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XX

Laßt euch nicht verführen. Böse Geschwätze
verderben gute Sitten.

1 Cor. 15, 33.

In den darauf folgenden Tagen wurde Louis von den Großen mit empörendem Stolz behandelt. Hamilton nahm zwar keinen Antheil an diesem Betragen gegen ihn; doch verhielt auch er sich ganz anders gegen Louis als bisher. Der einzige, welcher ihm noch treu blieb, war Clifton. Diesem erlaubte aber sein Fleiß nicht, sich viel mit ihm abzugeben. Louis setzte sich des Abends nicht mehr zu Hamilton, sondern nahm seinen Platz an der Seite seines Freundes Clifton. Hamilton sah das zwar sehr ungern; allein er begnügte sich damit, daß er ihm von Zeit zu Zeit bedeutungsvolle Blicke zuwarf. Ein wohlwollendes Wort von jenem würde hingereicht haben, Louis wieder glücklich zu machen und auf bessern Weg zu führen; aber diese Verachtung von Seite seines ehemaligen besten Freundes schnitt ihm tief in's Herz und vollendete seine Gleichgültigkeit und Muthlosigkeit.

Am dritten Abend nach jener denkwürdigen Scene saß Louis wieder neben seinem Freunde Clifton, als Trevannion mit einem Bogen Papier und einem Bleistift in der Hand in's Zimmer trat und am obern Ende des langen Tisches Platz nahm. Die Zöglinge der ersten Klasse schienen eine geheime Gerichtssitzung halten zu wollen, und allem Anschein nach war Trevannion Vorsitzender. Wie von ungefähr fielen seine Blicke auf Louis; er legte seinen Bleistift nieder und nahm ein Buch, um darin zu lesen; wenigstens that er, als ob er läse.

– Nun, was ist das, Trevannion? fragte Salisbury, willst du uns zur Erbauung einige Stellen aus Homer als Einleitung vorlesen, oder willst du uns etwa auf eine feine Weise zu verstehen geben, daß erst auf die Arbeit das Vergnügen folge?

– Es ist vielmehr, um uns zu verstehen zu geben, daß es Leute gibt, die lange Ohren und spitzige Zungen haben, sagte Frank.

– Will Louis Mortimer vielleicht so gut sein, sagte Trevannion kalt und gebieterisch, heute Abend seine Studien etwas abzukürzen; wir hätten wichtige Sachen zu verhandeln.

– Was geht mich das an? sagte Louis erröthend.

– Wir haben ganz einfach den Wunsch, sagte Trevannion, daß das, was wir besprechen werden, nicht schon morgen vor Sonnenaufgang eine Rundreise durch unser Land gemacht habe, und aus diesem Grunde, Mister Louis, wollen wir dir erlauben, unsere Gesellschaft zu verlassen.

– Und das ohne viele Umstände, mein lieber Herr Mortimer, rief ihm Jones zu. Willst du nicht vielleicht dich gleich entfernen?

– Nun, mach' dich unsichtbar! sagte Meredith.

– Ich muß hier meine Aufgaben lernen, antwortete Louis.

– Kannst du diese nicht im andern Zimmer lernen? was hindert dich daran?

– Es beliebt mir nicht, fortzugehen.

– Es beliebt mir nicht! wiederholte Jones. Das wollen wir doch sehen! Willst du freiwillig gehen, oder sollen wir dich hinausführen?

– Dazu habt ihr kein Recht, schrie Louis; ich habe eben so viel Recht, hier zu bleiben, als ihr.

– Ho, ho! schrie Jones, wir werden dir gleich zeigen, daß hier das Recht des Stärkern gilt. Salisbury, willst du so gut sein, ihm den Weg zu zeigen?

– Die Unverschämtheit dieses Jungen wird immer größer, bemerkte Frank.

Hamilton befand sich an diesem Abend nicht im Zimmer, so daß sich also niemand fand, der Reginald in seinem Widerstande gegen die an seinem Bruder ausgeführte Exekution hätte beistehen können, und in wenigen Minuten war nicht bloß Louis, sondern auch Reginald aus dem Zimmer geschafft.

Reginald pochte in seiner Wuth mit Händen und Füßen an die Thüre; aber durch einen Lehrer davon abgemahnt, begab er sich in den Garten, kroch zu einem Fenster hinein in's Zimmer und öffnete seinem Bruder Louis die Thüre wieder. Das ging alles so schnell, daß die Gegner ganz erstaunt waren und gar keine Zeit fanden, ihn in seinem Laufe aufzuhalten.

Nun gab es eine neue Scene, die so heftig ward, daß ein Lehrer herbeikam. Derselbe verhalf Louis zu seinem Recht und befahl, ihn in Ruhe zu lassen. Man machte ihm jedoch seinen Aufenthalt so angenehm, daß er es vorzog, das Zimmer zu verlassen. Er begab sich zu Casson, bei dem er den Rest des Abends zubrachte.

Die Unterhaltung mit einem trägen und nachlässigen Knaben kann nichts Gutes zur Folge haben. Casson bemühte sich, seinem Freunde Louis zu schmeicheln und ihn über das erlittene Unrecht zu trösten, und erzählte ihm aus seinem eigenen Leben allerlei Erfahrungen, von denen Louis bisher nicht die geringste Ahnung gehabt hatte. Man kann sich denken, was jetzt aus unserm Louis werden mußte, seitdem er die Gesellschaft der Verrufensten im Hause aufsuchte. Er wurde nachlässig in seinen Pflichten und bekannt mit allerlei schlimmen Dingen, die ihm vorher ganz fremd gewesen waren. Casson suchte ihn gegen einen Lehrer, Herrn Danby, einzunehmen, indem er behauptete, derselbe sei tyrannisch und ungerecht. Gegen einen andern Lehrer, der nicht das Glück hatte, einen solchen Charakter zu besitzen, durch welchen er sich die Liebe und Freundschaft der Zöglinge erworben hatte, fühlte Louis eine Art Mitleiden, und der gute alte Mann, welcher Louis' Zuneigung fühlte, erwiederte ihm dieselbe mit aufrichtiger Herzlichkeit. In seinen Pflichten wurde Louis immer nachlässiger, und sein Sinn wurde von Tag zu Tage böser; aber in demselben Maße fühlte er sich auch in seinem Innern unglücklicher.

Es währte nicht gar lange, so vernahm der Doktor die Veränderung, welche sich mit Louis zugetragen hatte. Er beschied ihn zu sich und redete ihm ernstlich zu. Louis hörte ihn sehr bescheiden an und war betrübt, besonders auch darüber, daß er seinen Lehrern so viel Kummer gemacht habe. Wie gerne hätte er dem Vorsteher erzählt, wie sich alles zugetragen hatte; denn er besaß großes Zutrauen zum Doktor, als der einzigen Person, die in der ganzen Zeit, seit er in Ungnade gefallen, freundlich mit ihm umgegangen war. Aber er wagte es nicht, zumal da der Doktor ihn ermahnte, dem Beispiel Hamilton's und Clifton's zu folgen; denn er sah daraus, daß der Doktor nicht wußte, wie er auch Hamilton's Gunst verloren habe. Unglücklicherweise war dem Doktor unbekannt, daß Louis Casson's inniger Freund war; auch kannte er denselben noch nicht als einen bösen und faulen Knaben. Die freundlichen Worte des Doktors machten auf Louis großen Eindruck, so daß er sich während der nächstfolgenden Tage sehr pflichtgetreu erwies und sich vor allem dem hütete, was unangenehme Folgen für ihn hätte haben können. Diese Besserung war aber leider nur von sehr kurzer Dauer. Wie hätte es auch anders sein können, da Louis nicht mehr betete, und ihm also die zum Guten nöthige Kraft fehlte? Er fiel daher wieder in sein altes Wesen zurück und hatte Umgang mit den schlechtesten Subjekten der Anstalt. Hätten doch diejenigen, die ihm früher so geschmeichelt hatten, bedacht, daß sie ihn durch ihre Liebe wieder auf den guten Weg zurückführen könnten! Aber diese waren weit entfernt, das zu fühlen oder einzusehen.

Eines Tages stand Louis bei Hamilton und wagte es, ihn zu fragen, ob er ihm noch zürne. Hamilton erklärte ihm stolz und kalt, sein Betragen sei von der Art, daß es sich gar nicht der Mühe lohne, sich um ihn zu kümmern, folglich auch nicht, böse auf ihn zu sein. Louis wandte sich unwillig von ihm ab mit dem Entschlusse, nie mehr mit ihm zu reden. Das Gewissen machte Hamilton allerdings Vorwürfe über seine unkluge Härte, als er Louis zu Casson und Harris zurückkehren und alle drei in einer Ecke lachen sah; denn er vermuthete nichts Gutes. Er mußte sich gestehen, er selbst habe Louis gewaltsam in diese schlechte Gesellschaft gestoßen; aber er war zu stolz, um sich von seinem Throne herunterzulassen.

Es war an demselben Tage, als die Zöglinge des Hauses bei der Rückkehr von einem Spaziergange durch einen Fußpfad auf derjenigen Seite in den Garten eintraten, der gegenüber der Besitzung des Doktors lag. Nicht weit von der Hecke standen am Fußwege einige Ställe. Der Fußpfad war ein öffentlicher Weg und aus dem Grunde den Zöglingen sonst verboten. Eine ziemlich hohe Mauer und eine hölzerne Thüre sperrten ihnen diesen Fußweg ab. Trotz des Verbotes sah man von Zeit zu Zeit gewisse Eichhörnchen ihre Kletterübungen machen; denn es befand sich nicht weit davon ein mächtiger Anziehpunkt, nämlich ein kleiner Kuchenladen, wo außer Kuchen noch andere Süßigkeiten zu haben waren; und die gute alte Frau, die Königin dieses Ladens, war immer bereit, den jungen Herren ihre Kommissionen auszuführen. Der Doktor hatte die Spuren dieser Exkursionen entdeckt; auch glaubte er bemerkt zu haben, daß das Obst in seinem Speicher sich vermindere. Diesmal also nahmen die Zöglinge den verbotenen Weg, und der Lehrer, welcher sie führte, vergaß, die hölzerne Thüre wieder zu schließen. Diese Gelegenheit benutzten einige, um bei ihrer alten Freundin, Mary Simmons, verschiedene Aufträge zu bestellen. Louis hatte auf dem Spaziergange Steine gesammelt, zu welchem Zwecke er gewöhnlich einen ledernen Sack bei sich trug. Beim Hofthor machte er einen Halt, um seinem Freunde Clifton seine Ausbeute zu zeigen; weil aber zu viele seiner Kameraden in der Nähe waren, so hielt es dieser für klüger, sich wegzubegeben. Louis wollte ihm folgen, wurde aber von Casson zurückgehalten und angeredet: – Aber, was für einen schönen Sack du hast, Louis! Borge mir ihn für einige Augenblicke; ich gehe zur Mama Simmons. Man könnte den ganzen Inhalt ihres Ladens hineinstopfen.

– Es sind Steine darin, sagte Louis, ihn zurückhaltend.

Casson ergriff den Sack und eilte davon. Erstaunt über diese Unhöflichkeit, ging Louis bis zum Hofthor zurück, um dort Casson's Rückkunft zu erwarten.

– Du siehst, ich habe deinen Sack nicht verschluckt; aber ich kann dir ihn erst zu Hause wieder geben.

– Aber wo sind denn die Steine? sagte Louis.

– Die sind noch im Sack. Was sollte ich damit gemacht haben? Was für ein prächtiger Behälter! Sag' mir, Louis, hast du diese Ställe da drüben am Fußwege schon gesehen?

– Nein, ich bin kein Freund von Ställen.

– Aber es gibt dort etwas, was sehenswerth ist, sagte Casson, und nun erzählte er Louis unter dem Siegel der größten Verschwiegenheit, daß der Doktor seine Aepfel eingesammelt habe und sie dort in einer Scheune aufbewahre, und daß er, Casson, und noch einige Kameraden fest entschlossen seien, den Aepfeln von Zeit zu Zeit einen Besuch zu machen. – Wir haben es oft so gemacht in unserer Schule, fügte er hinzu. Das gibt einen schönen Spaß, ich versichere dich, Louis. Ich habe an deinem Sack eine herrliche Entdeckung gemacht; du borgst ihn uns, und dann gehörst du zu unserer Gesellschaft.

– O Casson, rief Louis mit Abscheu aus, wie kannst du nur denken, daß ich mich zu so etwas hergebe!

Louis sprach diese Worte so laut, daß Casson ihm mit der Hand den Mund zuhielt.

– Man würde glauben, ich hätte dir den Vorschlag gemacht, einen nächtlichen Einbruch zu wagen, sagte Casson.

– Aber was ist denn das anders als ein Diebstahl? sagte Louis mit Unwillen.

– Unsinn!

– Ja, das ist gestohlen – sprich mir nicht mehr davon! Ich wollte, daß ich dich nie gekannt hätte.

Casson brach in lautes Lachen aus. Was für ein dummer Junge du bist, rief er. Ich denke, du wirst nun hingehen und diese Lumperei irgend einem guten Freunde mittheilen, damit eine recht große Geschichte daraus entstehe.

– Aber ist dir wirklich ernst, sagte Louis nach einer Pause, oder machst du nur Spaß?

– Es war nur Spaß, erwiederte der Boshafte; ich wollte mir nur das Vergnügen verschaffen, dich einmal zornig zu sehen.

Louis sah ihn an und schien seine Behauptung nicht recht glauben zu wollen. – Nun, so gib mir meinen Sack zurück, wenn du so gut sein willst, sagte er.

– Hat's denn so Eile? – Nur noch ein wenig Geduld; ich muß ihn zuerst leeren.

Louis folgte ihm in's Schulzimmer. Das Schreibpult Casson's war so angefüllt, daß der Inhalt des Sackes keinen Platz mehr daselbst fand; deßhalb erhielt Louis den Sack erst nach drei Tagen zurück. Doch schon am folgenden Tage hatte Louis die Schwachheit, ihn für eine neue Expedition zu Mary Simmons herzugeben.


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