Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IX

Die Liebe ist langmüthig und freundlich.

1. Corinther, 13, 4

Eines Abends erschien Louis früher als gewöhnlich im Schulzimmer. Er setzte sich zu seinem Bruder mit einer Schüssel voll Erdbeeren und einigen kleinen Kuchen, welche er mit Reginald und einem von Salisbury's kleinen Brüdern, welcher auf der andern Seite neben ihm saß, theilte.

– Was für schöne Sachen du hast! rief Salisbury aus; man hat sie dir wohl geschenkt, Louis? Wer hat sie dir gegeben?

– Rathe! sagte Louis.

– O, ich bin im Errathen nicht geschickt; Erdbeeren sind eine Seltenheit in dieser Jahreszeit.

– Ich will's errathen, sagte Frank Digby, – der am andern Ende der Bank saß. – Der Magister hat heut' ein großes Paradeessen – nicht wahr?

– Ja, sagte Louis lachend, wie weißt du das?

– O, mein kleiner Finger hat mir's gesagt, erwiederte Frank.

– Was, schrie Salisbury, der Magister hat ein Paradeessen? Man hat ja gar nichts davon gemerkt.

– Meinst du denn, er solle es jedesmal aller Welt sagen, wenn er eine Einladung machen will? sagte einer aus der ersten Klasse.

– Sind Hamilton und Trevannion eingeladen? fragte Salisbury.

– Ei gewiß! hast du es nicht bemerkt, du blinder Maulwurf? sagte Frank, hast du sie denn nicht gesehen, wie gestriegelt sie sind? Trevannion ist nach der Schule hinauf in's Zimmer gegangen und hat seine herrliche Person mit allen Reizen geschmückt – mit Pommade und Rosenwasser und Aloes und Kezia und Tausendguldenkraut – Puh! ich glaubte, in eine Parfümerie einzutreten.

– Er hat gesagt, daß die Parfüm's, die er neulich bekommen hat, etwas Extrafeines seien; er würde um alle Welt unsere gemeine Waare nicht anrühren.

– Sein Millefleurs macht sogar den Moschus zu Schanden.

– Und erinnert mich, bemerkte Frank, wie sich unser hochgelehrter Kamerad Gold ausdrücken würde, an einen Dichter, dessen Namen ich nicht mehr weiß und auf dessen Gedicht ich mich nicht mehr besinne … ich weiß nur, daß darin von einem Gentleman und von einem Stinkthier die Rede ist.

– Als ich Trevannion sich so schmücken sah, versetzte Reginald lachend, so fielen mir die Blumentöpfe vor den Fenstern der alten Barracken in Dashwood ein; ich habe ihn einmal aufs Tiefste gekränkt mit dieser Vergleichung.

– Was? schrie Frank, du hast wirklich diese unerhörte Kühnheit gehabt, ihm so etwas zu sagen? Es nimmt mich Wunder, daß seine Hoheit dich mit seiner Ungnade nicht erdrückt hat. Ich glaube, er ist wohl drei volle Stunden mit seinem Schmuck beschäftigt gewesen.

– Das kann nicht sein; rief Louis; er hat ja um vier Uhr angefangen und jetzt ist's erst halb sieben.

– Schweig du, und verzehr' deine Beute! Nicht wahr, sie ist gut? Ha, was man so leicht erworben hat, schmeckt immer süß.

– Was meinst du damit, Frank? fragte Louis.

– Du unschuldiges Würmchen, verstehst du das nicht? Diese Sachen sind dir wohl zugeflogen; ich wollte gern, ich könnte auch was aufschnappen, aber ich steck' meine Nase umsonst in die Luft.

– Man hat mir sie gegeben, sagte Louis kaltblütig. Frau Wilkinson hat sie mir geschenkt, und hat mir gesagt, ich solle nicht im Schulzimmer bleiben.

– Ach, das ist eine gute Frau, die Frau Wilkinson. O Louis, Louis! Tanta est depravitas humani generis!

– Frank, rief Reginald, nimm dich in Acht!

– Hoho, mein Sohn! willst du mir etwa wieder an den Kragen? wirklich, ich muß mich vorsehen.

– Nun, Frank, hör' auf! rief einer aus seiner Klasse. Kannst du den Louis Mortimer nicht in Ruhe lassen? was macht dir denn das?

– Ich möchte ihm nur in sein Köpfchen einprägen, daß er ein wenig mehr Respekt haben soll vor so honnetten Leuten, wie wir sind, deren Wahrheitsliebe noch wohl die seinige werth ist.

– Ich will doch nicht hoffen, Frank, sagte Louis, daß du von mir denkest, ich wollte dir trotzen?

– Je weniger du davon redest, desto besser ist es, sagte Salisbury; es ist noch Vieles aufzuklären, mein Bürschchen; zuerst muß das Vergangene im Reinen sein, ehe wir mit dir neue Saiten spinnen.

Reginald stand auf und rief: Du sollst das zu bereuen haben, Salisbury.

– Ich bin zum Tanz bereit, sagte Salisbury, der ebenfalls aufstand.

Reginald sprang auf ihn zu; aber er wurde durch Louis gehalten, der sich auf ihn warf. – Fang keinen Streit an, Reginald, ich bitte dich.

– Laß mich gehen, Louis, ich will mich rächen, laß mich los, Louis!

– Lieber Reginald, schlag' nicht – wart' noch ein wenig!

In demselben Augenblicke krachte die Bank zusammen. Reginald fiel zu Boden und Louis auf ihn; obschon dieser bedeutenden Schmerz empfand, so ließ er seinen Bruder doch nicht los. – Reginald, sagte er, frag' die Frau Wilkinson, ob ich nicht die Wahrheit gesagt habe.

Louis half die Bank wieder aufrichten und blieb vor dem Tisch stehen. Er warf einen Blick um sich, schob die Kuchen und die Erdbeeren, die noch unangetastet da lagen, weg und ging hinaus. Den ganzen Abend war er verstört, und selbst die Versicherungen seines Bruders, daß es ihm leid thue, so barsch gewesen zu sein, konnten ihm nicht wieder zu seiner guten Laune verhelfen.

Als die Zöglinge in ihre Schlafzimmer hinauf gingen, fingen Salisbury und Frank Digby, ungeachtet ihnen der Lehrer geboten hatte, stille zu sein, einen Zank mit einander an, und zwar gerade deßwegen, weil es ihnen der Lehrer verboten hatte. Der erstere ließ sein Licht die Treppen hinunter rasseln, so daß sie nun in der Finsterniß waren. Glücklicherweise wurde der Lichtstock an der untern Treppe aufgefangen, so daß das Gepolter die Ohren der Zecher in des Doktors Zimmer nicht erreichte.

– Holla, da! – Mortimer, zu Hülfe! schrie Salisbury, bring' dein Licht her!

– Du kannst es selber holen, wenn du es haben willst, schrie Reginald aus seinem Zimmer heraus.

– Es herrscht hier ägyptische Finsterniß! war die Antwort.

– Um so besser, sagte Reginald, da müßt ihr doch wenigstens stille stehen. Ihr könnt euer Licht hier anzünden, wenn ihr wollt.

– Aber der Lichtstock ist auf den untern Boden gewandert, bemerkte ein anderer kichernd.

– Holt ihn doch herauf!

– Aber wir haben eine heillose Furcht vor den Gespenstern, schrie Frank in's Zimmer springend und das Licht auslöschend.

– Warum machst du das, Frank? schrieen mehrere Stimmen aus dem Bett.

– Weil Salisbury und seine Gehülfen unser Licht ausgelöscht haben, erwiederte Frank.

– Und darum mußt du das unsrige auslöschen?

– Was ist jetzt zu machen?

– Wo sollen wir unser Licht anzünden?

– Ich will es wieder anzünden, sagte Louis.

Er tappte mit seinen Händen nach dem Licht und suchte den Weg zur Küche, wo er es wiederanzündete. Auf dem Rückwege hob er auch das andere auf, was aber keine Kleinigkeit war; denn das Unschlittlicht war dem Gesetz der Theilbarkeit erlegen. Während er damit beschäftigt war, die Bröcklein zusammen zu kitten, kam Ferrer zu ihm und bot ihm seine Hülfe an, die Louis nicht verschmähte. Ferrer sagte zu ihm: Louis, ich bin ein schlechter Mensch, ein elender Kerl, ich bin sehr unglücklich, ich kann gar nicht verstehen, wie du so viel aushalten kannst von einem, der dir immer nur Böses zugefügt hat.

Louis blickte verwundert auf und sah, daß Ferrer wirklich sehr verstört und todtenbleich aussah.

– Ich komme mir so schlecht vor, wenn ich mich mit dir vergleiche, Louis, du bist so sanft und so geduldig; ich wäre viel besser geworden, wenn ich dich früher gekannt hätte. O Louis! ich liebe dich eben so sehr, wie ich mich selbst verabscheue.

– Nun, wirst du endlich kommen mit deinem Licht? schrie eine Stimme die Treppe herunter. Louis Mortimer und William Ferrer halten Ministerrath zusammen – die Wunder nehmen heut gar kein Ende.

Ferrer machte sich schnell hinauf und Louis folgte ihm; aber er ließ sich den ganzen Abend umsonst bitten, eine Geschichte zu erzählen. Er betete lang und inbrünstig und vergaß auch denjenigen in seinem Gebet nicht, für den er so tiefes Mitleiden empfand.

Ferrer konnte nicht schlafen; er warf sich in seinem Bette hin und her, von seinem Gewissen gefoltert, und allerlei Pläne, wie er wohl der ihm drohenden Schande entgehen könnte, durchkreuzten seinen Kopf. Immer stand ihm Louis' Beispiel vor Augen, sein sanftes Gesicht und seine geduldige Ergebung. Er wünschte ihm gleich zu werden, und je mehr er sich mit ihm verglich, desto abscheulicher kam er sich selber vor. Er gedachte an Louis' Worte: »Bitte Gott!« und in der Stille der Nacht schickte er einen Seufzer empor: »Herr, erbarme dich über mich, den großen Sünder!«

Louis war seit seiner Bestrafung mit niemanden mehr spazieren gegangen als mit seinem Bruder; aber des folgenden Tages kam Ferrer zu ihm, um mit ihm an die Dünen zu gehen. Sie gingen Anfangs stillschweigend neben einander her; endlich brach Louis das Stillschweigen mit einer Bemerkung, worauf Ferrer sagte: – Ich bin jetzt unfähig, etwas zu denken, Louis; ich habe heute alle meine Aufgaben schlecht gelernt. Mein einziger Trost besteht darin, daß du so gut gegen mich bist, Louis; ich kann gar nicht begreifen, wie du mich nur leiden magst!

– O Ferrer, sagte Louis, wer bin ich denn, daß ich dich nicht sollte ertragen können? und wenn es dir wirklich leid ist, und du dich bessern willst, so glaub' ich, ich werde dich noch recht lieben können.

– Nein, Louis, das ist unmöglich! du mußt mich hassen und verachten; das kann nicht anders sein.

– O nein! sagte Louis, ich versichere dir, daß ich Mitleiden mit dir habe.

– Aber du mußt doch gewiß sehr böse auf mich gewesen sein?

– Ja, im ersten Augenblick, sagte Louis; aber durch die Hülfe Gottes hat sich mein Zorn gelegt, und ich denke jetzt ganz anders gegen dich; ich bemitleide dich.

– Du bemitleidest mich? sagte Ferrer.

– Ja, versetzte Louis sanft, ich weiß gewiß, du bist sehr unglücklich gewesen mit dieser Sünde im Gewissen. Es kommt mir vor, es gebe nichts Fürchterlichers, als ein böses Gewissen.

– Ich hatte kein böses Gewissen, bis du anfingst, so gut gegen mich zu sein, sagte Ferrer. Du mußt mich für einen rechten Bösewicht gehalten haben.

– Ich kann nicht hart gegen dich sein. Wenn ich daran denke, wie viel Liebe man mir erweist, so möcht' ich auch andern gern Liebe beweisen, und ich glaube, wenn ich gegen andere hart bin, so wird es mir vergolten werden.

Ferrer antwortete nichts; er verstand auch die Gründe nicht, die den Louis zum Vergeben und zum Lieben antrieben, und weil er noch nie ein so frommes Kind gesehen hatte, so konnte er ihn wohl bewundern, aber nicht begreifen. Er fühlte wohl, welch ein großer Unterschied zwischen ihnen beiden war, und zum erstenmal wurde er davon überzeugt, daß ihm etwas fehle. Er versetzte sich an Louis' Stelle und mußte sich gestehen, daß er selber nicht so großmüthig würde gehandelt haben. Er begriff auch gar nicht, wie Louis, der doch so sehr darauf hielt, daß andere eine gute Meinung von ihm hatten, und der stets mit aller Sorgfalt vermied, sich lächerlich zu machen oder sich Schande zuzuziehen, sich so gegen ihn habe betragen können, und wie es ihm möglich gewesen sei, niemandem, selbst nicht einmal seinem Bruder, etwas von der Sache zu sagen.

Louis glaubte, das Stillschweigen seines Kameraden komme von dem Gefühle einer aufrichtigen Scham und Betrübniß her, und sagte zu ihm: – Du mußt nicht glauben, Ferrer, daß ich unglücklich sei; ich bin im Gegentheil jetzt viel glücklicher, als dazumal, da mich jedermann lieb hatte. Ich bekümmere mich jetzt nicht mehr darum, was die Knaben von mir sagen und denken, und gerade deßwegen war ich früher in Erfüllung meiner Pflichten so nachlässig, weil ich jedermann gefallen wollte. – Jetzt kenn' ich etwas, das mich viel glücklicher macht.

– Und was ist das, Louis?

– Du würdest mich doch nicht verstehen, erwiederte Louis schüchtern. Das, was mich glücklich macht, ist ganz verschieden von dem, was wir alle Tage sehen und hören.

– Sag' mir doch, was das ist, Louis, ich möchte es gerne kennen lernen, damit ich besser werden könnte.

– O lieber Ferrer, sagte Louis, einen ernsten Blick auf sein Gesicht heftend, wenn du wirklich besser werden willst, so mußt du zu unserm Heiland kommen, und er kann dir alles geben, was du brauchst. Das, was die Kinder Gottes so glücklich macht, ist das Gefühl von seiner Liebe, die ihnen alle ihre Sünden vergeben hat. Du kannst dieses Glück auch haben, wenn du willst. O, wir denken nicht genug daran, was unser Christenname für eine Bedeutung hat!

– Du liesest wohl viel in der Bibel, nicht wahr, Louis?

– Nicht so viel, als ich sollte, erwiederte Louis erröthend; aber ich liebe die Bibel.

– Die Bibel kommt mir immer so langweilig vor, und ich bin daher jedesmal froh, wenn das Kapitel zu Ende ist, welches wir alle Tage lesen müssen.

– Es ging mir früher gerade so, sagte Louis; aber die Mamma hat uns die Sachen in der Bibel so gut erklärt, daß ich sehr gerne daraus erzählen hörte, und der Papa hat einmal gesagt, die Bibel sei gleich einem Garten voller Blumen, und manche Leute spazieren darin, ohne auf die Blumen zu merken; andere aber gehen aufmerksam herum, suchen Blumen und Kräuter für ihre Krankheiten, und lassen nicht ab, bis sie gefunden haben, was sie suchen. Diese seien sehr glücklich in dem schönen Garten.

– Du bist ein sehr glücklicher Knabe, Louis, sagte Ferrer. O, ich wollte die ganze Welt hergeben, wenn sie mein wäre, für ein kleines Plätzchen, wo ich die Last ablegen könnte, die mich drückt.

Ferrer seufzte tief, und Louis sagte mit sanfter Stimme zu ihm: – Geh zu ihm, wenn du mühselig und beladen bist, und er wird dich erquicken; er wird deiner Seele Ruhe schaffen. Sein Joch ist sanft und seine Last ist leicht.

Sie kehrten nach Hause zurück, und in Ferrers Ohren tönten diese tröstlichen Worte fort, und er konnte sie den ganzen Abend nicht mehr aus dem Sinne schlagen; aber er legte seine Last nicht nieder zu den Füßen des Heilandes. Denn sein Stolz hinderte ihn daran. Er fühlte zwar wohl, daß er ein Sünder sei, aber der Stolz hielt ihn zurück.


 << zurück weiter >>