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XIV

Die Jugend scheint beinahe einstimmig überzeugt zu sein, daß Schulen und Lehrer nothwendige Uebel seien, die man eben tragen müsse; und die Rückkehr in die Schule nach den Ferien wird immer als eine Art Märtyrerthum betrachtet. Die unglücklichen Opfer schütteln ungläubig den Kopf, wenn man ihnen sagt, daß die Schulzeit die glücklichste Zeit des Lebens sei, und daß sie dieselbe später zurückwünschen werden. Ich will hier nicht untersuchen, woher diese Abneigung gegen die Schule kommt; vielleicht – wir wollen aber nicht zu weit gehen – liegt der Grund in dem Hang zum Ungehorsam und zur Unordnung, der in der Schule bekämpft werden muß, und man weiß ja, wie ungern die Jugend kämpft. – Eins werden die jungen Leser zugestehen; nämlich, daß ihnen der erste Tag der Ferien lieber ist als der letzte, daß der erste Schultag nach dieser glücklichen Zeit ein trauriger Tag ist, und daß während der ganzen ersten Woche ein gewisses Gefühl der Empörung in den Schülern herrscht.

Die Feiertage in Dashwood waren zu Ende, und Louis sollte mit seinem Bruder Reginald – so sehr der erstere den entgegengesetzten Wunsch hatte – wieder in die Anstalt zurückkehren. Herr Mortimer war überzeugt, daß das Anstaltleben mit seinen Kämpfen und Reibungen dem unbeständigen Charakter seines Kindes nothwendiger und heilsamer sei, als die Zärtlichkeit der Mutter und der Schwestern. Der Tag der Abreise war da; die beiden Knaben bestiegen den Wagen, der sie nach Bristol bringen sollte, und mit Weinen und schwerem Herzen sahen sie die heimathliche Gegend ihren Augen entschwinden.

Ueber die lange und etwas traurige Reise ist nicht viel zu sagen; das Anhalten, Wechseln der Pferde und das Einnehmen der Mahlzeiten ist alles, was davon zu erzählen wäre. Louis und Reginald saßen gewöhnlich oben auf der Kutsche; als sie sich aber Bristol näherten, wurde Louis schläfrig und müde, und er wünschte im Innern des Wagens zu sein, wo zufällig niemand war. Dort streckte er sich auf dem Sitze aus und hatte in den Armen des Schlafes bald Müdigkeit und Kummer vergessen. Wahrscheinlich hatte er ziemlich lange geschlafen; ein Halt weckte ihn plötzlich auf. Er streckte den Kopf zum Kutschenfenster hinaus, um zu sehen wo sie seien. Aber anstatt vor dem Gasthof zum weißen Löwen in Bristol, wie er erwartet hatte, befand man sich vor einem niedlichen Haus, welches, von lieblichen Bäumen umschattet, mitten in einem schönen Garten lag. Es war so ein Haus, wie Louis es sich in seinen Träumereien oft gewünscht hatte, etwas niedrig und altmodisch, mit einer großen Glasthüre in der Mitte und auf beiden Seiten Fenster von der verschiedensten Form. An dem Hause rankten Rosenstöcke, Epheu und Geisblatt, und dazwischen schlang sich ein Rebstock mit seinen Schossen bis über die Fenster der Schlafzimmer, und die Trauben, die daran hingen, erweckten in Louis die Vorstellung, wie herrlich es sein müsse, wenn man nur seine Hand zum Fenster hinausstrecken dürfe, um die köstliche Frucht zu genießen. Besonders wohl gefielen ihm die schönen Bäume des Hügels hinter dem Hause und die langen Schatten, welche sie bei der untergehenden Sonne auf den grünen Teppich warfen.

Während er alle diese Lieblichkeiten betrachtete, erschienen zwei Diener vor der Thüre des Hauses mit einem Koffer und einem Nachtsack. Ein neuer Reisegefährte? es konnte nicht fehlen, und bald sah man ihn in Begleitung eines Herrn aus dem Hause herauskommen und hinter ihnen eine Gesellschaft, von der Louis zuerst nichts sehen konnte als die weißen Röcke. Der neue Reisegefährte schien der kleine Junge zu sein, den jener Herr an der Hand führte. Der nicht unbeträchtliche Schirm seiner Mütze erlaubte aber nicht, die Physiognomie dieses kleinen Herrn zu studiren. So viel man indessen unter diesem Schirmdach bemerken konnte, war seine Miene nicht die fröhlichste. Zwei kleine Mädchen drängten sich an ihn heran; das kleinere von ihnen weinte bitterlich. Als sie an der Gartenthüre angekommen waren, gab der Herr dem kleinen Jungen die Hand und übergab ihn der Aufsicht des Kutschers, damit er sicher und wohlbehalten in Ashfield ankomme.

– Seien Sie nur ruhig, mein Herr, sagte der Kutscher, der den Kutschenschlag aufmachte und den Reisesack des Knaben hineinlegte; zudem sind hier auch zwei junge Herren, die nach Ashfield reisen, und die Ihrem Herrn Sohn schon erlauben werden, ihnen Gesellschaft zu leisten. Sie begeben sich in die Pension des Herrn Doktors Wilkinson.

– Wirklich? sagte der Gentleman, indem er Reginald und dann Louis ansah.

– Wollen Sie wohl die Gefälligkeit haben, Ihren Fiaker mit meinem Sohne zu theilen?

– Mit vielem Vergnügen, erwiederte Reginald.

Der Gentleman bedankte sich, umarmte seinen Sohn, nachdem derselbe seine beiden Schwestern geküßt hatte, und sagte zu ihm in fröhlichem Ton: – Sieh', wie lustig, Charles, hier findest du neue Kameraden; du hast Gelegenheit, Freundschaft mit ihnen zu schließen, ehe ihr nach Ashfield kommt. Komm jetzt, mein Kind!

Der kleine Charles vergoß einen Strom von Thränen und nahm unter Schluchzen Abschied; darauf wurde die Kutschenthüre zugemacht.

– Charles, thue nicht, wie ein kleines Kind! sagte sein Vater zu ihm.

– Adieu, Charles! riefen die kleinen Mädchen.

– Adieu, Herr Charles! riefen die Diener.

– O, wie froh werde ich sein, wenn Weihnachten da ist! schluchzte der Junge.

Die Kutsche rollte vorwärts, und Charles blickte zum Schlage hinaus, bis sein elterliches Haus ihm aus dem Gesicht verschwunden war und er seine Eltern und Schwestern, die dem Fuhrwerke nachblickten, nicht mehr sehen konnte. Dann machte er sich in die Ecke, verbarg sein Gesicht mit dem Taschentuche und fing an zu schluchzen und zu weinen. Louis suchte ihn zu trösten, indem er ihn freundlich anredete und fragte, ob dies das erstemal sei, daß er von seinen Eltern Abschied nehme. Charles antwortete zuerst nur abgebrochen; aber so wie sein Schluchzen und Weinen allmählig aufhörte, wurde er redseliger und sagte, er wisse gar nicht, warum man ihn in die Schule schicke, und nun fing er an, Louis seine ganze Geschichte zu erzählen, auch von Vater und Mutter und Schwestern und allen Begebenheiten des elterlichen Hauses. Sodann bat er, Louis möchte ihm auch über seine Verhältnisse Mitteilungen machen, was dieser nicht verweigerte, und noch ehe sie in Ashfield ankamen, hatte sich zwischen ihnen eine innige Freundschaft gebildet.

Aus Charles Erzählung ging hervor, daß sein Vater Pfarrer und jenes alterthümliche, trauliche Haus das Pfarrhaus sei. Er sei bisher so glücklich gewesen und habe nie einen andern Lehrer gehabt als seinen Vater, weßhalb er sich nur mit großem Kummer jetzt andern anvertraue. Es lag in seinem ganzen Wesen und in seiner Ausdrucksweise etwas überaus Vernünftiges, und Louis konnte darum beinahe nicht glauben, daß Charles erst zwölf Jahre alt sei. Er fand, Charles ganzes Wesen sei dem seinigen so verwandt, daß er, wie schon gesagt, sich lebhaft zu ihm hingezogen fühlte und einen Freundschaftsbund mit ihm schloß.

Gegen acht Uhr Abends hielt die Kutsche in Bristol an, und nachdem die drei Knaben in aller Eile im Gasthofe einen Thee eingenommen hatten, bestiegen sie einen Fiaker, der sie wohlbehalten zu Herrn Doktor Wilkinson brachte.

Reginald konnte das Schluchzen und Weinen an einem jungen Knaben nicht leiden. Nur bei seinem Bruder Louis machte er eine Ausnahme. Er hatte daher mit dem kleinen Charles sehr wenig Mitleiden, und wenn er auch höflich mit ihm war, so faßte er doch eine solche Abneigung gegen den weichlichen Kameraden, daß er nicht viel mit ihm sprach.

Es war Nacht geworden, als die Kutsche in Ashfield anhielt. Der Eindruck, den der Anblick auf die drei Neuangekommenen machte, war ein trauriger; denn ein ganzes, langes Schuljahr lag vor ihnen, und hinter sich hatten sie die köstlichen Ferientage. Sie betrachteten sich gleichsam wie Vögel, die man wieder in den Käfig sperrt.

Der Doktor sollte in wenigen Minuten zum Abendgebet kommen, war also für diesen Augenblick nicht zu sprechen, und die drei Knaben wanderten mit traurigen Gesichtern in das große Schulzimmer. Dasselbe war leer; aber aus dem daranstoßenden Arbeitszimmer kam ein Gemurmel von Stimmen, und unsere drei Freunde schlugen ihre Richtung dorthin ein. Das Zimmer war beinahe voll von Zöglingen der drei obern Klassen. Es war zu dunkel, um ein anderes Gesicht unterscheiden zu können als das von Frank Digby. Dieser junge Herr war auf das Gesimse des Kamins hinaufgeklettert, von welcher Höhe herunter er eine feierliche Ansprache an die wiederversammelte Gesellschaft hielt.

– Meine Herren und Damen! begann der Hanswurst – ah, ich bitte um Verzeihung! Mademoiselle Louise ist noch nicht angekommen, und Mademoiselle Mary Mathison hat sich schon zur Ruhe begeben; ich, hätte also nur sagen sollen meine Herren – also, meine Herren! – Ich ergreife diese Gelegenheit, meine Herren, diese Gelegenheit des eilften Jahresfestes unserer allerfröhlichsten Wiedervereinigung. Ich weiß, daß nicht alle unter Ihnen das Glück haben, das eilfte zu begehen; aber einige unter uns haben sogar noch mehr gesehen. Was mich betrifft, meine Herren, so ist dies mein eilftes. Ich kann in Wahrheit sagen, daß dies der glücklichste Augenblick meines Lebens ist, da ich die Ehre habe, hier von der Höhe dieses Kamins herab die ganze Gesellschaft mit einem Blicke zu überschauen, und besonders macht mich der Gedanke glücklich, daß auch ich ein Mitglied dieses erhabenen Korps bin. Ich fühle mich wahrhaft erhoben und in höhere Regionen versetzt; aber, meine Herren, da ich mich in einer so gefährlichen Stellung befinde, so könnte ich Ihnen nicht genau sagen, wie lange es mir erlaubt sein wird, Seine Majestät und deren Hof in all seinem Glanze zu betrachten; ich will daher zum Schlusse eilen, indem ich Ihnen noch den Vorschlag mache, auf die Gesundheit Seiner Majestät einige Rosinenkuchen zu verschlingen, und daß, wenn ich von meiner Höhe herunterfallen sollte, jemand von Ihnen die Höflichkeit haben möchte, mich aufzufangen. Mit vollkommenster Ergebenheit empfiehlt sich Ihnen Ihr aufrichtiger Kamerad Frank Digby.

Neben dem Kamin, nicht weit vom Fenster, saß Trevannion, sich auf einem Stuhle wiegend, dessen Rücklehne er gegen die Wand stemmte. Seine Beine waren gekreuzt, um den Stuhl im Gleichgewicht zu erhalten; denn er hatte diese schöne und anständige Stellung gewählt, um bequemer mit Salisbury schwatzen zu können, der auf dem Fenstergesimse mit einem Kuchen in der Hand sich hin und her wiegte. Als Frank seine Rede beendigt hatte, nahm er einen Sprung von seiner Tribüne herunter, fiel dabei dem Trevannion auf die Füße und stieß zugleich heftig an Salisbury, welcher nun ebenfalls mit zu Boden gerissen wurde. Ein allgemeines Gelächter folgte dieser unerwarteten Katastrophe; aber nichts übertraf die Freude des Urhebers dieser Scene, der auf dem Boden ausgestreckt lag und in ein entsetzliches Lachen ausbrach.

– Aber wirklich, Digby, schrie Trevannion zornig, nachdem er seine Beine wieder zurückgesetzt hatte, aber wirklich, dein Unsinn übersteigt alle Grenzen; du verdientest eine Tracht Prügel. Wenn ich es nicht unter meiner Würde hielte, so würde ich sie dir aufmessen.

– Du! – Ha, ha! erwiederte Frank, ha, ha! – Du mußt zuerst sehen, ob du mich erreichen kannst; ich kann nicht mehr aufstehen. Um Verzeihung, mein Sohn – aber, ha, ha! du machest eine so lächerliche Miene, es ist zum Bersten.

– Steh' doch auf, du Aff'! sagte Salisbury, der trotz seines Zornes sich des Lachens nicht enthalten konnte.

– Trevannion's Beine! schrie Frank mit einer neuen Lachfluth.

– Steh' auf, Digby, sagte Trevannion, indem er ihm einen Schlag mit dem Fuß gab, oder ich will dir deine Dummheiten austreiben.

– Sei doch vernünftig, Frank, rief Hamilton's Stimme aus einer Ecke heraus; du bist doch ein großes Kind.

Wie lange Frank noch auf dem Boden gesessen und was für Folgen dieses Abenteuer gehabt hätte, könnte ich nicht sagen; denn in demselben Augenblicke trat der Doktor mit einem Licht in der Hand herein. Frank war augenblicklich auf den Beinen und schoß in eine Ecke, um dort sein verstohlenes Lachen fortzusetzen. Beim Schein des Lichtes entdeckte man jetzt die Anwesenheit Reginalds und seines Bruders, und noch ehe der Doktor sich setzte, hatte Reginald schon manchen Handschlag empfangen, und Louis fühlte sich durch einen kräftigen Arm gehalten. – Es war Hamilton, der ihn begrüßte und ganz glücklich war, seinen kleinen Freund wieder zu haben. Diese Herzlichkeit, sowie der freundliche Empfang seiner andern Kameraden, weckte Louis aus seiner Melancholie, die ihn seit dem Eintreten in das Haus beschlichen hatte. Der Doktor öffnete seine Bibel, und die jungen Leute begaben sich an ihre Plätze. Hamilton behielt Louis neben sich, und der letztere zog seinen kleinen traurigen Kameraden Charles zu sich in die Bank.

– Wer ist dieser Kleine? fragte der Doktor, als er den Knaben bei Louis Platz nehmen sah.

– Ein neuer Zögling, Herr Doktor.

– Wie heißest du? fragte ihn der Doktor; komm' hieher! Ah, das ist Charles Clifton, nicht wahr? Nun, wie geht's?

Charles verfügte sich zum Doktor. Sein Herz wurde etwas getröstet durch den zärtlichen Ton und den theilnehmenden Blick desselben, obgleich in der Miene des Doktors ein gewisses Lächeln lag über das trübselige Gesicht seines neuen Gastes. Charles beantwortete mit schüchterner Stimme die an ihn gerichteten Fragen.

– Wann bist du angekommen? fragte der Doktor.

– Er ist mit uns gekommen, sagte Reginald, aus der Bank heraustretend und auf den Doktor zugehend.

– Ach! da ist Mortimer; wie geht's? und Louis, denk' ich, wo ist er? Es freut mich sehr, dich wieder zu sehen, fügte er hinzu, als Louis hervortrat.

Der Doktor richtete noch einige Worte an die neu eingetretenen Zöglinge; dann gab er das Zeichen zur Stille und sprach den Abendsegen.

Nach demselben wollten sich die Zöglinge entfernen; da winkte ihnen aber der Doktor, sich noch einmal zu setzen. – Ich habe nur noch einen Wunsch anzubringen, sagte er, nämlich den, daß ihr euern Kameraden Ferrer, wenn er wieder zurückgekehrt sein wird, so behandelt, wie wenn nichts geschehen wäre, und daß ihr jene Geschichte nicht mehr erwähnt.

Damit hielt er inne und warf einen prüfenden Blick auf die Gesichter. Die einen waren finster, die andern sahen stillschweigend auf den Boden; allen aber schien dieser Wunsch unbillig zu sein. Der Doktor suchte mit seinen Blicken den Senior der Gesellschaft, Hamilton; aber dieser war in eine so tiefe Betrachtung über Louis' neue Weste versunken, daß seine Augen nicht davon wegzubringen waren.

– Hamilton!

– Herr Doktor, erwiederte Hamilton – mit verstörten Blicken.

– Ich zähle auf dich, als den ältesten der Zöglinge, daß du ihnen in deinem Betragen gegen Ferrer mit einem guten Beispiele vorangehest. Es betrübt mich sehr, so wenig christliche Liebe und Nachsicht bei euch zu finden, während doch derjenige, welcher am tiefsten beleidigt wurde, alles von Herzen vergeben hat und es sein aufrichtigster Wunsch ist, daß man Ferrer nichts entgelten lasse.

Louis erhob das Gesicht und ergriff die Hand Hamilton's; dieser drückte sie etwas kalt, und nachdem er sich gegen den Doktor verbeugt hatte, verließ er das Zimmer.

Beim Hinaufgehen in ihre Schlafzimmer machten die jungen Leute allerlei bittere und aufrührerische Bemerkungen über des Doktors Rede; ja, einige gingen gar so weit, zu erklären, daß sie diese Worte nie befolgen und diejenigen züchtigen werden, denen es einfallen sollte, Ferrer freundlich zu behandeln. Hamilton sagte kein Wort; er schlug seinen Arm um Louis, stieg mit ihm die Treppe hinauf, wünschte ihm herzlich gute Nacht und begab sich dann in sein Schlafzimmer.

Der neuen Zöglinge wegen war ein Lehrer im Schlafzimmer anwesend, um ihnen ihre Schlafstellen anzuweisen, und Louis konnte zu seiner großen Zufriedenheit sich ungestört zur Ruhe legen. Er zog die Decke über den Kopf und stimmte mit seinem neuen Kameraden ein Thränenlied an.

Kaum hatte jedoch der Lehrer das Zimmer verlassen, so streckte Frank Digby seinen Kopf hervor.

– Ich weiß nicht, begann er, ob vielleicht einige unter euch wegen einiger voreiligen Bemerkungen von meiner Seite diesen Abend noch ein Fest erwarten. Wenn dem so ist, so möchte ich dieselben nur gleich ihrer Täuschung entheben, indem ich euch das mir widerfahrene Unglück vermelde, daß meine goldenen Aepfel ein Raub der Gefräßigkeit Gruffy's geworden sind.

– Wie unverschämt! schrien mehrere Stimmen. Was ist's, Frank? sagte Reginald.

– Aber wie hat sie denn Gruffy erwischen können? fragte Meredith. Ich glaubte, du seiest listiger als die Nachtmütze.

– Die Sache verhält sich so: es stiegen der guten Base einige Wohlgerüche in den Sitz der Geruchsnerven, und sie begab sich eifrig an's Suchen, um den Ursprung dieser wohlriechenden Strömung zu entdecken; nachdem sie überall geschnüffelt hatte, kam sie endlich in mein Versteck und entdeckte meinen schwarzledernen Sack. – Aber, Herr Digby, sagte sie zu mir, ich bin erstaunt, daß Sie so unreinlich sind. – Wie können Sie nur Aepfel unter das Kopfkissen thun! Und sie bestand darauf, entweder den Schlüssel zum Sack, oder die Aepfel selbst zu haben. Ich versicherte sie, daß ich keine Aepfel habe; mein Sack sei voller Bücher mit Einband von russischem Leder, der Geruch komme von diesem Leder her, und den Büchersack habe ich unter mein Kopfkissen gethan, um mit Tagesanbruch studiren zu können. Ich hätte gewünscht, daß ihr sie gehört hättet. – Halten Sie mich denn für eine Gans? Glauben Sie, ich könne den Aepfelgeruch nicht mehr unterscheiden? rief sie aus. Ich weiß nicht, was für Albernheiten sie sonst noch vorbrachte. Aber ich hätte dennoch meine Wette gewonnen, wenn nicht der Magister hergetrollt wäre; so aber trug die siegestrunkene Furie meine Schätze fort.

Frank hielt inne, indem er einen tiefen Seufzer ausstieß. Nach einigen Augenblicken fuhr er wieder fort: Es ist Schade, daß man sie nicht in die Zeiten der heidnischen Mythologie zurück versetzen kann: sie wäre ein excellenter Drache gewesen. Hercules hätte die Aepfel der Hesperiden gewiß nicht bekommen, wenn sie die Hüterin gewesen wäre. Es ist aber doch etwas sehr Entmutigendes, wenn man am ersten Tage schon solche Unglücksfälle erlebt.

Der folgende Morgen brachte das Schulleben wieder mit seiner ernsten Wirklichkeit.

– Louis! Louis! – die Glocke, die Glocke!

Louis schoß aus dem Bette heraus, als er die traurigen Klänge hörte, und man vernahm von allen Seiten her bittere Klagetöne.

Reginald, der zu Hause immer früh aufgestanden war, eilte von einem Bette zum andern und weckte die Schläfer, welche die Glocke nicht gehört hatten oder sich doch so stellten, als hätten sie dieselbe nicht gehört. Unter den letztern war auch Frank Digby, an dem lange alle Versuche, ihn aus dem Schlafe zu rufen, fruchtlos blieben, und der, durch anhaltendes Schütteln seines Vetters endlich zum Aufstehen gezwungen, diesen zum Danke bald mit einer Fluth von Schmähworten überschüttet hätte.

– Diese Glocke ist eine wahre Vogelscheuche, brummte er. Welche Unverschämtheit, die Leute so aus dem süßen Schlummer zu wecken! Ich habe große Lust liegen zu bleiben. Ein Schläfchen von einer halben Stunde ist wohl sechs Groschen werth.

– Es ist besser, du sparest deine Groschen für den Papa Dunn, kreischte Meredith.

– Und du würdest den Doktor schön bös machen, sagte Reginald. Steh' auf, Frank!

– Das ist mir einerlei, sagte Frank; ich gäbe nicht zwei Groschen für ihn, so wenig als für seine böse Miene. Aber ihr werdet sehen, er wird heut gewiß liebenswürdig sein, er ist gestern ganz außerordentlich freundlich gewesen – nicht wahr Meredith?

– O gewiß, versetzte der junge Gentleman. Die Lehrer machen's immer so in der ersten Woche; sie wissen wohl warum.

– Ich habe schon lang eine Gelegenheit gesucht, sagte Frank, den Magister in Harnisch zu bringen. Wenn es ihm oder Danby nur einmal einfallen würde, mich an den Ohren zu ziehen, damit ich ihnen ein Buch an den Kopf werfen könnte, und ich auf diese Weise eine gute Entschuldigung hätte, mich aus dem Staube zu machen; allein sie sind alle so grenzenlos geduldig und liebenswürdig, mit Ausnahme des alten Gathorpe; um diesen Brummbär bekümmere ich mich jedoch nicht.

Frank setzte seine unwürdigen Reden gegen die Lehrer noch eine Zeit lang fort und wurde dabei unglücklicherweise durch seine Kameraden aufgemuntert, indem sie seinen Muth und seine Männlichkeit bewunderten. Ich möchte hier beiläufig bemerken, daß das Fortlaufen manchem sehr reizend erscheint, so lange er es noch nicht versucht hat; in der Ausführung nimmt sich das Ding jedoch ganz anders aus. Während man unter freiem Himmel kampiren muß, vom Thau des Feldes bedeckt wird und erstarrte Glieder bekommt, ändert man sehr schnell seine Ansicht über das Fortlaufen, von dem bösen Gewissen, der Schande und Strafe gar nicht einmal zu reden.

Doktor Wilkinson war den ganzen Vormittag mit der Eintheilung der Klassen und der Prüfung der neuen Zöglinge beschäftigt. Man war aufs Höchste erstaunt, als es hieß, der kleine Charles Clifton werde in die zweite Klasse eintreten. Der Doktor selber hielt mehrere Mal inne, als er ihn examinirte, und betrachtete aufmerksam die hohe Stirn und das bleiche Gesicht des Kindes.

– Wie alt bist du denn? fragte er ihn endlich.

– Zwölf Jahre, antwortete Charles.

– Du bist sehr klein für dein Alter; bist du noch nie in die Schule gegangen?

Charles verneinte es, und der Doktor bemerkte ihm dann, daß er in die zweite Klasse aufgenommen werde.

Louis war in den nun folgenden sechs Monaten glücklicher, als er im letzten Semester gewesen war, weil sein Bruder und Meredith mit noch einigen andern in die erste Klasse vorgerückt waren und er daher keine ihm so weit überlegenen Klassengenossen mehr hatte. Er war jedoch ein wenig überrascht, als ihm Hamilton sagte, daß er wohl alle seine Kräfte werde zusammen nehmen müssen, um sich von seinem neuen Freunde Clifton den Rang nicht ablaufen zu lassen.


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