Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

I

Der Knabe, dessen Geschichte wir euch hier erzählen wollen, liebe Kinder, hieß Louis, und war geboren zu Dashwood, einem hübschen Dorfe in der englischen Grafschaft Norfolk. Er hatte zwei Brüder und eine Schwester. Seine Eltern waren gottesfürchtige Leute, deren hauptsächlichste Sorge es war, ihre Kinder in der Furcht des Herrn zu erziehen. Schon von frühester Jugend an war Louis ein außerordentlich liebenswürdiges, sanftes und zutrauliches Kind. Aber bei allen diesen liebenswürdigen Eigenschaften hatte er auch seine großen Fehler: Er war flüchtig und gleichgültig und hatte einen sehr starken Hang zum Lügen. In seinem zwölften Jahre ließ er sich einen schweren Betrug zu Schulden kommen, deßhalb entschloß sich sein tiefbekümmerter Vater, ihn der Pflege eines alten Predigers, Namens Daunton, zu übergeben. Der Knabe blieb bei demselben, bis dieser ehrwürdige Mann über das Betragen seines Zöglings ein gutes Zeugniß ausstellen konnte. Dann durfte unser Louis wieder in's elterliche Haus zurückkehren; aber er war nicht mehr derselbe; er kam zurück mit einem glücklichen und zufriedenen Herzen. Die Ursache dieser Veränderung war die Reue, und zwar die aufrichtige Reue über seine Sünden. – Seht, meine lieben Kinder, das war die Arbeit des heiligen Geistes, die unsern Louis umgeändert hatte; wenn ihm derselbe nicht geholfen hätte, so würde es nie mit ihm anders geworden sein. So lange wir die Sünde nicht erkennen und herzlich bereuen, und so lange der liebe Heiland sie uns nicht vergeben hat, so lange sind alle unsere Anstrengungen, besser und frömmer zu werden, ganz vergeblich, und selbst dann noch, wenn wir vom Herrn ein neues Herz bekommen haben, werden wir nicht alle Sünden und bösen Neigungen so leicht überwinden können, sondern das geht nur nach und nach. Man muß gegen sie kämpfen bis an's Grab und bis wir in jenes schöne Land kommen, wo keine Sünde mehr ist, sondern nur Freude und Seligkeit in der Gemeinschaft des lieben himmlischen Vaters und unsers guten Heilandes und aller heiligen Engel. Ein Kind, das den Heiland nicht lieb hat, kann vielleicht wohl äußerlich den einen oder andern Fehler ablegen; das wird ihm jedoch nur deßwegen leicht, weil die Erziehung oder andere Umstände ihm nachhelfen. Aber ein solches Kind ist doch nicht wahrhaft gebessert, das Böse wohnt noch im Herzen und kann durch die Erziehung nicht ausgerottet werden. Ein wahrer Christ bessert sich nicht bloß äußerlich, sondern auch in seinem Herzen, ja, alle seine Gedanken werden anders und er sucht in Allem, seinem Heiland zu gefallen.

Unser Louis kannte diesen Herrn und sein Herz hatte die Gnade Gottes erfahren; aber er fing an, auf seine eigene Kraft zu vertrauen, und so kam es denn, daß er bald wieder einen großen Fehler beging. Er mußte nämlich auf Befehl seiner Mutter einen schriftlichen Aufsatz, welchen sein älterer Bruder aus der Schule nach Hause geschickt hatte, abschreiben. Sobald er mit dieser Arbeit fertig war, schrieb er einen Brief dazu, legte eines seiner eigenen kleinen Gedichte bei, machte einen Umschlag darüber und schickte das Packet seinem Großvater Sir George Vernon, der damals das alte Schloß Heronhurst bewohnte. Sir George war nicht zu Hause, als das Packet ankam. Lady Vernon öffnete dasselbe, las den Brief und verlor ihn. Sie erinnerte sich nachher nicht mehr, daß der Aufsatz von dem ältern Bruder war und konnte es daher auch ihrem Gemahl nicht sagen. Sir George glaubte, da die Handschrift im Aufsatze und im Gedichte die nämliche war, daß auch jener von Louis verfaßt wäre. Er schrieb deßhalb an seine Tochter, Madame Mortimer, und lud seine beiden Enkel zu sich aufs Schloß ein, um dort den Geburtstag des jungen Louis zu feiern. Das Lob, welches er hinsichtlich jenes Aufsatzes in seinen Brief einstreute, war so unbestimmt und allgemein, daß die Eltern den Irrthum nicht merkten, in dem Sir George sich befand.

Louis kam vor seinem Bruder in Heronhurst an, und war nicht wenig erstaunt, als ihn sein Großvater wegen jenes Aufsatzes lobte und ihm als Zeichen besonderer Zufriedenheit ein prächtig gebundenes Buch überreichte. Denn erst jetzt sah der gute Louis, in welchem Irrthum sich sein Großvater befand. Es schien ihm unrecht, seinem Bruder diese Ehre zu entziehen, und dieser Gedanke war ihm qualvoll; allein die Eitelkeit gewann leider die Oberhand über die Schwäche seines Charakters und flüsterte ihm den Gedanken ein: Wie kann ich denn vor so vielen Leuten sagen, wie es sich verhält?

Louis gefiel sich immer besser in dem Lobe, das ihm zu Theil ward, und der Weihrauch, den man ihm streute, war ihm sehr angenehm. Sein eitles Herz konnte sich daher nicht entschließen, den Irrthum aufzudecken. Indessen ging doch in seinem Innern ein harter Kampf vor zwischen der Wahrheit und der Eitelkeit, und er gerieth dadurch in eine solche Verwirrung und Verlegenheit, die von Sekunde zu Sekunde wuchs. Sir George, der die wahre Ursache dieser Verlegenheit nicht errathen konnte, legte seine Hand auf die Schulter des Enkels und sagte in zärtlichem Tone: Lieber Louis, warum bist du so wenig aufgeräumt? Geh zu deinen Kameraden und zeige ihnen den Preis, welchen du dir erworben hast. Louis verließ das Zimmer und die andern Knaben folgten ihm; aber er hütete sich, von seinem Preise zu sprechen, und in seiner immer steigenden Unruhe entschloß er sich, seinem Großvater bei der ersten besten Gelegenheit den Irrthum aufzudecken. Es ging ihm jedoch, wie es immer geht, je länger er das Geständniß aufschob, desto schwerer wurde es ihm und die günstige Gelegenheit wollte nie erscheinen. – Der Morgen seines Geburtstages war nahe, und Louis hatte seinen Fehler noch nicht eingestanden. Unterdessen war sein Bruder Reginald mit seinem Vetter angekommen, und ihr könnt euch wohl denken, wie groß das Erstaunen dieser beiden sein mußte, als sie das schöne Geschenk sahen, welches Louis für eine Arbeit erhalten und angenommen hatte, die nicht von ihm, sondern von dem Bruder gemacht worden war. Dieser letztere hatte ein zu aufrichtiges Herz, als daß er die Sache so hätte wollen auf sich beruhen lassen. Er bat daher seinen Bruder, er möchte doch dem Großvater die ganze Wahrheit eingestehen und er bot sich an, solches im Namen des Bruders selbst zu thun, wenn dieser sich davor fürchten sollte. Louis versprach es zu thun; allein er zitterte, weinte, schob es auf und that es nicht. So verlor er nun völlig den Frieden seines Herzens und die Ruhe des Gewissens.

Nun erschien sein Geburtstag, der 29. Juni.

Es war ein herrlicher Morgen; die aufgehende Sonne glänzte in voller Pracht am blauen, wolkenlosen Himmel, und ihre Strahlen begrüßten das Schlafgemach der beiden Knaben. Beim Erwachen wurde Louis durch den freundlichen Morgen für einen Augenblick in eine freudige Stimmung versetzt und mit einem Sprung war er aus dem Bette und am Fenster. Ach, wenn nur etwas nicht gewesen wäre! die Unruhe in seinem Inneren, die Erinnerung an seine Sünde. Ja, liebe Kinder, die Sünde mit ihrer Erinnerung verderbt uns so manche Freuden. Eine solche traurige Erinnerung trübte auch die Heiterkeit bei unserm Louis und vergiftete ihm die Freude jenes schönen Morgens. Er begab sich mit seinem Bruder hinunter in den Saal, wo seine Kameraden auf ihn warteten, um ihn im Triumph zu einem Morgenspaziergang in den nahen Park mitzunehmen. Es regnete von allen Seiten Glückwünsche und Geschenke, so daß Louis wieder etwas fröhlicher wurde, die Erinnerung an seine Sünde zurückdrängen konnte und das Bekenntniß derselben wiederum noch weiter hinausschob. Nach dem Frühstück berief Sir George die ganze Gesellschaft in das Bibliothekzimmer, um die Tagesordnung zu berathen und um zu gleicher Zeit seinem Enkel das Geburtstagsgeschenk zu überreichen, das in einer prächtigen Schreibmappe bestand. Das Zimmer war beinahe angefüllt von festlichen Theilnehmern, die diesen Morgen von verschiedenen Seiten herbeigekommen waren, um die Anzahl der Festgäste zu vermehren.

Vernon Digby, Louis und Reginald's Vetter, der schon oben erwähnt worden, stand seinem Großvater und seinen beiden Vettern gegenüber. Als das Geburtstagsgeschenk überreicht und von Allen bewundert war, fing man an, die Festlichkeiten des Tages zu berathen. Da fielen die Blicke des Vernon Digby auf jenes Heft, das auf einem Seitentisch lag. Er ergriff es und sagte: »Welch eine abscheuliche Schrift, wer hat denn das geschrieben? Aha, Reginald, es ist dein Aufsatz, ich habe nicht gewußt, daß du ihn deinem Großvater gezeigt hast.« Reginald wurde roth und gab seinem Vetter durch allerlei Mienen zu verstehen, daß er doch schweigen möchte, aber es war schon zu spät. Vernon Digby's Bemerkungen hatten Sir Georges Aufmerksamkeit erregt und dieser wollte wissen, was Vernon gemeint habe.

– Was, dieser Aufsatz ist nicht von Louis, Reginald hat ihn gemacht? fragte Sir George.

– Ja, ja, Großpapa, entgegnete Vernon, Reginald hat ihn gemacht und nicht Louis; Louis hat ihn nur abgeschrieben.

– Was du da schwätzest, sagte der Großvater, und ich sage dir, daß er von Louis ist, derselbe hat ja einen Preis dafür erhalten.

– Es ist wirklich sehr merkwürdig, wie zwei Menschen ganz genau dieselben Gedanken haben, sagte Vernon. Reginald, weißt du noch, wie du mich fragtest, was ich zu deinem Aufsatze denke? Aber Louis, schämst du dich nicht, du hast Wort für Wort von Reginald abgeschrieben. Der Preis gehört dir nicht.

Sir George wußte nicht, was er dazu denken sollte. Bald sah er Reginald an, dessen Stillschweigen und Verlegenheit ihm verdächtig vorkam, bald wieder den Louis, der ebenfalls verblüfft dastand.

Eine athemlose Stille herrschte im Saal. Aller Augen waren ängstlich auf die beiden Brüder gerichtet.

– Louis! fuhr Sir George den armen Jungen mit einer Donnerstimme an, hast du diesen Aufsatz gemacht oder nicht? Antworte!

– Nein, Großpapa, er ist nicht von mir; ich wollte es dir sagen … es war ein Versehen … ein …

– Es mir sagen! versetzte Sir George, es mir sagen, wirklich!

– Ja, ich versichere es dir, Großpapa, versetzte Louis.

Sir George warf einen Blick um sich, wie wenn er etwas suchte, ergriff dann einen Stock, der in seiner Nähe stand, und ließ ihn auf dem Rücken des armen Louis herumtanzen. Reginald wollte seinen Großvater zurückhalten, aber dessen nerviger Arm war stärker als der seinige, und während er mit der einen Hand Reginald zurückhielt, setzte er mit der andern seine Züchtigung fort, bis der Stock zerbrach.

– Mach', daß du fortkommst und komm mir nie mehr unter die Augen, du unverschämter Junge! schrie der aufgebrachte Baron, und warf dem armen Louis, der sich aus dem Zimmer machte, die Stücke des zerbrochenen Stockes nach.

– Wenn sein Vater auf diese Weise mit dem Knaben verfahren wäre, so würde derselbe nie auf solche Einfälle gekommen sein. Komm her, mein lieber Reginald, ich habe dir Unrecht gethan, reich' mir deine Hand! Was für einen unwürdigen Bruder du hast! von was für einem Neid er erfüllt ist, der Affe! Da, nimm dieses Geschenk für dein braves Betragen. Damit nahm er ein prächtig gebundenes Buch vom Tische und schrieb Reginald's Namen hinein.

– Es ist wahr, Großpapa, sagte Reginald mit gedämpfter Stimme, es ist nicht recht von meinem Bruder, und ich hätte ihm das vorhalten sollen, aber Großpapa Louis ist nicht …

– Ich will nichts hören von ihm, kein Wort, sagte hastig Sir George.

– Aber ich muß dir etwas sagen, Großpapa, erwiederte furchtsam Reginald, Louis hat nicht gewußt, daß du im Irrthum bist, bis du ihm das Geschenk überreichtest, und er hat wirklich eine große Unruhe darüber empfunden. Er hat es auch sagen wollen, aber er fürchtete sich vor dir.

Der arme Louis hatte sich in einer abgelegenen Ecke des Parkes versteckt, wo er ein paar Stunden blieb, weinte und schluchzte. Als er wieder in's Schloß zurückkehren wollte, begegnete er der ganzen Festgesellschaft, die sich in den Park begeben wollte. Er schlich sich voll Scham und Reue in's Haus und in sein Schlafzimmer, wo er den Rest des Tages zubrachte. Nach dieser traurigen Begebenheit wurde Louis neuerdings zu Herrn Daunton geschickt, bei welchem er wieder sechs Monate bleiben mußte. Da aber der alte Prediger starb und seine Eltern sich gerade damals auf einer Reise nach dem Festlande befanden: so mußte Louis seine Ferienzeit wieder im Schlosse zu Heronhurst zubringen, woselbst er sich durch sein gutes Betragen für jenen Fehler Verzeihung und das Vertrauen seines Großvaters wieder erwarb.

Louis wäre gerne mit seinem Bruder Reginald in die Schule gegangen und da Sir George ganz damit einverstanden war, so wurde an Louis Vater geschrieben, um dessen Einwilligung dafür zu erhalten. Folgendes war die Antwort des Vaters an Louis:

»Ich glaube nicht, mein liebes Kind, daß du dich in der Schule so glücklich fühlen wirst, wie du jetzt denkst. Drum halt' ich auch dafür, es sei besser, wenn du noch einige Zeit bei Herrn Philipps (Prediger zu Dashwood), bleibst, der dich mit vieler Freude aufnehmen wird. Solltest du dich aber bei ihm nicht glücklich fühlen, so versprech' ich dir, daß du nach den Osterferien mit deinem Bruder zum Doktor Wilkinson kommen sollst.«

Diese Antwort gefiel unserm Louis nicht ganz; er gab sich indessen für jetzt zufrieden und tröstete sich mit der Hoffnung, daß ja Ostern bald da sei; denn er sowohl als sein Bruder waren davon überzeugt, daß er nicht länger bei dem Pastor bleiben könne, dessen Strenge ihm unerträglich vorkam.


 << zurück weiter >>