich weiß nicht, wer das ist; aber Frank antwortete ganz genau in demselben Tone wie Frau Gruffy, wenn sie in ihr Schnupftuch eingemummt ist: »Es geht ihr etwas besser; – als ich sie das letztemal besuchte, schlief sie, und ich wollte ihre Ruhe nicht stören.« – Und wer ist denn dieser Patient? fragte der Doktor.
Salisbury's Zuhörerschaft gerieth wieder so in's Lachen, daß er für einen Augenblick innehalten mußte. Louis stimmte auch mit ein, obgleich Hamilton's ernstes Gesicht ihm viel sagen wollte.
– Aber wirklich, Hamilton, sagte Louis, ich begreife nicht, wie Frank so arge Späße treiben kann.
– Er glaubt nicht, daß das Späße seien, sagte Hamilton trocken.
– Und dann, Salisbury? schrieen einige Ungeduldige, wie ist's dann gegangen? Wie hat sich Frank herausgebissen? Ach, Salisbury, es ist nicht wahr; Frank hat es nicht gewagt, mit dem Doktor Spaß zu treiben.
– Da sagte der Doktor zu ihm: Wer ist dieser Patient, Frau Guppy? Es ist Casson. Was fehlt dir, mein Kind? Wie lange bist du schon im Bette? – O, ich bin erst jetzt zu Bette gegangen, sagte Casson. Hierauf richtete der Doktor einige Fragen an die Gruffy über Casson's Schnupfen und Kopfweh etc. Wahrscheinlich hatte aber Frau Guppy einen neuen Anfall ihres Zahnwehs, wenigstens antwortete sie dem Doktor nur sehr abgebrochen und einsilbig, warum sie für gut gefunden habe, den Knaben in's Bett zu sprechen. – Hier ist eine Arznei für ihn, sagte sie. – Der Doktor betrachtete den Inhalt der Tasse mit merkwürdigen Augen. Ich glaube, Frank habe angefangen, sich zu fürchten; aber er nahm sich wieder zusammen und rührte seine Mixtur, die er jetzt dem Casson mit mütterlicher Sorgfalt einzwingen wollte. Da öffnete sich plötzlich abermals die Thüre, und die wahrhaftige Gruffy, wie sie leibt und lebt, kam zum Vorschein. Der Doktor drehte sich um. – Was für eine Scene – o, wenn ein Maler da gewesen wäre! – Ich duckte mich hinter die Thüre; denn ich hatte Furcht, der Doktor möchte mich erblicken. Die Vogelscheuche näherte sich dem Doktor – sie war wie vom Himmel gefallen, denn sie konnte dieses Phänomen nicht verstehen. – Ganz verblüfft stand sie da und wußte nicht, was sie sagen sollte. – Ich weiß nicht, was Frank für ein Gesicht machte, denn er kehrte nur den Rücken zu; aber man kann sichs ungefähr denken. – Der Doktor sah bald die Gruffy, bald Frank an. Er wurde roth im Gesichte und warf gebieterische Blicke um sich. – »Der arme Frank!« schrien einige Stimmen lachend. – Endlich fand der Magister Worte, und rief aus: Frau Guppy! Wer ist denn diese da? – Gruffy betrachtete ihr Ebenbild und sagte: »Ja, Herr Doktor, das weiß ich nicht; Sie müssen sie selber fragen.« Was nun weiter geschah, weiß ich nur unvollständig; denn ich hielt es für's Beste, mich hinaus zu machen; allein es scheint, der Doktor habe die Geschichte gleich errathen, denn die letzten Worte, die ich ihn sagen hörte, waren: » Digby, das ist ein arger Spaß! Was ist dir denn eingefallen?« – Frank murmelte etwas; ich konnte aber nur die Worte vernehmen: eine Wette, ein kleiner Spaß, ich wollte nichts Böses machen etc. Der Doktor hielt ihm eine Strafpredigt, die also schloß: »Wenn du mit deinen elenden Späßen fortfährst, so kannst du dir einen andern Ort suchen; mein Haus ist kein Narrenhaus.« Alle die kleinen Jungen lachten bei diesen Worten; aber der Doktor gebot ihnen mit einer Donnerstimme » Ruhe!« und dann fragte er Frank, was er in der Tasse habe. – »Kalten Thee, Herr Doktor,« sagte Digby ganz demüthig. – »Und was ist auf dem Boden der Tasse?« – »Zucker, Sir.« – Ich sah das Gesicht des Doktors – er verstand in dem Augenblick keinen Spaß; aber doch bemerkte ich ein schadenfrohes Lächeln, als er Frank die Tasse gab, und ihm befahl, dieselbe auf der Stelle auszutrinken, und Digby mußte seine Medizin nun selbst einnehmen.
Eine förmliche Lachwuth ergriff jetzt Salisburys Zuhörer, und selbst Hamilton konnte sich nicht enthalten, laut zu lachen.
– Dann sagte der Doktor, so erzählte Salisbury weiter, er hoffe, diese Arznei werde ihm gut zuschlagen – und er wurde wieder ernster und befahl Frank, der Frau Gruffy ihre Kleider zuzustellen und sie für seine Unverschämtheit um Verzeihung zu bitten.
– Und er hat es gethan, Salisbury? fragte Jones.
– Freilich, er mußte ja; ich hätte nicht an seinem Platze sein mögen, wenn er es verweigert hätte; aber er fügte hinzu (ich begreife wirklich gar nicht, wie er das durfte): Ich habe Ihnen viele Mühe erspart, Frau Guppy; denn ich habe sechs Knaben zu Bette gebracht.
– Ist's möglich! rief Hamilton.
– Was sagte der Magister? fragte Smith.
– Wie, vor meinen Augen? schrie der Doktor wüthend. Ich weiß nicht, was er jetzt machte; ich sah aber, daß Frank Furcht hatte und den Doktor so demüthig um Verzeihung bat, daß dieser ihm nur eine gelinde Strafe verordnete, nämlich bis nächsten Mittwoch Abend fünfhundert Zeilen aus Virgil zu übersetzen; sodann schickte er ihn zu Bette, und Frank gehorchte; denn er hatte diesmal Furcht, ich versichere euch.
– Ich wollte was drum geben, wenn ich ihn gesehen hätte, rief einer, nachdem das Lachen sich gelegt hatte.
– Und mir scheint, sagte Jones, daß der Doktor noch gelinde mit ihm verfahren ist.
– O, ich glaube, Digby ist ein wenig des Doktors Liebling, sagte Meredith.
– Bewahre, sagte Reginald. Oder was meinst du, Hamilton?
– Nichts, sagte Hamilton trocken.
– Du bist sehr strenge, Hamilton, sagte Jones; man darf ja nicht den kleinsten Spaß machen.
– Nein, diese Art Späße kann ich nicht leiden.
Dieses Abenteuer lieferte noch für manchen Abend Stoff zur Unterhaltung; Frank mochte sich lange den Schein geben, als ob es ihm einerlei sei; obgleich er allemal in das Lachen seiner Kameraden mit einstimmte; wenn die Geschichte wieder zum Vorschein kam, war er doch nicht wenig ärgerlich über das Mißlingen seines Streiches, und er hatte seine ganze Kraft zusammenzunehmen, um durch die Neckereien seiner Kameraden und das kalte, gleichgültige Betragen seiner Lehrer nicht beleidigt zu erscheinen.
Casson ließ es sich sehr angelegen sein, diesen Streich den kleinern Zöglingen zu erzählen und dieselben gegen Digby einzunehmen. Aber die obern Klassen sahen jede spöttelnde Bemerkung gegen eine Person ihrer Gesellschaft für eine Beleidigung des ganzen Korps an, und mit vereinter Kraft wurde den kleinen Schreiern der Mund gestopft.