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Behüte dein Herz mit allem Fleiß, denn
daraus gehet das Leben.
Sprüche Salomo's 4, 23.
Nach einer ziemlich langen Reise langten endlich Herr und Frau Mortimer mit ihren beiden Knaben im Schlosse Heronhurst an, wo sie von Sir George und Lady Vernon mit Herzlichkeit empfangen wurden. Das Schloß war mit Freunden und Verwandten angefüllt, unter welchen sich auch Lady Digby und ihre zwei ältesten Töchter befanden. Auch die Großmütter fehlten nicht, die in den Ferien lieb und unschätzbar sind. Jedermann besuchte immer wieder sehr gerne das Schloß Heronhorst; denn man vergnügte sich dort auf die angenehmste Weise, und Lady Vernon hatte ein ganz besonderes Talent, allerlei unschuldige Vergnügungen zu erfinden. Vernon und Frank Digby waren ein paar Stunden vor Herrn Mortimer angekommen und hatten die Geschichte mit der Medaille schon erzählt, und jedermann war begierig und ungeduldig, den jungen Helden zu sehen und ihn zu beglückwünschen.
Es war sehr gut für unsern Louis, daß bei so vielen Ehrenbezeugungen noch Erinnerungen ganz anderer Art in seinem Gedächtnisse waren. Jedermann begehrte seine Medaille zu sehen; jedermann machte schmeichelnde Bemerkungen, und Louis hatte, um demüthig und bescheiden zu bleiben, eine andere Kraft nöthig, als die, welche er selber besaß; aber er kannte sie.
Am siebenundzwanzigsten desselben Monats sollte im Schlosse Heronhurst Louis Geburtstag festlich begangen werden, und Sir George, der das traurige Andenken des letztjährigen Geburtstages auszulöschen wünschte, suchte diesen Tag so herrlich als möglich zu machen. Alle Schulkinder des Dorfes wurden dazu eingeladen. Das Festprogramm war im Uebrigen dasselbe, wie im vorigen Jahre.
Sir George kündigte Louis selber an, daß sein Geburtstag festlich gefeiert werden solle, und der gute Louis fing nach und nach an, etwas selbstgefällig auf sich zu blicken, und wäre beinahe dahin gekommen, sich selbst zuzuschreiben, was er dem Herrn zu verdanken hatte. In solche Gedanken vertieft, fühlte er sich auf einmal sanft am Arme gefaßt. Er wandte sich rasch um, und sah vor sich Frau Paget, eine alte Freundin des Hauses, die Louis besonders gewogen war.
– Wir werden also ein Fest bekommen, wie ich höre, Louis. Wirst du wirklich vierzehn Jahre alt am siebenundzwanzigsten Tage dieses Monats? Komm', setze dich ein wenig zu mir und erzähle mir etwas aus der Schule; es scheint, du bist dort der allgemeine Liebling. Was ist denn das für eine Geschichte? Jedermann spricht davon und niemand weiß etwas Gewisses. Ich möchte sie gerne von dir hören, du kannst sie mir am besten erzählen; willst du mir dein Geheimniß nicht anvertrauen?
– Es ist kein Geheimniß, sagte Louis; aber ich wollte lieber nicht davon reden.
– Immer bescheiden, mein kleiner Freund; ich verstehe wohl, daß es nicht gut ist, wenn du die Begebenheit jedermann erzählst; aber mir, einer so alten Freundin, wirst du sie doch erzählen.
– Aber, versetzte Louis, wenn jedermann davon spricht, so …
Louis hielt inne und wurde roth; es fiel ihm ein, wie eitel der Gedanke war, wenn jedermann davon redet, und er korrigirte sich, indem er fortfuhr:
– So will ich sie lieber nicht erzählen, wollte ich sagen.
– Du bist ein herzguter Knabe, sagte die Dame. Ich weiß wohl, daß du deinen Schulkameraden nicht Schande bereiten willst; aber ich kann nicht verstehen, was denn das dem Schlüssel thut – ich habe deinen Bruder immer von einem Schlüssel reden hören – was ist denn das für ein Schlüssel? Ist's ein Schlüssel zu einem Schreibpult?
Louis lachte laut auf: Nein, Frau Paget, es ist Kenricks Schlüssel.
– Und wer ist dieser Kenrick? – Ah, ich versteh', es ist einer eurer Lehrer!
– Ach nein, Madame, – ein Schlüssel zu griechischen Exercitien.
– So, so, jetzt versteh' ich, so eine Art Uebersetzung. Also diese Uebersetzung hat er Herrn Wilkinson gestohlen, und dann gesagt, du habest es gethan, nicht wahr, so ist's?
– Nein, es ist nicht ganz so, versetzte Louis. Er nahm das Buch aus des Doktors Studierzimmer, wie es viele gemacht haben.
– Ja, und was ist denn das Böses? versetzte sie. Ihr guten Jungen, eure Aufgaben müssen gewiß sehr schwer sein. Es kommt mir vor, es sollte jeder eine englische Uebersetzung von diesen fürchterlichen lateinischen und griechischen Büchern haben.
Louis machte große Augen. Aber, Frau Paget, sagte er, das ist doch sehr schlecht, wenn man sich einer Uebersetzung bedient und dann sagt, man habe die Arbeit selber gemacht.
– Wenn ich ein Schüler wäre, so würd' ich es vielleicht auch schlecht finden – ihr versteht die Sachen eben besser als ich. Und das ist alles?
– O nein, sagte Louis mit trauriger Miene.
– Und er sagte, du habest das Buch genommen?
– Er hat das nicht gerade gesagt; allein er hat es unter meine Bücher gethan, indessen nicht, um mich zu verdächtigen; wie man es aber dann fand, so fürchtete er sich, die Wahrheit zu sagen.
– Und du hast also die Schande getragen? Hast du denn nichts gethan, um dich zu rechtfertigen?
– O ja! aber er ist älter als ich und größer; drum hat man ihm mehr geglaubt als mir.
– Und du hast das so gehen lassen, und warst so gutmüthig, für ihn zu leiden?
O, es ist später herausgekommen; Alfred Hamilton hat die Sache gewußt.
– Wer ist dieser Alfred Hamilton?
– Einer meiner kleinen Kameraden.
– Und dieser Alfred hat also dem Doktor nichts gesagt?
– Ich habe es ihm verboten, sagte Louis, der immer offener wurde; es wäre sehr unartig von mir gewesen, so zu handeln gegen den armen Ferrer, er wäre ja fortgejagt worden. Alfred hat es sagen wollen; aber ich bin gewiß, Madame, daß Sie es ihm auch verboten hätten.
– Ah! Louis! Louis! es ist jetzt nicht mehr der arme Ferrer, der dich beschäftigt, wie ich sehe, sondern der Wunsch, von jedermann bewundert zu werden. Und sie schlang ihren Arm um ihn und herzte ihn; denn die gute Frau gehörte nicht zu denen, die das menschliche Herz kennen; sie sah nur die Oberfläche; dennoch wäre sie erstaunt gewesen, wenn sie gewußt hätte, wie unter diesem Schein von Sanftmuth und Bescheidenheit sich der Wunsch verbarg, großmüthig und liebenswürdig zu erscheinen. Sie sagte ihm daher auch in einem zärtlichen, aber etwas betrübten Tone:
– Nein, mein theures Kind, ich weiß wohl, daß du nichts Böses zu thun im Stande bist; du bist ein guter, lieber Knabe, und ich liebe dich, und dieser Master Ferrer hat also nie die Wahrheit gestanden? und du bist also für ihn gestraft worden?
– Doch, er hat es gestanden, am Ende des Schuljahres. Ich habe die Schande nicht lange tragen müssen, bloß fünf Wochen.
– Bloß! Ich kann nicht begreifen, wie man fünf Wochen eine unverdiente Strafe tragen kann. Und er hieß also Ferrer, dieser Knabe, nicht wahr?
– Aber ich bitte Sie, Madame, sagen Sie es niemanden, ich wollte seinen Namen nicht nennen; nicht wahr, Mistreß Paget, Sie sagen es niemanden? Er hat es bereut, er war so unglücklich; ich bin gewiß, Sie würden ihn lieben; er ist nicht so schlecht, wie man sagt.
Mistreß Paget hatte kaum Zeit, ihm halb und halb das Versprechen zu geben, als man nach ihr fragte; und Louis, der allein zurückblieb, hatte nun hinlänglich Zeit, über das nachzudenken, was er so eben gesagt hatte, und mußte gewahr werden, daß Stolz und Eitelkeit ihn hingerissen hatten. Das Vergnügen, das er sich für diesen Abend versprach, war zerstört; denn er war in beständiger Furcht, Mistreß Paget möchte von der Geschichte anfangen. Er ging im Zimmer auf und ab und dachte darüber nach, wie er ein gutes Wort für Ferrer einlegen könnte. Ach, wie gerne hätte er seine Worte zurückgenommen!
Er fühlte mehr als je, wie nothwendig es ist, über sein Herz zu wachen und seine Zunge im Zaum zu halten. Er war traurig und wäre beinahe verzweifelt wegen der Hindernisse, die sich seiner Frömmigkeit beständig in den Weg legten. Auf diese Weise sieht ein Christ nach und nach ein, wie böse und verderbt er ist und wie wenig Kraft er selber hat, das Gute zu thun und dem Herrn zu gefallen. – Nicht als ob die Sünde in ihm zunähme; aber er bekommt immer mehr Licht über den verderblichen Zustand seines Herzens und erkennt immer mehr, wie nothwendig er den Herrn Jesum hat, damit derselbe ihm seine Gerechtigkeit und Liebe gebe.
Louis und das gesammte junge Volk im Schlosse Heronhurst konnten den festlichen Tag kaum erwarten. Am Morgen desselben stand jener früher auf als gewöhnlich, und das fröhliche Gefühl von dem Glücke, das seiner wartete, erfüllte ihn ganz. Durch die geschlossenen Fensterladen leuchtete keine freundliche Morgensonne, und als er die Fensterladen öffnete, o weh! so regnete es wie bei der Sündfluth; die dicken, schwarzen Wolken gewährten wenig Hoffnung für besseres Wetter.
– O Reginald, es regnet, es regnet fürchterlich! sagte Louis traurig.
– O, wie langweilig, schrie Reginald, laß mich einmal hinaus sehen! – hu, wie sieht das aus! Was für ein Wetter! Unsere Freuden werden wohl alle zu Wasser werden. Wer hätte das gedacht?
– Still, Reginald! sagte der arme Louis, der eben so enttäuscht war wie sein Bruder; es ist nicht recht, daß du dich so entrüstest. Wenn der liebe Gott das Wetter nicht so macht, wie wir wünschen, so dürfen wir nicht mit ihm hadern.
– Ich kann nicht anders, sagte Reginald.
– Wir werden gewiß sehr viel Vergnügen haben; aber ich bedaure die armen Schulkinder.
– Ha! um dieses Volk kümmre ich mich nicht, sagte Reginald unwillig; das ist ja nur der Pöbel.
– Reginald, verachte diese armen Kinder nicht so; denke, wie sie sich auf diesen Tag gefreut haben! Sie haben sonst so wenig Vergnügen, und wir können uns ja jeden Tag im Garten lustig machen, wenn das Wetter schön ist.
Reginald schämte sich ein wenig; aber er wollte es nicht gestehen. Er begnügte sich deßhalb die Bemerkung zu machen, Louis liebe eben das Spiel nicht, und er, Reginald, liebe eben die Dorfkinder nicht; im Grunde sei also kein großer Unterschied zwischen ihnen beiden.
Louis betrachtete nun den festlich geschmückten Tisch.
– O, das ist etwas für mich, Reginald! eine schöne neue Bibel vom Papa und der Mama und ein Gesangbuch von der Großmama, und was ist das? – die Gedichte von Walter Scott, vom Onkel und von der Tante. Wie gut sie sind! Sieh', Reginald – und hier ist noch etwas, – ein kleines Buch in Goldschnitt, die Gedichte von Mistreß Rowe, die ich so liebe … von dir? O schönen Dank, mein lieber Reginald!
– Und ich wünsche dir viel Glück zu deinem Geburtstag und daß die Feier desselben noch viele Male wiederkehren möge, sagte Reginald, der seine gute Laune schnell wieder gewonnen hatte.
Als Louis die Treppe hinunter ging, begegnete er manchem freundlichen Gesichte, das auf ihn wartete, um ihm zu gratuliren, ehe die Klagen über das Wetter losbrachen: »Ein Regentag! ein Regentag!« »Der Himmel mit schwarzen Wolken bedeckt!« »Wie langweilig! wie unfreundlich!« »Wir müssen den ganzen Tag im Zimmer bleiben!« So lautete es dann von allen Seiten, als er sich in's Zimmer begab, wo das Frühstück bereit war. Hier trafen sie die kleine Eliza Vernon, ein siebenjähriges Mädchen, an, welches, auf einem Stuhl knieend, in einer herzbrechenden Melodie zum Fenster hinaus sang:
»Regen, Regen, geh' doch fort!
Komm' nicht mehr an diesen Ort!«
– Guten Morgen, Bessie! sagte Louis.
– Louis, ich wünsche dir ein gutes Fest; ich habe nichts für dich gekauft, ich habe nicht genug Geld gehabt.
– O, das macht nichts, Bessie, erwiederte Louis; deine Küsse und deine Freundschaft sind mir lieber als alle Geschenke.
– O, ich will dir viele Küsse geben, rief das kleine Mädchen aus, und fing an, seine Worte in's Werk zu setzen.
– Meine Liebe und einen Kuß, sagte ihr Bruder, das ist's, was Bessie am Schlusse aller ihrer Briefe hinsetzt, nicht wahr Bessie? Ich schicke dir meine Liebe und einen Kuß.
– Ja, ja, sagte Bessie, du brauchst mich nicht auszulachen. Ich möchte gerne wissen, was wir heute machen sollen – ich glaube – ja, ja, ich sehe einen kleinen blauen Himmel durch den Eichbaum hindurch.
– Laß mich sehen, wo ist meine Brille? schrie Frank.
– Ho! ich glaube, deine Hoffnung ist umsonst, Bessie! sagte hinter ihr die freundliche Stimme Sir George's; wir werden heute nicht viel blauen Himmel sehen. Aber was ihr für lange Gesichter macht! Guten Morgen, meine Herren und Damen! wie befinden Sie sich? Hoffentlich gut und bei heiterem Humor. Meine herzlichsten Glückwünsche zu deinem Geburtstage, lieber Louis. Es scheint, das Wetter hat dich nicht so traurig gemacht wie die andern. Nun, Miß Bessie?
– Großpapa, Großpapa, was sollen wir anfangen? Du mußt etwas für uns erfinden, sagte Bessie, indem sie ihrem Großvater auf die Kniee saß und mit forschenden Blicken in sein liebreiches Antlitz schaute.
– Gut, gut, – wir wollen sehen, wir wollen sehen – wir wollen jetzt zuerst frühstücken. Haben wir dann dieses wichtige Geschäft abgethan, und ist die Großmama auch da, so wollen wir sehen, ob wir etwas finden können, um die verdrießliche Stimmung dieses jungen Volkes zu vertreiben.
Dieses Versprechen tröstete die junge Gesellschaft, und sie verzehrten ihr herrliches Frühstück mit vielem Appetit. Nachher wurde Ratssitzung gehalten und beschlossen, die Musikanten zu bestellen und die Schulkinder in den großen Saal zu einem Bankett einzuladen. Lady Vernon wollte für den Vormittag sorgen durch allerlei Unterhaltung, z. B. mit Räthseln, Charaden, Zauberlaternen, Puppen u. dgl. Die größern Knaben beschäftigten sich am Billard; andere waren bald in eine Parthie Schach vertieft; die größte Anzahl aber war in einem großen Saal versammelt und spielte dort nach Herzenslust. Drei junge Fräulein im Alter von acht bis zwölf Jahren verfertigten drei vollständige Wohnhäuser für schöne papierne Herren und Damen, und Mister Frank Digby half ihnen dabei mit großem Eifer.
Um ein Uhr versammelte sich die ganze Gesellschaft im großen Saal, wo die Musikanten lustige Melodien spielten. Man hatte daselbst einen langen Tisch mit guten, wohlschmeckenden, aber einfachen Speisen bedeckt, und die Schulkinder erschienen zwei und zwei und setzten sich, die Mädchen oben am Tisch und die Knaben unten. Herr Mortimer sprach das Tischgebet, und nun wurde das Werk mit Freuden angegriffen, und in kurzer Zeit waren die Gerichte verschwunden. Die Kinder des Hauses, Louis an ihrer Spitze, hatten sich die Erlaubnis ausgebeten, die Schulkinder zu bedienen, die man ihnen auch gern gegeben hatte zum großen Verdruß der Dienstboten, weil sie diesen eher hinderlich als behülflich waren. Herr George Vernon machte von Zeit zu Zeit die Tafelrunde und sagte zu diesem und jenem ein paar Worte, welche sich gewiß für das ganze Leben lang im Gedächtnisse festsetzten, selbst wenn sie von keiner großen Wichtigkeit waren. Ach, wie wenig braucht es, um die unschuldigen Kinder fröhlich und dankbar zu stimmen!
Als die Mahlzeit beendigt war, wurden auch die Kinder des Hauses zu Tische gerufen. Louis begab sich mit den Kindern des Dorfes in einen andern Saal, und unterhielt sich mit ihnen, wobei ihm sein Vater und noch einige andere Personen behülflich waren. Als sich endlich auch die andern Freunde im Saale eingefunden hatten, schloß man die Fensterladen, um ihnen die Zauberlaterne zu zeigen. Die kleinen Dorfjungen und Mädchen waren außer sich vor Freude, und jedes wurde noch mit einem Kuchen und mit Früchten beschenkt, worauf sie dann nach Hause gingen; gewiß werden sie diesen Tag nie vergessen haben.
Das Mittagessen der Erwachsenen wurde diesmal früher aufgetragen als gewöhnlich, damit um 7 Uhr der Ball beginnen konnte, welcher bis um 11 Uhr dauern sollte. Louis, obgleich er sich glücklich fühlte, wurde doch endlich müde, und er wünschte nicht, daß diese Vergnügungen sich alle Tage wiederholen möchten. Er konnte kaum mehr seine Augen offen halten, als Frau Paget ihn einlud, ein Liedchen zu singen.
Louis sang so gut er konnte, und obgleich der Schlaf ihn hinderte, seine liebliche Stimme erschallen zu lassen, so war man doch allgemein befriedigt, selbst sein Großvater.
– Hat dich deine Mutter so singen gelehrt, Louis? sagte er.
– Nein, Miß Spencer, versetzte Louis.
– Ja, sie hat dir die Theorie beigebracht; aber der Ausdruck kommt von deiner Mutter.
– Herr und Frau Mortimer sind sehr musikalisch, sagte Frau Paget.
– Frau Mortimer hat viel Talent, sagte Sir George, und sie hat aus diesem Knaben etwas gemacht. Nicht wahr, du hast die Musik sehr gern, Louis?
Louis antwortete bejahend, und Sir George fügte hinzu:
– Nun, ich will dir ein großes Vergnügen verschaffen. Wir gehen nächsten Sonntag nach A., um den Kirchengesang zu hören; es ist dort ein vortrefflicher Sängerchor, haben Sie ihn schon gehört, Madame?
– Nein, ich hab' ihn noch nie gehört.
– Nun, dann ist es das Beste, wir gehen am Sonntag hin. Es ist daselbst auch eine sehr niedliche, sehenswerthe Kirche.
Frau Paget war vollkommen einverstanden, und Louis, der zu schläfrig war, um etwas zu verstehen, wünschte eine gute Nacht und begab sich zur Ruhe.
Des folgenden Morgens regnete es noch immer. Louis saß in seinem Zimmer und ergötzte sich mit dem Lesen seiner Gedichte. Am Nachmittag klärte sich das Wetter ganz unvermuthet auf, und seine Mutter schlug vor, einen Spaziergang zu machen; Reginald und Vernon Digby sollten mitgehen. Sie machten eine lange Tour durch die Umgegend, und ihr Gespräch stand dabei nie still. Als sie wieder in den Park zurückkamen, berieth man sich über den Plan für den nächsten Sonntag. Louis konnte das Gefühl nicht unterdrücken, es wäre besser zu Hause bleiben, als bloß aus Neugierde eine Kirche zu besuchen. Er schwieg indessen still; als er wieder in sein Zimmer gelangt war, dachte er ruhig über die Sache nach, und kam zu dem Schlusse, ein solches Kirchengehen könne Gott nicht gefallen, indem man ja aus seinem heiligen Tage dadurch einen Tag des Vergnügens mache. Das waren Louis' Gedanken, und als er Reginald wieder sah, theilte er ihm dieselben mit.
– Aber Louis, was für eine sonderbare Idee! erwiederte ihm derselbe. Hältst du das für eine Sünde, wenn wir am Sonntag unsere Pferde anspannen und den Knechten und Mägden schnelle Beine machen? Es ist den Pferden einerlei, ob du mitkommst oder nicht. Ich kann gar nicht begreifen, warum du nicht kommen willst; du bist ja ein so großer Freund der Musik und könntest es doch nicht über's Herz bringen, das jämmerliche Kratzen in unserer Kapelle zu versäumen und mitzukommen, um eine schöne Musik zu hören?
Louis schwieg still. Er wollte seinem Bruder seine Gründe nicht aus einander setzen, und dieser fing an, von andern Dingen zu reden. Als er aber eine Weile gesprochen hatte, und Louis gar keine Antwort darauf geben wollte, sah er ihn an und bemerkte, daß derselbe seinen Worten gar keine Aufmerksamkeit schenkte.
– Aber was hast du denn, Louis? du bist wirklich nicht sehr unterhaltend.
– Ich habe nichts Besonderes, antwortete Louis.
– Nichts? versetzte Reginald, doch, du hast etwas. Ich weiß, was dich beschäftigt; du denkst an den nächsten Sonntag. Sei vernünftig; wenn andere Leute hinfahren, so kannst du auch mitfahren; ja, wenn man blos für uns beide anspannen wollte, so könnte ich dich noch begreifen.
– Aber man wird allerlei dummes Zeug schwatzen, ich weiß das schon, sagte Louis; es wird gerade so sein, als ob man in's Schauspiel ginge. Ich will die Mama fragen, was sie dazu denkt.
– Dummes Zeug, erwiederte Reginald, du bist jetzt nicht in Dashwood; wenn du einmal die schöne Musik hörtest, du würdest ganz anders denken; es ist eine ganz andere Musik, als das Gekrächze hier in Heronhurst; zudem predigt Herr Perrot viel besser als Herr Burden; du bist viel zu ängstlich, Louis; sehr oft fürchte ich, du könntest noch melancholisch werden.
Ehe Louis antworten konnte, trat die junge Gesellschaft wieder in's Zimmer, und eine Belustigung löste die andere ab, so daß Louis nicht mehr Zeit fand, über jenen Gegenstand nachzudenken, bis Abends, als er zu Bette ging; aber ehe er einschlief, dachte er ernstlich über die Sache nach. Auf der einen Seite wollte er seinen Großvater nicht beleidigen, und auf der andern war er überzeugt, daß ein solches Besuchen einer Kirche ein sündliches Vergnügen sei. Dann fiel ihm auch wieder die Bemerkung seines Bruders ein, daß er zu ängstlich sei, und als er zu beten versuchte, fühlte er, wie er nicht aufrichtig war, indem er den geheimen Wunsch fühlte, zu gehen, und zugleich eine große Furcht, seinen Großvater zu beleidigen. Endlich schlief er ein, nachdem er zu dem Entschluß gekommen war, den Rath seiner Eltern einzuholen und darnach zu handeln.
Des folgenden Morgens hatte Louis jedoch keine Gelegenheit, mit seinen Eltern allein zu reden, und am Samstag Abend war er noch eben so unentschlossen wie zuvor. »Ach, wenn ich doch nur jemanden hätte, den ich fragen könnte!« Er wandte sich an den, der ihm allein Aufschluß geben konnte, und er kam in's Klare. Als der Sonntag Morgen da war, erklärte er fest und bestimmt, daß er nicht mitgehe.
Vernon sah ihn erstaunt an, und Reginald versuchte umsonst, ihn in seinem Entschlusse wankend zu machen – er blieb auf seiner Meinung. Er begab sich in sein Zimmer, bis die Glocke der Kapelle zum Gottesdienste rief; dann eilte er schnell hinunter leichten und frohen Herzens und begab sich zu seiner Mutter.
– He, Louis, sagte sein Großvater, ich dachte, du seist schon lang verreist; es ist jetzt zu spät, der Wagen ist schon seit einer Stunde fort. Was soll das bedeuten, daß du so spät aufstehst, Louis?
– Ich bin früh aufgestanden, Großpapa.
– Und warum bist du denn nicht mit der Gesellschaft nach A. gegangen?
– Weil ich lieber zu Hause bleiben wollte, sagte Louis erröthend.
– Und warum hast du das nicht früher gesagt? Du bist ein sehr unentschlossener Mensch; man kann sich gar nicht auf dich verlassen. Weißt du eigentlich, was du willst, Louis?
– Nicht immer, versetzte Louis mit leiser Stimme.
– Den Kopf in die Höhe und' sprich laut! Warum bist du anderer Ansicht geworden, du kleine Wetterfahne? aus welcher Himmelsgegend hat der Wind geweht?
– Es ist heut' Sonntag, Großpapa, sagte Louis, während er auf seine Mutter einen etwas traurigen Blick warf.
– Da haben wir's! der Junge ist mondsüchtig! 'S ist heute Sonntag, Großpapa! Glaubst du denn, ich wisse es nicht?
– Es kam mir nicht recht vor, nach A. in die Kirche zu gehen, wenn wir eine so nahe bei uns haben.
– Wie es Ihnen gefällig ist, sagte Sir George in etwas verächtlichem Tone, wie es Ihnen beliebt, Herr Louis. Nur erwarte nicht, daß ich dir sobald wieder ein Vergnügen bereiten werde.
– Ich bin Ihnen sehr dankbar, Großpapa; aber Sie verstehen mich nicht.
– Oh! oh! wir verstehen uns sehr gut, Master Louis, sagte sein Großvater, sich hastig abwendend.
– Da sieht man, wohin es kommt, wenn man die Kinder so weichlich erzieht. Er ist ein Frömmler, bemerkte er, als er an Herrn Mortimer vorbeiging.
Was Herr Mortimer darauf antwortete, konnte Louis nicht verstehen; denn sie verließen das Zimmer und gingen in die Kirche.
Mehrere von den Anwesenden, welche dieses Gespräch zwischen Louis und seinem Großvater angehört hatten, lächelten etwas verächtlich; aber Louis wurde durch das beifällige Lächeln seiner Eltern und durch sein gutes Gewissen darüber getröstet. Der Gottesdienst war für Louis ein sehr gesegneter, obgleich die Predigt etwas lang und der Gesang nicht sehr harmonisch war. Unser Herr hat gesagt: »Sehet zu, wie ihr höret!«
Nach dem Gottesdienste machte Louis mit seinem Vater einen sehr angenehmen Spaziergang in den Park, und als er wieder glücklichen und frohen Gemüthes zurückgekehrt war, konnte er nicht umhin, zu denken, wie ganz anders seine Gefühle jetzt sein müßten, wenn er nach A. mitgegangen wäre, und er dankte seinem himmlischen Vater, daß er ihn zurückgehalten hatte.
Am folgenden Donnerstag Nachmittag rollte das Fuhrwerk des Herrn Mortimer auf der Straße, die nach Dashwood führt. Bei jedem Kutschenfenster erblickte man ein fröhliches Gesicht, das nach all' den bekannten Gegenständen neugierig sich umsah, je näher man der Heimath kam, und als der Wagen um eine Straßenecke herumbog, begann das Gespräch der beiden Knaben lebhaft zu werden.
– Das ist Dashwood! rief der eine.
– Das ist der Fluß! schrie der andere.
– Da ist unser Kamin!
– Dort ist die Scheune, Reginald!
– Da ist Betty Gordon im Garten! sie sieht uns. Das Häuschen der Frau White, Louis. – Ich habe das alte Gesicht des Lazarus gesehen; es ist noch immer so breit wie früher, – und die Schafe – ich rieche das frische Heu. Sieh', sieh', da mäht man! Sieh', da ist Johnsen mit den Mähern.
– Holla, Johnsen! er sieht mich.
– Die Glocken, Papa! die Glocken, Mama, schrie Louis. O, du liebe, liebe Heimath! Nicht wahr, Papa, die Glocken läuten, weil du wieder heim kommst? Sieh' nur, alles kommt heraus, um uns zu sehen. – O, wie fröhlich sind sie!
– Louis! Louis! jetzt sind wir zu Hause, schrie Reginald, als der Wagen in ein schattiges Gäßchen einbog. Sie kamen zu dem großen Thor; dasselbe stand weit offen, und sie hatten kaum Zeit, dem Thorwächter und seiner Familie einen Gruß zuzuwinken; denn der Wagen verschwand hinter den Bäumen des Parkes.
– Willkommen, willkommen, süße Heimath! altes, liebes Dashwood! rief Louis aus vollem Halse.
– Gib Acht, Louis, du fällst hinaus, sagte seine Mutter, die ihn bei'm Arm zurückhielt.
– Jetzt sind wir zu Hause! schrie Reginald. Und hier ist Mary, das kleine Täubchen, und der ernste Henry, er ist ganz närrisch vor Freude. Hurrah!