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XIX

Ein Verleumder verräth, was er heimlich
weiß; aber wer eines getreuen Herzens
ist, verbirgt dasselbe.

Sprüche Sal. 11,13.

Wer Sünden zudeckt, der macht Freundschaft;
wer aber die Sache eifert, der
macht Fürsten uneins.

Sprüche Sal. 17,9.

Wo Stolz ist, da ist auch Schmach.

Sprüche Sal. 11,2.

Stolzer Muth kommt vor dem Fall.

Sprüche Sal. 16,18.

Wenn der Christ in seinem Kampfe gegen die Sünde und gegen sein eigenes böses Herz auf einem Punkte angekommen ist, wo er sich stark genug glaubt, mit eigener Kraft und Klugheit diesen Kampf führen zu können, oder wo er sich einbildet, derselbe sei gar nicht mehr nothwendig, so ist das ein sehr gefährlicher Zustand und ein Beweis, daß ein solcher Mensch im Guten nicht vorwärts, sondern rückwärts gekommen ist. Denn einen Stillstand gibt es nicht, weder im Reiche der Natur, noch im Reiche der Geister. Es ist daher sehr traurig, wenn es mit einem Christen dahin kommt, daß er das Wachen und Beten und die Gnade Gottes nicht mehr so nöthig zu haben glaubt wie im Anfang seines geistlichen Kampfes, und wenn er nachläßt in seinem Eifer, nach dem himmlischen Kleinode zu laufen. Man kann gewiß sein, daß ein solcher Mensch nicht weit von einem schweren Falle ist. Wir müssen uns daher, sobald unser Eifer im Gebete und in der Wachsamkeit zu erkalten beginnt, auf's Neue aufzuraffen suchen, damit wir nicht in den Abgrund stürzen, dem wir träumend entgegengehen. Wie viele Christen gibt es nicht, die, anstatt vorwärts zu kommen, immer weiter zurückgehen, ohne daß sie es selbst merken und wissen. So erging es auch unserem Louis, wie wir bald sehen werden.

Während der nächsten vierzehn Tage nach dem Besuch bei Frau Paget wurden die Gesangübungen unter der Leitung der beiden Brüder Mortimer regelmäßig fortgesetzt; und Herr Witworth sowie Frank Digby halfen dabei treulich mit. Sobald der kleine Sängerchor die ausgewählten Stücke so weit studirt zu haben glaubte, um sich öffentlich hören lassen zu können, so wurde Herr Doktor Wilkinson um die Erlaubniß zu einer Gesangaufführung angegangen, welche derselbe auch gerne ertheilte, und da er mit den Leistungen in der angehörten Probe außerordentlich wohl zufrieden war, so gab er den Künstlern die fernere Erlaubniß, so viele Freunde dazu einzuladen, als sie wollten.

Es wurden zu dem Ende jetzt nach allen Richtungen hin Einladungskarten verschickt. Frau Paget, die natürlich nicht vergessen wurde, nahm die Einladung mit Vergnügen an und ermangelte nicht, in ihrer Antwort einige schmeichelhafte Bemerkungen für den Präsidenten der Künstlergesellschaft beizufügen. Zugleich bat sie denselben um die Erlaubniß, dem Musikchor einige Erfrischungen verabreichen zu dürfen, was man natürlich nicht von der Hand wies. Der liebenswürdige Vorschlag wurde mit einem dreimaligen » Hoch« auf die freundliche Geberin begrüßt, und mehr als ein unmusikalischer junger Herr in Ashfield sah mit neidischen und lüsternen Blicken die Feigen, Kuchen und Champagnerflaschen anlangen, die man in Reih und Glied im großen Schulzimmer aufstellte.

Das Konzert befriedigte ziemlich allgemein. Hamilton, dessen musikalische Gabe wir schon kennen, übernahm das Amt des Ceremonienmeisters, wobei Trevannion und Meredith ihn unterstützten, und es muß ihnen zum Lobe nachgesagt werden, daß sie ihre Aufgabe gut lösten. Vorzüglich benahm sich Hamilton mit einer ausgezeichneten Höflichkeit gegen Frau Paget, in deren Nähe zu sitzen er die Ehre hatte.

Er war ganz Ohr für die schöne Musik und unterließ es auch nicht, von Zeit zu Zeit der Dame seine große Zufriedenheit mit den Leistungen des Musikchors und ganz besonders mit dem ausgezeichneten Talente des Kapellmeisters auszudrücken. Dadurch stieg er denn auch in der Freundschaft dieser Dame so, daß sie alle gegen ihn gehabten Vorurtheile fahren ließ.

Eines konnte man sich nicht erklären, daß nämlich der Doktor mit Louis Betragen an diesem Abend nicht zufrieden zu sein schien. Als Frau Paget ihm das außerordentliche musikalische Talent des Knaben in begeisterten Ausdrücken rühmte, wurde dieselbe mit der kalten Gegenbemerkung abgefertigt, daß es weiter nichts als eine tüchtige Einübung sei, und daß Louis eben einen ziemlich guten Geschmack habe, weiter aber nichts. Der Doktor betrachtete alle Mienen und Bewegungen seines Zöglings, als derselbe sich mit selbstgefälligem Anstande zwischen den Reihen hindurch bewegte. Der Ausdruck und die Blicke des Doktors wurden ernster, und die Unzufriedenheit war deutlich auf seinem Gesicht zu lesen.

Am darauf folgenden Samstag erschien zu nicht geringem Erstaunen aller ein neuer Zögling in der Person des Henry Normann, der an dem Tische des Doktors seinen Platz angewiesen bekam.

Als Hamilton und Louis aus dem Garten in's Haus zurückkehrten, entdeckten sie den jungen Herrn am Tische, wie er sich auf Doktor Wilkinsons Stuhl nachlässig hin- und herwiegte und in ein erst zur Hälfte aufgeschnittenes Buch vertieft war. Er kehrte ihnen den Rücken zu und war so eifrig damit beschäftigt, den Sessel im Gleichgewichte zu erhalten und den wahrscheinlich interessanten Inhalt seines Buches zu verschlingen, daß er das Hereintreten der Beiden nicht bemerkte. Louis, welcher den neuen Gast nicht sogleich erkannte, überließ es Hamilton, denselben anzureden und zu begrüßen.

– Ich denke, es ist ein neuer Zögling, Louis, sagte Hamilton mit etwas leiser Stimme. Ich kenne diesen Gentleman, Louis; es ist einer von deinen Freunden.

Ehe Louis antworten konnte, wurde Normann durch ihr leises Gespräch aufmerksam gemacht, und ohne sich im geringsten stören zu lassen, begrüßte er Louis mit einem kalten: » Wie gehts?« Louis eilte freudig auf ihn zu und reichte ihm freundschaftlich die Hand; allein jener erwiederte diese Herzlichkeit damit, daß er ihm mit kalter und Verachtung ausdrückender Miene zwei Finger seiner linken Hand nachlässig hinhielt.

Hamilton war zuerst unschlüssig, ob er ihn zum Fenster hinaus expediren oder einfach vor die Thüre werfen wollte; er begnügte sich jedoch damit, dem Grobian den Rücken zu kehren. Louis wurde nicht so leicht beleidigt; aber diese Art der Begrüßung kam ihm doch etwas zu unhöflich vor. Er wollte jedoch nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, sondern näherte sich ihm wieder und stellte ihm seinen Freund Hamilton vor.

Normann betrachtete Hamilton mit prüfenden Blicken, und dabei lag auf seinem Gesichte fortwährend ein Lächeln der Verachtung.

– Sie sind mir nicht ganz unbekannt, Mister Hamilton, obgleich Sie mich nicht kennen, sagte er endlich, indem er den Stuhl wieder herunterließ und vom Tisch aufstand.

– In der That, ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen, sagte Hamilton kalt; auch wußte ich nicht, daß ich die Ehre hatte, Ihnen bekannt zu sein.

– In diesem Fall versichere ich Sie, daß Sie diese Ehre wirklich hatten. – Ei, wie dumm – rief er aus, indem er sich wieder auf des Doktors Stuhl hinstreckte, wie dumm bin ich, mich auf den Tisch zu setzen, während ich einen so herrlichen Sitz zur Verfügung habe. Was für ein bequemer Sessel, worauf sich der Magister setzt – um Verzeihung! Doktor Wilkinson, wollte ich sagen; jener Name ist mir schon so geläufig geworden, daß ich den wahren Namen beinahe vergessen habe. Der alte Herr versteht es, sich's bequem zu machen. Ich denke, das Buch wird wohl ihm gehören, in dem einige Seiten aufzuschneiden ich mir die Freiheit genommen habe.

– Das wird ihm wahrscheinlich ein großes Vergnügen machen, sagte Hamilton; vielleicht werden Sie die Ehre haben, dies aus seinem eigenen Munde zu hören.

– Gut gesprochen! versetzte Normann. Es freut mich sehr, Mister Hamilton, zu sehen, daß Ihr gesunder Verstand einmal gegen Ihre Neigung ankämpft, die Ihnen bei einem frühern Anlasse nicht erlaubte, in Ihrer Umgebung etwas nicht ganz Schickliches zu bemerken, und wodurch Sie Ihren Kameraden die Aufmunterungen vorenthalten haben, welche dieselben zur Ablegung gewisser Fehler doch so nöthig gehabt hätten. Ich bin glücklich und zugleich stolz darauf, daß Sie gleich zu Anfang meines hiesigen Aufenthaltes mich mit Ihren freimüthigen und freundschaftlichen Zurechtweisungen beehren.

Hamilton war ganz erstaunt über diese Rede. Es lag jedoch in Normanns Ton und Ausdruck durchaus nichts Beleidigendes oder Herausforderndes. Hamilton konnte aber nicht begreifen, was jener damit sagen wollte. Er vermuthete, es sei damit auf etwas angespielt, wovon er keine Kenntniß habe; da er indessen sah, daß Louis ebenso erstaunt, ja verlegen und beleidigt war, so erwiderte er in stolzem Tone:

– Ich kann Sie wirklich nicht verstehen, mein Herr; aber die Art und Weise, wie Sie sich Ihrem Freunde und mir gegenüber benehmen, ist im höchsten Grade unschicklich. Ich weiß nicht, auf was Sie anspielen, und was man Ihnen mag hinterbracht haben; sei es übrigens, was es will, so möchte ich Sie freundschaftlich ersuchen, sich zu erinnern, daß Sie sich in Gesellschaft von anständigen Leuten befinden, die gewohnt sind, sich gegenseitig als solche zu behandeln.

– Mein lieber Mister Hamilton, sagte Normann in einem etwas demüthigen Ton, als er sah, daß jener die Richtung nach der Thüre einschlug, Sie verstehen mich nicht. Mister Mortimer weiß vielleicht besser, worauf ich hindeute, und ich bin demselben sehr verbunden für die Güte, daß er mich mit Ihrer Majestät und den verschiedenen Personen Ihres Hofes bekannt gemacht hat. Es liegt durchaus nicht in meiner Absicht, denjenigen zu beleidigen, der mir einen so großen Dienst erwiesen hat. Was Sie betrifft, Mister Hamilton, so würde ich sehr glücklich sein, wenn Sie mir Ihre Freundschaft schenken wollten. Laßt uns einander die Hände reichen!

Hamilton reichte ihm zögernd die Hand; darauf zog er die Uhr hervor und sprach seine Verwunderung aus, daß der Thee so lange auf sich warten lasse.

– Da ertönt die Glocke! rief Louis aus, und damit nahm er seinen Freund beim Arm und verließ mit ihm das Zimmer, ohne sich weiter um Normann zu bekümmern, zu dem er sich nicht mehr besonders hingezogen fühlte.

Normann war ihnen nicht gleich gefolgt, sondern erschien erst, als Hamilton seine erste Tasse bereits ausgetrunken hatte, und mit ihm Trevannion und Frank Digby. Der letztere schien mit dem neuen Kameraden schon gute Bekanntschaft gemacht zu haben, denn er verstand besser als irgend jemand die Kunst, in einem Augenblicke Freundschaft zu schließen. Die drei Freunde setzten sich an das eine Ende eines langen Tisches, wo sie ganz gemüthlich zusammen plauderten und lachten, während sie den Thee einnahmen.

– Louis, weißt du, daß Normann angekommen ist? rief Reginald seinem Bruder zu, als derselbe ins Schulzimmer trat.

– Ist das einer deiner Freunde? fragte Trevannion.

– Ja und nein. Denke in deinen Mußestunden über dieses Räthsel nach, antwortete Reginald lachend.

– Ah, jetzt versteh' ich! sagte Trevannion.

– Was? sagte Louis.

Louis erhielt statt der Antwort einen Blick, durch den er sich zur Wiederholung seiner Frage nicht aufgemuntert fühlte. Glücklicherweise hatte Reginald diesen Blick nicht bemerkt.

– Gefällt dir unser neuer Kamerad, Trevannion? fragte Hamilton, indem er seinen Arm um ihn schlug, um mit ihm den Spielplatz auf und ab zu gehen. Ich glaube, er ist ein wenig sonderbar und, wie mir scheint, etwas unverschämt.

– Mir gefällt er im Gegentheil sehr gut, sagte Trevannion.

– Auf jeden Fall ist er nicht auf den Kopf gefallen, sagte Salisbury. War er schon einmal hier?

– Nein, sagte Frank; aber jemand ist so freundlich gewesen, ihm die ganze Geschichte unseres Hauses von A bis Z zu erzählen; und alle Mitglieder der Akademie zu Ashfield sind gründlich charakterisirt worden. Denkt euch nur, er kennt alle unsere Namen schon, mit einem Wort, er ist in alle unsere Geheimnisse eingeweiht.

– Ich muß euch gestehen, er hat mich wirklich nicht sehr für sich eingenommen, bemerkte Hamilton. Ich fürchte, er werde unsere freundschaftlichen Verbindungen nicht fester knüpfen.

– Es scheint, er hat deinen Nestjungen nicht besonders gern, sagte Trevannion, indem er bemerkte, wie dieser roth wurde. – Er hat mir von eurer Begrüßung erzählt, und ich kann dir versichern, du hast ihn sehr für dich eingenommen.

Normann erschien an diesem Abend nicht im Schulzimmer, und auch während der folgenden zwei Tage sah ihn Louis zu seiner größten Zufriedenheit nie.

Normann mochte ungefähr eine Woche in der Anstalt gewesen sein, als eines Tages nach dem Schlusse der Vormittagsstunden sich mehrere Zöglinge am einen Ende des Schulzimmers gruppirt hatten. Frank und Salisbury saßen auf einem Schreibtische, und der erstere schnitt allerlei Grimassen, stieß klägliche Seufzer aus, erhob die Augen gen Himmel, schlug die Hände zusammen und theilte bald rechts, bald links sanfte Rippenstöße aus; aber Salisbury, der die meisten davon bekam, hörte so aufmerksam einem Redner zu, welcher der Gesellschaft allerlei Mittheilungen machte, daß er das Geberdenspiel seines Nachbars nicht bemerkte, auf dessen Gesicht sich abwechselnd Entrüstung, Ungeduld und Zorn spiegelte.

Jener Redner war Normann. Louis war im Zimmer und suchte einen Griffel in seinem Schreibpulte; er war der Gruppe nicht nahe genug, um zu verstehen, was dort verhandelt wurde; nur ein paar Worte konnte er hören, »Ferrer – meine Tante – geschickt – Heuchler.«

Er hatte das Suchen des Griffels schon aufgegeben, als Hamilton sich ihm näherte.

– Louis, sagte dieser, ich gehe jetzt mit Trevannion spazieren; aber nach dem Essen will ich dann deine Aufgabe abhören. Vergiß es nicht!

– Ich will daran denken. O Hamilton, hättest du nicht einen Griffel? Reginald hat mir zwei zerbrochen, und ich kann den andern nicht finden.

– Ich habe deinen Griffel aufbehalten, weil du so nachlässig bist. Hier hast du den Schlüssel; du kannst ihn aus meinem Schreibpulte nehmen.

Mit vielem Dank für Hamilton's Vorsicht begab sich Louis an das Schreibpult desselben, um den bezeichneten Griffel zu holen, während Hamilton zu Trevannion ging, der sich auch bei seiner Gruppe befand. Louis war nun dem Sprecher nahe genug, um alle seine Worte zu verstehen, worüber er so erstaunt und bestürzt war, daß er den Schlüssel stecken ließ und, ohne das Pult geöffnet zu haben, hinauseilte.

– Willst du mit mir spazieren kommen, Trevannion? sagte Hamilton.

Trevannion lehnte sich an des Doktors Schreibpult und schien, wie alle andern, über die Mittheilungen des Redners ziemlich verwundert zu sein. Sobald er Hamilton's Stimme hörte, wandte er sich gegen ihn und warf ihm einen stolzen Blick zu, während er kalt und bitter sagte: »Ich danke Ihnen recht schön, Mister Hamilton. Sie finden vielleicht einen andern statt meiner, der Ihnen besser zusagt, wenn Sie sich die Mühe nehmen wollen, ihn zu suchen.

– Was meinst du damit? sagte Hamilton.

– Es scheint, daß deine Freunde ein besseres Gedächtniß haben als du, erwiederte Trevannion, die Arme über einander kreuzend und eine ziemlich gleichgültige Haltung annehmend. Ich bin dir sehr verbunden für alle Freundschaft und Gewogenheit, deren du mich gewürdiget hast. Du denkst vielleicht, ich sei auch zu faul, mir einen andern Freund zu wählen; aber nein, mir soll's nicht zu sauer werden, einen andern zu suchen und dich von einem Bande zu befreien, das dich drückt, oder in welchem du nur durch deine Bequemlichkeit gehalten wurdest.

Hamilton sah ihn erstaunt an; denn er konnte sich nicht besinnen etwas gesagt zu haben, wodurch er seinen Freund so tief gekränkt hätte. Es war ihm ein völliges Räthsel, dessen Auflösung er auf den Gesichtern zu lesen sich bemühte. Zuerst wollte er mit stolzer Verachtung sich entfernen; aber bessere Gefühle behielten in ihm die Oberhand.

– Ich versichere dir, daß ich dich nicht verstehe, sagte er endlich; dürfte ich dich bitten, dich deutlicher auszusprechen? Wenn ich etwas gethan habe, wodurch du beleidigt wurdest, so sage mir's, und ich will dir meine Entschuldigung machen.

– Entschuldigungen helfen hier nichts; nicht wahr, Normann? sagte Trevannion mit bitterem Lächeln.

– Normann, wenn du etwas von der Sache weißt, so bitte ich dich, es mir zu sagen.

– Ich mische mich nicht darein, sagte Normann gleichgültig.

– Was für eine Tragödie spielt ihr denn da, was gibt's denn? fragte Reginald, der in demselben Augenblick hereintrat.

– Die Sache ist einfach die, sagte Frank. Normann weiß aus zuverlässiger Quelle, daß Hamilton einmal im Vertrauen zu jemanden (vielleicht zu dir oder zu mir) gesagt hat, der einzige Grund, warum er Philipp Trevannion unter die Zahl seiner Busenfreunde aufgenommen, sei der gewesen, daß er sich nicht habe die Mühe nehmen wollen, einen andern zu suchen, der ihm besser zugesagt hätte. Da nun aber obbesagter Herr Trevannion versichert, diese angenehme Nachricht aus dem Munde seines erhabenen Freundes nie vernommen zu haben, so ist klar, daß jemand anders das ihm geschenkte Zutrauen mißbraucht hat. Ja! ja! so ist's!!

– Was für eine Dummheit, so etwas zu glauben! rief Reginald aus. Glaubst du es, Trevannion?

– Kann er es leugnen? sagte Trevannion, sich nach der Seite wendend, wo Hamilton stand.

Hamilton wurde roth, und nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, wo und wann er so etwas mochte gesagt haben, fuhr er fort:

– Ja, ich erinnere mich, daß ich eines Tages, wo ich gegen Trevannion nicht am besten gestimmt war, etwas der Art geäußert habe. Unsere gegenseitige Freundschaft besteht aber schon so lange, daß ich gar nicht begreife, wie man eine so flüchtig hingeworfene Bemerkung für etwas anderes als für einen augenblicklichen Ausbruch böser Laune nehmen kann. Wir sind schon seit vielen Jahren gute Freunde und zwischen solchen sollte eine Kleinigkeit wie diese nicht so böse aufgenommen werden. Es thut mir wirklich sehr leid, daß eine solche Aeußerung über meine Lippen gekommen ist; aber wenn man alles das, was in Augenblicken des Unwillens und unbedachtsamerweise ausgesprochen wird, so hoch anschlagen wollte, so könnte ja keine Freundschaft auf Erden mehr bestehen. Reich mir deine Hand, Trevannion, und vergiß, was vergangen ist, wie ich es auch thun würde, wenn mir ein Dritter eine solche Geschichte zutrüge.

Bei den letzten Worten blickte er Normann voll Entrüstung an; auch auf den ursprünglich Schuldigen warf er bedeutungsvolle Blicke, hütete sich aber sorgfältig, die Aufmerksamkeit seiner Kameraden auf diesen zu ziehen.

– Diese Sache ist von keiner großen Wichtigkeit, auch wird sie für dich keine nachtheiligen Folgen haben, erwiederte Trevannion; aber diese Kleinigkeiten, wie du sie nennst, sprechen lauter als alle Bekenntnisse. Wenn du zu alt bist, um böse Gewohnheiten abzulegen, so habe ich hingegen das Alter noch nicht überschritten, wo man sich von seinen Fehlern befreien kann.

– Ich bin nicht gewohnt, Bekenntnisse abzulegen, sagte Hamilton mit stolzer Miene. Ich habe nichts mehr beizufügen.

Er wollte weggehen, als eine plötzliche Bewegung von Jones ihn aufhielt. Jones war bis jetzt ruhig neben Trevannion sitzen geblieben; aber plötzlich sprang er vom Schreibtisch herunter, packte Louis und riß denselben zu seiner und seines Bruders größtem Erstaunen zur Gruppe herbei, indem er ausrief:

– Hier ist der Verbrecher! Der Neuigkeitskrämer! der Heuchler! der gute, sanfte Knabe! dem so ungeheuer viel an Ferrer's gutem Rufe liegt.

– Was willst du denn mit mir? schrie Louis, der sich den kräftigen Armen seines Gegners entwinden wollte.

– Willst du ihn gehen lassen, Jones? schrie Reginald; was soll denn das vorstellen?

– Laßt ihn gehen! sagte Hamilton, laßt ihn in Ruhe!

– Das ist der Verräther, Hamilton.

Hamilton konnte nichts dagegen sagen; denn er wußte, daß Louis der einzige war, vor dem er jene Aeußerung gethan hatte.

– Und wenn auch, es ist eine alte Geschichte, sein Gewissen wird ihn schon strafen, laßt ihn in Ruhe!

– Louis, hast du wirklich aus der Schule geschwatzt; solltest du wirklich so unklug gewesen sein? fragte Reginald seinen Bruder.

– Es ist möglich, daß ich es bin; ich glaube, ich habe einmal zu Mistreß Paget etwas Aehnliches gesagt; ich dachte nicht, daß es etwas Böses sei, und zudem hatte Hamilton mir nicht verboten, es zu sagen.

Nicht verboten! wiederholte Jones höhnisch.

Hamilton sah Louis mit Blicken an, in denen eher Mitleid als Entrüstung lag. Louis schämte sich seiner Unklugheit; er war aber seit einiger Zeit des Lobes und der Schmeichelei so gewohnt, und so eitel und eingebildet geworden, daß dieses Gefühl der Scham sehr bald durch kalte Gleichgültigkeit verdrängt wurde, und anstatt sich schuldig zu geben, wiederholte er ganz gleichgültig: Ich hatte keine böse Absicht dabei.

– O Louis, sagte Reginald in vorwurfsvollem Tone, das hätte ich nicht von dir geglaubt!

– Laßt ihn gehen, Jones! sagte Hamilton, sich thatsächlich in's Mittel legend.

– Nicht so schnell, Ihro Majestät, entgegnete Jones; Die Heuchler müssen entlarvt werden. Sehen Sie, meine Herren, hier ist der kleine Heilige, dem so viel an Ferrer's gutem Rufe liegt, der einer alten, lieben Freundin nicht blos Ferrer's ganze Geschichte erzählt, sondern überhaupt alles aus unserem Hause auskramt und mit einer alten Schwatzbase innige Freundschaft geschlossen hat.

– Sachte, Jones, sachte! unterbrach ihn Normann.

– Ja, eine alte Schwatzbase, fuhr Jones fort, der sagt er alle die Namen, die bei der Geschichte betheiligt waren, so daß diese Lumperei, zehnmal vergrößert und entstellt, bald im ganzen großen Königreich die Runde machen wird.

– Ich glaube keine Silbe von allem, sagte Reginald; es ist unmöglich!

– Ist das unmöglich? sagte Jones, seinen armen Gefangenen schüttelnd.

– Was geht das dich an? sagte Louis.

– Sag', fromme Schwatzbase, wiederholte Jones, seine Worte mit einem neuen Schütteln begleitend, hast du deiner liebenswürdigen Freundin das alles erzählt?

– Gib Achtung, Jones, schrie Reginald, sei etwas höflicher, oder …

– Halt' ihn, Normann, halt ihn! Jetzt Louis, wenn du nicht antwortest, so will ich dich Mores lehren.

– Wir sind Freunde, Mortimer, schrie Salisbury, von seinem Tisch herunterspringend und zu Reginald tretend; aber die Geschichte muß aufgeklärt werden. Es soll deinem Bruder nichts geschehen; aber antworten muß er, und bis dahin darfst du dich nicht regen, oder ich halte dich.

– Mische dich nicht drein, Salisbury, sagte Hamilton, diese Geschichte geht nur mich an.

– So? schrie Frank, dein guter, lieber, zärtlicher, ausgezeichneter Freund erzählt überall die Lebensgeschichte von uns allen, und das soll uns nicht berühren? Wie merkwürdig! Der gute Ruf dieses kleinen Heuchlers muß von Grund aus zerstört werden. Wir sind die Stärkern, und wir wollen sehen, ob wir es nicht durchsetzen.

Reginald konnte sich kaum halten, während Jones sein Verhör fortsetzte.

– Wirst du gleich antworten, bist du's gewesen oder nicht?

Louis war nahe daran, zu schreien; aber er hielt an sich und antwortete mit halberstickter Stimme:

– Mistreß Paget hat mich gefragt; aber sie hat beinahe alles schon gewußt; ich weiß nicht, wie das kam, daß mir dieser Name über die Lippen fuhr, ich wollte ihn nicht nennen.

– Was, sagte Hamilton, du hast diese ganze Geschichte erzählt, Louis?

Louis fühlte, daß sein Freund Hamilton unwillig wurde. Wenn seine Kameraden gewußt hätten, unter welchen Umständen Louis dazu gekommen war diese Geschichte zu erzählen, so würden sie wahrscheinlich weniger streng geurtheilt haben; denn es muß hier nicht vergessen werden, daß, so unklug Louis auch gewesen war, die ganze Sache von Normann sehr vergrößert und entstellt worden war, und dazu kam noch, daß dieser letztere den kleinen Louis nicht sehr lieb hatte.

Wir sehen übrigens hieraus, wie sehr man seine Zunge im Zaum halten sollte, und auf der andern Seite, wie sich Hochmuth und Eitelkeit selber bestraft.

– O Hamilton, rief Louis aus, ich habe nicht alles erzählt.

– Nein, aber gerade so viel, um recht großmüthig zu erscheinen, sagte Frank.

– Da sich die Sache so verhält, fuhr Jones fort, so ist es kein Wunder, daß dieses junge Krokodill mit derselben Zärtlichkeit auch noch andere Namen in den großmüthig geöffneten Rachen geworfen hat, während es zu diesem Zweck die geheimen Unterredungen mit einem zu nachsichtigen Freunde ausbeutete. In der That, kleiner Gentleman, ich hätte große Lust, dich Ferrers Füße küssen zu lassen. Wo ist Ferrer?

Jones wollte mit seinem Opfer zum Zimmer hinaus, um Ferrer aufzusuchen; aber Hamilton und Reginald wollten die Sache nicht so weit kommen lassen.

– Laßt ihn in Ruhe, sagte Normann; es lohnt sich gar nicht der Mühe, so viel Aufhebens davon zu machen; meine Absicht war nur, euch vor ihm zu warnen.

– Verbindlichen Dank, erwiederte Hamilton in bitterer Tone Ironie.

Hamilton ging nicht von der Stelle, bis Louis in Freiheit war und das Zimmer verlassen konnte. Das Schreien und Pfeifen seiner Kameraden begleitete ihn.

– Hamilton, sagte Normann, dürfte ich dich vielleicht fragen, was du mit deinen letzten Worten sagen wolltest?

– O freilich, antwortete Hamilton, indem er den Fragenden von oben bis unten ansah; du kannst sie deuten, wie du willst; aber ich erkläre dir ein für allemal, daß ich mich nicht mir dir einlasse.

– Du könntest deine Worte ein klein wenig besser abwägen, sagte Normann, außer sich vor Zorn; ein ehrlicher Mann führt keine zweideutigen Reden.

Hamilton würdigte ihn keiner Antwort und begab sich in ein anderes Zimmer, während Reginald sich mit Normann in eine Faustschlacht nach allen Regeln der Kriegskunst einließ.

Louis begab sich zu seinen Spielkameraden, denen die Ungnade noch nicht bekannt war, in die er bei den Großen gefallen war. Nachdem er eine Zeitlang mitgespielt hatte, begab er sich wieder hinweg, weil ihn die innere Unruhe kein Vergnügen am Spiel finden ließ. Er ging einsam spazieren und hatte da hinlänglich Zeit zum Nachdenken. Zu seinem größten Schmerz mußte er sich gestehen, daß seine Beziehungen zu Gott nicht mehr dieselben seien wie ehedem. Er versuchte zu beten; aber er konnte nicht. Das geht immer so, liebe Kinder, wenn man sich vom Bösen hinreißen läßt; je weiter man sich von Gott entfernt, desto mehr fürchtet man sich vor ihm, und desto mißtrauischer wird das Herz. Man kann nicht mehr; und ein Mensch, der nicht mehr beten kann, fällt immer tiefer in die Sünde. Während Louis so einsam auf und ab ging, glaubte er einen Lärm von derjenigen Seite des Hauses zu hören, wo das große Schulzimmer war. Er eilte hinein und erblickte seinen Bruder im Kampfe mit Normann. Er sah wohl, daß es hier ganz unnütz wäre, einen Versuch zu machen, die Kämpfer zu trennen; darum entfernte er sich wieder und fing an zu weinen, denn er befürchtete, es möchte seinem Bruder ein Unglück begegnen, und ganz besonders erschrak er bei dem Gedanken, daß der Doktor Kenntniß davon erhalten könnte.

Meine lieben jungen Leser müssen mir erlauben, hier eine Bemerkung einzuschalten. Gott hat jedem von uns eine Stellung angewiesen, in welcher wir mit unsern Nebenmenschen in Berührung kommen, und durch welche wir mehr oder weniger einen Einfluß auf andere ausüben. Von der Benutzung dieser unserer Stellung sind wir ihm Rechenschaft schuldig. Die Kameraden unsers Louis handelten sehr unedel an ihm und thaten ihm großes Unrecht. Deßwegen wollen wir ihn aber nicht entschuldigen; denn er hatte unrecht gethan, daß er unklugerweise Dinge von ihnen erzählte, die ihn nichts angingen, und er hätte sein Unrecht eingestehen sollen, anstatt es zu beschönigen. Seine Kameraden fehlten darin, daß sie ihre Härte und Lieblosigkeit zu weit trieben und zu lange ausdehnten, wodurch der ohnehin so schüchterne Louis den Muth verlor und beinahe verzweifelte, indem er so schloß: Ich habe nun doch einmal meinen guten Ruf verloren und werde ihn nie mehr erhalten; was nützt es mir also, daß ich mir Mühe gebe, es in Zukunft besser zu machen? man wird mir doch nicht glauben. – Louis wurde nun nach und nach unter die Schlechtesten der Anstalt gezählt. Für all' das Schlimme, das er in der Folge beging, war er dem Herrn verantwortlich; aber seine größern Kameraden, die ihn dahin gebracht hatten, waren es noch mehr.

Es schien sich jetzt niemand mehr um Louis zu kümmern, und er selbst wurde muthlos und nachlässig. In kurzer Zeit saß er um drei Plätze weiter unten in seiner Klasse. Selbst Hamilton sah ihn kaum mehr an, und sogar Reginald war böse auf ihn. Louis suchte sich gleichgültig zu stellen, und den Abend brachte er mit Churchill und Casson zu.


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