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Wo viele Worte sind, da geht es ohne
Sünde nicht ab; wer aber seine Lippen
hält, der ist klug.
Sprüche Salomo's 10, 19.
Laß dich einen andern loben, und nicht
deinen Mund, einen Fremden, und nicht
deinen eigenen Lippen.
Sprüche Salomo's 27, 2.
Seit seinem Wiedereintritt in die Anstalt befand sich Louis, wie wir schon gesehen haben, in ganz andern Verhältnissen als vor den Ferien. Er war jetzt geliebt und geachtet von Lehrern und Zöglingen; aber diese neue Stellung war für sein Herz weit gefährlicher, weil Stolz und Eitelkeit sich gar häufig des menschlichen Herzens bemächtigen, sobald alles gut und glücklich geht. Bei seinem ersten Eintritt in die Anstalt hatte er sich fest vorgenommen, seinen Grundsätzen treu zu bleiben und sich um die Meinungen seiner Kameraden nicht zu kümmern, obschon er von Natur sehr schüchtern war, so daß jedes spöttelnde Wort einen tiefen Eindruck auf ihn machte. Wie groß seine Charakterfestigkeit war und was für Erfahrungen er machen mußte, haben wir gesehen; nun wartete seiner eine Versuchung ganz anderer Art.
Er besaß die Liebe und Gewogenheit fast aller seiner Mitzöglinge, und keiner fand sich mehr versucht, ihn zu verspotten; selbst diejenigen, die ihn sonst nie hatten leiden können, ließen ihn jetzt in Ruhe. Wir sehen hier erfüllt, was das Wort Gottes sagt: »Wenn jemandes Wege dem Herrn wohlgefallen, so macht er auch seine Feinde mit ihm zufrieden.« Sein Weg war nun mit Rosen bestreut, und ein blauer Himmel lächelte über seinem Haupte. Alle frühern Stürme hatte er vergessen; aber er vergaß ebenfalls, daß auch der heiterste Himmel in kurzer Zeit wieder umwölkt werden kann.
Eines Tages, als Louis und sein Bruder eben die Musikchöre einübten, wurden sie in den Saal gerufen, wo sie eine Dame und den Doktor antrafen. Die Dame stand mit dem Doktor unter dem großen Bogenfenster und bewunderte die herrliche Aussicht. Das Hereintreten der beiden Brüder wurde daher nicht bemerkt. Neben der Dame stand, den einen Arm auf die Lehne eines Sessels gestützt, ein junger Herr, welchen Louis augenblicklich als denjenigen erkannte, den er wenige Tage zuvor in Bristol mit Mistreß Paget gesehen hatte. Die Dame war eben mit dem Doktor in einem Gespräche begriffen, und ihre sanfte, angenehme Stimme klang lieblich in Louis' Ohr. Vielleicht klang sie ihm deßwegen so lieblich, weil er gerade die Worte vernahm: – Ich hätte den lieben Knaben schon längst gerne gesehen; meine Schwester hat mir so viel von ihm erzählt.
In diesem Augenblick wurden die beiden Knaben vom Doktor bemerkt, und er wandte sich gegen sie und stellte ihnen die Dame als Mistreß Normann vor.
– Ich bin Ihnen persönlich noch nicht bekannt, Mister Mortimer, sagte Mistreß Normann; aber ich habe viel von Ihnen gehört. Sie kennen Mistreß Paget?
– O ja, antwortete Louis.
– Sie ist meine Schwester, und da sie nicht selber kommen konnte, so hat sie mich beauftragt, Sie sammt Ihrem Herrn Bruder zu einem Besuche bei ihr einzuladen, wenn der Herr Doktor es gütigst erlauben will.
Louis sah den Doktor an; aber Reginald antwortete sogleich:
– Ich bin Ihnen sehr verbunden, Madame, und bitte Sie, Frau Paget unsre Entschuldigungen zu machen; aber es ist heute kein freier Tag, und wir können daher die freundliche Einladung unmöglich annehmen. Wenn Sie uns gefälligst erlauben wollen, zu einer Zeit zu kommen, wo wir keine Unterrichtsstunden versäumen müssen, so wird es für uns ein großes Vergnügen sein, mit Erlaubniß des Herrn Doktors von Ihrer Güte Gebrauch zu machen.
Der Doktor lächelte. Frau Normann wird einen Schüler gütigst entschuldigen, sprach er, dem der Wunsch, seine Studien nicht zu versäumen, allen andern Wünschen vorausgeht. Uebrigens habe ich meine Erlaubniß gegeben, und ihr könnt machen, was ihr wollt.
– Mistreß Paget wird sehr betrübt sein, wenn Sie nicht kommen, sagte Frau Normann. Können Sie die Einladung auch nicht annehmen, Mister Louis?
Louis wurde roth, zögerte, sah bald den Doktor, bald Reginald an, und wußte nicht, was er sagen sollte. Er hatte erst gestern den ersten Platz in der Klasse erhalten, und den hätte er nicht gerne wieder verlieren mögen, um so weniger, da er denselben während des ganzen Schulhalbjahres vielleicht nicht mehr hätte erringen können, indem ihm sein Freund Clifton wahrscheinlich zuvorgekommen wäre. Da aber Mistreß Normann in ihn drang, so nahm er endlich die Einladung an, und Reginald sollte am Nachmittag ebenfalls hinkommen. Louis eilte in sein Zimmer, um sich anzukleiden, und stieg dann mit Frau Normann und ihrem Sohne Henry in den Wagen.
Louis war unterwegs sehr gesprächig, und Frau Normanns Gesellschaft war ihm sehr angenehm; denn sie benahm sich überaus freundlich und wohlwollend gegen ihn. Er bemühte sich deßwegen, desto liebenswürdiger zu sein. Das wäre nun an und für sich kein sündliches Streben gewesen; es ward es aber dadurch, daß ihm Eitelkeit zu Grunde lag. Auch gereicht es unserm Louis nicht ganz zur Ehre, daß er in seinem Gespräch mit Frau Paget ein klein wenig heuchelte; denn, so wie er merkte, daß sie eine fromme Frau war, so fing er an, von Gefühlen zu sprechen, die er früher wohl gehabt hatte, die er aber in der letzten Zeit nicht mehr kannte; denn er hatte seine » erste Liebe verlassen.« Wir würden ihm jedoch sehr Unrecht thun, wenn wir glauben wollten, es sei seine Absicht gewesen, seine neue Freundin zu täuschen. Das wollte er durchaus nicht; wohl aber betrog er sich selbst, der gute Louis; denn er merkte nicht, wie sehr er in seinem Herzen zurückgekommen war, und vergaß, daß die Gnade Gottes nichts hilft, wenn sie nicht alle Tage erneuert wird. Louis verließ sich auf seine alten Erfahrungen von der Freundlichkeit des Herrn, und darum machte er keine neuen mehr.
Die Kutsche hielt vor einem Hause still, das in einem der schönsten Theile der Stadt Bristol lag. Die Gesellschaft verließ den Wagen und begab sich in's Haus, wo Louis von Frau Normann in einen prächtigen Saal geführt wurde, während ihr Sohn, der auf der ganzen Fahrt auch nicht ein Wort gesprochen hatte, sich mit den Pferden in den Stall begab.
Das Zimmer, in welchem sich Louis befand, war sehr schön und groß; aber mit Stühlen, Armsesseln, Sopha's, Tischen und einer Menge anderer Gegenstände von allen Formen und aus allen Zeitaltern der Weltgeschichte dermaßen angefüllt, daß nur ein geschickter Turner sich bis an's obere Ende des Zimmers glücklich hätte hindurchwinden können. Frau Paget saß auf einem weichen Sopha in süßer Ruhe; sie empfing ihren kleinen Freund mit der ihr eigenen Herzlichkeit.
– Ich bin eine Gefangene, sagte sie; ich habe den Fuß angestoßen und muß mich jetzt ruhig verhalten. Aber wo ist denn Mister Reginald?
Louis machte seine Entschuldigungen und sagte, derselbe werde am Nachmittag kommen.
– Setz' dich hieher zu mir und lass' uns ein wenig plaudern! Erzähle mir, was du machst, wie es dir geht, und wie viele Preise du bekommen wirst. Aber da fällt mir ein, du würdest vielleicht lieber an die Dünen hinuntergehen, oder ein wenig in der Stadt herumlaufen, oder vielleicht – aber, wo ist denn Henry? – Wo ist Henry, fragte sie den Diener, der soeben eingetreten war und ein Gemälde haben wollte, das auf einem kleinen Tische lag.
– Er ist im Stall, Madame.
– Ach, wie Schade! Er hat so ein niedliches, kleines Pferd, er hätte es dir zeigen können; du kannst's aber ein andermal sehen. Du wirst hier Langeweile haben, mein Lieber. Meine Schwester kann ein wenig mit dir spazieren gehen.
Louis versicherte sie, daß er lieber bei ihr bleiben wolle.
– Das ist sehr liebenswürdig von dir; es gibt wenige Knaben, die gerne bei einer alten, lahmen, langweiligen Frau sitzen.
Louis protestirte gegen diesen schönen Titel, und als Frau Normann hinausgegangen war, fing er an, zu erzählen, wie viel Vergnügen er unterwegs mit ihr gehabt habe und wie sehr er sie liebe.
Frau Paget hörte mit Wohlgefallen zu; wenn sie nur nicht in manchen Dingen etwas zu sonderbar wäre, sagte sie.
– Aber verzeih', mein Lieber, ich habe ganz vergessen, du mußt ja wohl hungrig sein. Sei so gut und zieh' einmal an der Glocke; man wird gleich das zweite Frühstück bringen. Ah, da kommt meine Schwester.
Frau Normann trat wieder herein und holte Louis in das Speisezimmer ab.
Als Louis einige Erfrischungen eingenommen hatte, begab er sich wieder in den Salon und nahm seinen alten Platz neben Frau Paget wieder ein, während Frau Normann sich vor ihnen in einen Sessel setzte und ihr Strickzeug zur Hand nahm.
– Welch' herrliche Aussicht! sagte Louis; ich glaube, es ist die schönste Aussicht in der ganzen Umgegend.
– O ja, sie ist wunderschön, erwiederte Frau Normann; aber die Aussicht von Ashfield ist auch sehr schön.
– Man hat mir gesagt, Ashfield habe eine sehr hübsche Lage, sagte Frau Paget. Wie Schade, daß man einen so schönen Ort zu einer Anstalt benutzt hat!
– Ei, warum denn? bemerkte ihre Schwester; gönnst du denn diesen armen Jungen das Vergnügen nicht?
– Ich denke eben, daß sie diese Herrlichkeiten nicht zu schätzen wissen; sie sind ja immer so unglücklich, wenn sie in der Schule sind, mag sich dieselbe befinden, wo sie will.
– O, ich versichere Sie, daß wir ganz glücklich sind; nur die erste Woche war ich etwas traurig.
– Ich glaubte, du werdest nicht mehr in die Schule zurückkehren? sagte Frau Paget.
– Ich hatte es auch gedacht; aber der Papa sagte, ich müsse wieder zurückkehren, und er versteht das besser als ich.
– Schön, mein Kind, daß du das einsiehst; aber bist du gerne wieder hingegangen?
– Es wäre sehr undankbar von mir, wenn ich nicht gern in Ashfield wäre. Der Doktor und alle meine Kameraden sind so gut gegen mich; es ist ganz anders als im ersten halben Jahre.
– Ich finde nichts Besonderes darin, daß sie gut gegen dich sind, versetzte die alte Dame. Ich denke, du wirst auch das nächste Mal die Medaille wieder bekommen; was meinst du?
– Ich weiß es nicht, sagte Louis, vielleicht. Ich denke, es wird schon gut gehen; aber wir wissen nie zum Voraus, was er von uns denkt. Es gibt zwei oder drei Knaben, die ich ein wenig fürchte.
– Es kommt mir vor, du solltest keine Ursache haben, jemanden zu fürchten, versetzte Frau Paget. Erinnerst du dich an die Geschichte, Charlotte, die ich Dir erzählt habe? – Der gute Junge, was der ausgestanden hat, nicht wahr?
– Gewiß, ja! versetzte Frau Normann. Nicht wahr, Die Zahl der Zöglinge ist groß, Mister Louis?
– Ja, Mistreß Normann, wir sind jetzt sechsundsiebenzig. Es sind so viele, daß ich nicht einmal die Namen von allen weiß.
– Ist dieser Ferrar oder Ferrer noch da? fragte Frau Paget.
– Ja, aber er ist jetzt ganz anders, versetzte Louis, indem er seine Freundin mit einer ernsten Miene ansah. Sie legte ihre Hand auf seine Stirn und liebkoste ihn freundlich.
– Er muß wohl sehr glücklich sein, einen solchen Freund zu haben. Man hätte ihn aber doch fortschicken sollen.
– O nein, Mistreß Paget, die Güte ist immer der beste Weg, sagte Louis. Dabei erinnerte er sich an jene unklugen Aeußerungen, die er voriges Jahr in Heronhurst hatte fallen lassen; deßhalb suchte er sie jetzt auf alle Weise wieder gut zu machen.
Die Unterhaltung drehte sich im Allgemeinen einzig um die Schule, und ihr wäret ganz erstaunt gewesen, wenn ihr gehört hättet, wie fein der kleine Louis die Sachen anzubringen wußte, um sein Lob aus dem Munde der guten Frauen hervorzulocken, und wie er seine liebenswürdige Person in den Vordergrund stellte, indem er von seinen Stunden, seinen Fortschritten, seinen Rivalen und seinen Freunden und unter diesen ganz besonders von Hamilton sprach.
– O, Hamilton ist ein guter Mensch, ich habe ihn sehr lieb und bin gewiß, Sie würden ihn auch lieb haben.
– Ist das der junge Herr, der letzthin bei dir war?
Louis bejahte es.
– Ich muß gestehen, daß er mir nicht sehr gefiel; man kann die Leute jedoch nicht beurtheilen, wenn man sie nur ein einziges Mal gesehen hat.
– O, ich versichere Sie, Mistreß Paget, rief Louis, indem er hastig aufstand, er ist manchmal ein wenig rasch; aber er ist so aufrichtig und gut. Doktor Wilkinson hat ihn sehr gerne, und mir ist er von großem Nutzen. Jeden Abend läßt er mich neben sich sitzen und muntert mich bei meiner Arbeit auf. Wenn Hamilton nicht wäre, so würde Clifton mich schon lange überflügelt haben.
– Letzten Sonntag habe ich bei'm Herausgehen aus der Kirche mehrere von diesen jungen Herren gesehen, und unter ihnen auch den Mister Hamilton; dich aber hab' ich nicht bemerkt. Sage mir, wer war wohl der junge Mann, welcher mit ihm ging. Er trug sich so ein und anständig.
– War er groß, schwarz gekleidet, mit einer hellen Weste?
– Ich weiß nicht, was für eine Weste er trug, sagte Mistreß Paget lachend; aber sein ganzes Wesen war so anständig und gefällig wie das eines ächten Gentleman. Er kam mir ziemlich groß vor, und ich glaube, er hat schwarzes Haar und schwarze Augen.
– Das muß Trevannion gewesen sein; er ist der schönste Knabe in der ganzen Schule, Salisbury ausgenommen.
– Wirklich, versetzte Mistreß Paget, einen bedeutungsvollen Blick auf Louis werfend.
Louis erröthete und schien ziemlich verlegen zu sein, obgleich ihm die Schmeichelei, welche in dem Worte und dem Blicke sich aussprach, nichts weniger als unangenehm war.
– Salisbury hat gar keine Aehnlichkeit mit Trevannion. Er ist eigentlich nicht so schön, allein er besitzt etwas sehr Einnehmendes. Es ist nur Schade, daß er sehr heftig und aufbrausend ist und sich manchmal etwas gemeiner Ausdrücke bedient. Er ist sehr beliebt in der Schule, was man von Trevannion nicht sagen kann; denn dieser ist stolz und sieht auf jedermann herab; darum hat man ihn im Allgemeinen gar nicht gern.
– Warum denn? fragte Mistreß Paget.
– Wie ich Ihnen sagte, er ist hochmüthig und so empfindlich; er wird im Augenblick böse, wenn man ihn nicht so behandelt, wie er es erwartet. Man würde nicht glauben, wenn man hört und sieht, wie er so schön reden und thun kann, daß er manchmal wieder so unangenehm sein könnte.
– Aber er scheint doch nicht ein böser Charakter zu sein, bemerkte Mistreß Paget.
– Nein, sein Charakter ist in der That nicht gerade schlimm. Er ist im Allgemeinen verträglich; aber wenn er sich beleidigt fühlt, so nimmt er eine so stolze und kalte Haltung an, daß er unausstehlich wird. So kann er es namentlich auch nicht ertragen, wenn er bemerkt, daß Hamilton außer ihm noch jemanden lieb hat. Letzten Samstag zum Beispiel war er sehr beleidigt, daß Hamilton mich eingeladen hatte, mit ihm nach Bristol zu gehen. Er wäre gerne mit ihm allein gegangen, und weil er das nicht konnte, so blieb er lieber zurück. Ich glaube, er ist ein wenig neidisch auf mich. Ich bat Hamilton, er möchte ihn mitnehmen und mich zu Hause lassen; allein dieser wollte nicht. Es that mir sehr leid, die beiden alten Freunde entzweit zu sehen, und ich wäre gerne zu Hause geblieben, wenn ich sie dadurch hätte mit einander aussöhnen können.
– O, ich bin davon überzeugt, versetzte Mistreß Paget; ich wundere mich nur, wie der so tugendhafte Hamilton dazu kommt, einen solchen Freund zu wählen.
– Ich habe mich auch schon darüber gewundert, versetzte Louis; und am letzten Samstag versicherte mich Hamilton selbst, er habe Trevannion zum Freunde, weil er zu faul gewesen sei, einen andern zu suchen.
– Zu faul, um einen andern zu suchen! wiederholte Mistreß Paget.
– O, Hamilton liebt die Ruhe sehr, und gibt sich nicht gern Mühe um etwas; das ist sein großer Fehler. Er nimmt die Sachen, wie sie kommen. Ich habe schon oft gewünscht, daß er sich ein wenig mehr um das bekümmern möchte, was um ihn her vorgeht. Natürlich hilft das nichts, ich kann sagen, was ich will; man hört nicht auf das, was die Kleinen sagen, wenn diese nicht von den Großen unterstützt werden.
– Du hast allerdings recht, mein Lieber, antwortete Mistreß Paget in freundlichem Tone.
Während der ganzen Unterhaltung hatte Frau Normann nichts gesprochen. Einige Male legte sie ihre Arbeit ab und sah Louis ernst in's Gesicht, was dieser jedoch nicht bemerkte. Er war so sehr für seine eigene Person eingenommen und so fest von seiner Ueberlegenheit überzeugt, daß er wirklich nichts Anderes glaubte, als die beiden Damen müßten sich nur für ihn und seine Erzählung interessiren. Er hatte jedoch noch einen andern Zuhörer, nämlich Mister Henry Normann, der, nachdem er seine Geschäfte beendigt, sich in den Saal begeben hatte und Zeuge dieser langen Unterhaltung gewesen war. Weder Louis, noch die beiden Damen hatten ihn hereinkommen sehen, und auch jetzt noch war er unsichtbar, indem er mit einem Buche in der Hand weit von der Gesellschaft hinter einem Kreuzstocke saß und überdieß von den Vorhängen verdeckt war. Während er in seinem Buche die Seite aufsuchte, auf der er mit dem Lesen stehen geblieben war, wurde seine Aufmerksamkeit durch einige Worte von Louis Erzählung erregt. Ich weiß nicht, ob die Seite, welche er vor sich hatte, schwer zu verstehen war, oder ob er eine tiefe Betrachtung darüber anstellte; kurz, er wandte das Blatt nicht ein einziges Mal um, und seine Blicke waren bald in's Freie, bald auf Louis gerichtet. Daß er an den Erzählungen des jungen Gentleman kein besonderes Vergnügen fand, konnte man dem Ausdruck seines Gesichtes wohl ansehen. Er saß jedoch unbeweglich in seiner Ecke, während Louis fortfuhr, alle möglichen Geschichten aus der Anstalt und natürlich auch Digby's Abenteuer aufzutischen. Louis schloß endlich seine Rede mit einer fließenden Tirade gegen die abscheuliche Gewohnheit, unaufhörlich Späße zu machen. Er hielt etwas inne, um Athem zu schöpfen, und diese kleine Pause wurde von Frau Paget benutzt, um ihren Liebling mit Schmeicheleien zu überschütten, welche ihn erröthen machten. Er bückte sich, um die Scheere der Frau Normann aufzuheben, welche ihn mit einem Blicke ansah, in dem nicht gerade Beifall zu lesen war. Sie wollte gerade zu sprechen anfangen, als sich die Thüre öffnete und Reginald hereintrat, so daß die gute Dame ihre Meinung nicht aussprechen konnte. Henry Normann ging dem Neuankommenden entgegen und brachte ihn zu der Gesellschaft; nachdem die gegenseitigen Begrüßungen stattgefunden hatten, so begaben sich die drei jungen Leute hinaus, um einen Spaziergang zu machen.
Louis konnte sich den vielsagenden Blick der Frau Normann nicht aus dem Sinne schlagen; er überredete sich jedoch, daß derselbe wohl kein Mißfallen an seinen Erzählungen habe bedeuten wollen, und gewann wieder seine gewöhnliche Heiterkeit. Indessen fiel ihm an Henry Normann sehr unangenehm auf, daß derselbe seinen Worten und Bemerkungen gar keine Aufmerksamkeit zu schenken schien. So oft Louis etwas zu ihm sagte, entgegnete jener mit einem sarkastischen Lächeln oder mit einem bloßen Kopfnicken. Ungefähr nach einer Stunde kehrten sie nach Hause zurück.
Während des Abends kamen einige Freunde des Hauses, und Louis sollte nun der Gesellschaft etwas vorsingen. Er ließ sich nicht zweimal bitten. Er sang ein Lied, und dann noch eines, und sein Gesang gefiel so gut, daß ein anwesender junger Herr, der ein großer Freund der Musik war, ihn einlud, öfters zu ihm zu kommen. Louis, über diese Einladung ganz entzückt, dankte dem jungen Herrn mit viel schönen Worten, wobei ihn der hereintretende Reginald mit der Bemerkung unterbrach, daß es Zeit sei, aufzubrechen.
– Nun, Louis, warst du recht vergnügt? fragte ihn Reginald auf dem Heimwege. Es war ohne Zweifel sehr ergötzlich für dich, Seidenstränge zu halten und der Mistreß Paget zwei Stunden lang zu ihrer Erbauung Geschichten zu erzählen, abgesehen von den kindischen Schmeicheleien, mit denen man dich diesen Abend überhäuft hat.
– O, ich habe sehr viel Vergnügen gehabt! sagte Louis. Weißt du, daß Herr Fraser mich zu seinen musikalischen Abendunterhaltungen eingeladen hat?
– Ei was! du bist wohl ganz glücklich. Mistreß Normann ist eine sehr liebenswürdige Dame.
– Ja, sagte Louis etwas zögernd.
– Das ist ein Ja, das nicht viel besser ist als ein Nein, bemerkte Reginald.
– O, ich habe nichts Böses damit gemeint! – Louis erinnerte sich an ihren bedeutungsvollen Blick, sowie an die Gespräche des verflossenen Nachmittags.
– Was hast du, Louis? fragte ihn sein Bruder.
– Ich glaube, ich bin heute sehr kindisch gewesen; ich schwatze manchmal so Dummheiten, nicht wahr, Reginald? Ich glaube, ich habe diesen Nachmittag wieder recht dummes Zeug gesagt. Was wird Frau Normann von mir denken! Ich glaube, sie hat mich nicht gerne.
– Albernes Geschwätz! Das sieht dir wieder einmal ähnlich, Louis; du hast immer solche Grillen im Kopfe. – Hat mich nicht gern; ich kann das nicht mehr hören, es ist mir unausstehlich.
– Glaubst du nicht, daß sie böse auf mich wurde?
– Gewiß nicht, und wenn auch, was wär's denn weiter? Was für einen Einfluß würde das auf dein Schicksal haben? Du bist ein erbärmlicher Kerl, Louis. Wenn du alle Leute zufrieden stellen willst, so hast du viel zu thun. Du machst dich ja ganz unglücklich; sich um die Gunst von Leuten kümmern, die man vielleicht im ganzen Leben nie mehr sieht!
Louis athmete wieder etwas leichter und fing an, mit seinem Bruder über andere Dinge zu sprechen. Er war jedoch ein wenig betroffen, als ihm Reginald sagte, Hamilton habe sich gewundert, wie er die Schule habe versäumen können, um eine Einladung bei Mistreß Paget anzunehmen. Diese Mittheilung nebst den Begebenheiten des Tages und der Eitelkeit, die sich seines Herzens bemächtigt hatte, versetzte ihn in einen Zustand, der ihn unfähig machte, die Hülfe da zu suchen, wo sie allein zu finden war, und deren er gerade jetzt so sehr bedürftig gewesen wäre.