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VI

Alle Züchtigung aber, wenn sie da ist,
dünket sie uns nicht Freude, sondern Traurigkeit
zu sein; aber darnach wird sie geben
eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen,
die dadurch geübet sind.

Ebräer 12, 11.

Ehe ich gedemüthiget ward, irrete ich;
nun aber halte ich dein Wort.

Psalm 119, 67.

Es gibt vielleicht für einen Christen keinen gefährlichern Zustand, als ein immerwährendes äußeres Glück; und andrerseits ist selbst der Weltmensch davon überzeugt, daß es in den Tagen der Trübsal einen großen Trost gewähren müßte, im Frieden mit Gott zu stehen und einen allmächtigen Heiland zu haben. Aber in der Glückseligkeit und im Wohlergehen denkt der Gottlose nicht an ihn, und auch die Kinder Gottes sind nur zu bald geneigt, ihn und seine Wohlthaten zu vergessen, und sich einzubilden, daß bei ihnen Alles gut stehe, weil sie beständig mit Segnungen überhäuft werden.

Mehr als einmal kam es unserem kleinen Louis vor, als ob die Prüfung doch etwas zu hart sei; aber nach und nach sah er ein, wie heilsam dieselbe für ihn war. Er war bisher zu sehr Aller Liebling gewesen; ihre Schmeicheleien hatten ihm ein wenig den Kopf verwirrt, und die Furcht, seinen Kameraden zu mißfallen, hatte ihn verhindert, seine Pflichten gegen Gott zu erfüllen. Jetzt, da er einsam und verachtet und wie ausgeschlossen war von der Gesellschaft, der er angehörte; jetzt lernte er sein Glück und seinen Frieden bei dem suchen, welcher allein unsere Glückseligkeit ausmacht. Der Kummer und die Betrübniß trieben ihn zum Thron der Gnade, zu demjenigen, der nicht betrügt und niemanden verläßt, zu dem, der Mitleiden haben kann mit uns. Und so schrecklich auch für den Gottlosen der Gedanke ist, daß Gott Alles weiß und Alles sieht, so glücklich sind seine Kinder, daß alle ihre Gedanken und all' ihr Thun ihm bekannt ist.

Es währte auch gar nicht lange, so merkte man in Louis' Betragen eine auffallende Veränderung, und als er nach beendigter Strafzeit wieder mit seinen Kameraden Umgang haben durfte, so betrug er sich auf eine ganz andere Weise als zuvor; und die Sanftmuth, mit welcher er die strenge Behandlung seiner Lehrer und die oft nicht sehr liebenswürdigen Bemerkungen seiner Kameraden ertrug, entwaffnete alle Angriffe gegen ihn. Er war dienstfertig, aber nicht kriecherisch, und er hielt sich jetzt nicht mehr für verpflichtet, der Faulheit seiner Kameraden ein Kissen unterzuschieben, obgleich er sich nie weigerte, wo er einen wirklichen Dienst erweisen konnte. Man erstaunte über diese Festigkeit und Entschiedenheit und wußte gar nicht, woher eine solche Veränderung seines Charakters kam. Er selbst aber wußte es wohl; er liebte jedoch nun die stille Zufriedenheit, und sprach nicht viel, selbst nicht einmal mit seinem Bruder, von dem, was in seinem Innern vorging, und er fühlte sich glücklich, wenn man nichts zu ihm sagte. Gegen Ferrer bezeigte er sich sehr liebenswürdig und dienstfertig, sowie überhaupt gegen alle seine Kameraden, und in seinem Herzen war kein Gefühl von Bitterkeit, sondern lauter Wohlwollen und Liebe.

Eines Abends war während seiner Abwesenheit in dem kleinern Schulzimmer ein ganz ungewöhnlicher Lärm, und als Louis hineintrat, war der Tumult und das Durcheinander so entsetzlich, daß er erschrak. Umgestürzte Bänke, zerrissene Hefte, zerstreute Bücher etc. – es war ein Chaos ohne Gleichen. Ferrer suchte sein Buch, konnte es aber in diesem namenlosen Durcheinander nicht finden, besonders da ihm niemand erlauben wollte, ein Licht zu nehmen. Sooft er eines nehmen wollte, wurde er weggestoßen.

– Aber seid doch wenigstens so gefällig und laßt mich mein Buch unter dem Tisch suchen! sagte er endlich.

– Du hast uns lange genug gestört, antwortete Salisbury; Smith, Jonis und ich haben den ganzen Abend nichts arbeiten können. Wenn dir die Unordnung so gut gefällt, so kannst du auch ihre Folgen tragen.

– Kannst du nicht unter der Bank durchkriechen? fragte Smith in einem satyrischem Tone.

Ferrer antwortete mit Schimpfreden, während Louis sich zwischen dem Tisch und der Bank herunterließ und mit der Gefahr, einige unhöfliche Fußstöße zu bekommen, Ferrer's Buch suchte, das er auch glücklich fand und diesem überreichte. Derselbe dankte ihm kaum, stützte den Kopf mit der Hand und schien zu jeder Arbeit unfähig. Einen Augenblick darauf erhob er den Kopf und fragte mit kreischender Stimme, wer ihm sein Tintenfaß weggenommen habe.

– Welches gehört denn dir? sagte Salisbury; es liegt vielleicht auch unter dem Tische.

– Es ist jetzt genug mit den Dummheiten, antwortete Ferrer in seinem Unmuth, es ist sehr nichtswürdig von euch, mich auf diese Weise am Arbeiten zu verhindern.

Louis schob ihm ein Tintenfaß zu. Ferrer that, als ob er nicht merkte, von welcher Seite es komme, und bediente sich desselben; aber ein heftiges Kopfweh verhinderte ihn, seine Arbeit fortzusetzen. Er war wirklich sehr unwohl; aber es hatte nur ein einziger von seinen Kameraden Mitleiden mit ihm, nämlich – der kleine Louis. Dieser vermied sorgfältig, sich den Schein zu geben, als wolle er Böses mit Gutem vergelten; er fürchtete sogar, mißverstanden zu werden; aber so oft sich Gelegenheit darbot, so war er gegen Ferrer ebenso dienstfertig, wie gegen alle andern. Ferrer fühlte wider seinen Willen, wie großmüthig das Betragen des Louis gegen ihn sei. Er mußte nun einige Tage das Bett hüten. Louis wußte, daß er nicht sein Liebling war; aber er wußte auch, daß sich sonst niemand um den armen Ferrer kümmern würde; deßhalb suchte er ihm alle möglichen Vergnügungen zu verschaffen. Er ging zwar nicht sehr oft zu ihm hin, denn er fühlte wohl, was für ein Mißbehagen seine Gegenwart bei Ferrer hervorbringen mußte; er schickte ihm daher die Unterhaltungsbücher durch jemand anders, und durch den alten Kuchenmann verschaffte er sich Weintrauben, die er Ferrer durch einen Knecht bringen ließ, dem er aber ausdrücklich verbot, zu sagen, woher sie kommen.

Louis war nun in der Ausarbeitung seiner Aufgaben sehr fleißig und regelmäßig, und fuhr auch so fort bis zu den Ferien. Nur ein einziges Mal war er seiner Pflicht nicht nachgekommen. Die zweite und dritte Klasse führten nämlich eines Abends im Schulzimmer ein Spiel auf, und darüber war die Zeit so schnell vergangen, daß die Zöglinge erst am Ende zu ihrem großen Schrecken bemerkten, es sei schon spät. Kaum konnten sie noch die schriftlichen Aufgaben machen; zu den mündlichen blieb ihnen keine Zeit übrig. Nun wurde der Plan geschmiedet, jeder solle ein gewisses Stück lernen, und am folgenden Tage wollen sie sich in der Ordnung aufstellen, daß die ganze Aufgabe hergesagt werden könne. Louis bedachte es nicht genug, daß das ein Betrug sei, und stimmte dem Vorschlage auch bei. Einer der Knaben traute aber seinem Gedächtniß nicht ganz und nahm deßhalb seine Zuflucht zu einem interessanten Hülfsmittel. Er schrieb das. Stück, welches ihm zufiel, auf ein Papier und klebte es auf seinen Schuh; aber unglücklicherweise kam er so nahe zum Lehrer zu stehen, daß er es nicht wagte, auf seinen Schuh zu sehen. Er starrte daher den Boden an; aber aus demselben wollte nichts herauskommen. Er fing an zu stottern und murmelte zwischen den Zähnen einige unverständliche Worte; er konnte nicht weiter, und die Reihe kam an den Folgenden. O weh! da war die Reihenfolge verrückt. Dieser konnte nicht einmal das erste Wort herausbringen und so alle Folgenden. Die ganze Klasse wurde bestraft, Louis allein ausgenommen, welcher zum Glück der erste gewesen war und sein Stück gelernt hatte.

Als die Klasse abmarschirt war, sagte Herr Danby zu Louis: Du bist seit einiger Zeit sehr fleißig, Louis; es freut mich, daß du heut deine Aufgabe gekonnt hast.

Louis wurde roth, weil er wohl fühlte, daß er dieses Lob nicht verdient habe, und obgleich er von Natur furchtsam genug war, wenn er daran dachte, die Gunst seiner Kameraden zu verlieren, so siegte doch in diesem Augenblick ein besserer Geist in ihm, und er gestand dem Lehrer die ganze Sache.

– Ich habe auch nur meinen Theil gelernt, Herr Danby, sagte er.

– Was meinst du damit? fragte ihn der Lehrer.

Ich habe nur den Theil meiner Aufgabe gelernt, der mir zugefallen war, so wie Harris und Williams, und Sutton und Charles Salisbury und alle Uebrigen. Wir haben gestern Abend zu lange gespielt und darüber unsere Aufgaben vergessen; es ist nur Zufall, daß ich mein Stück konnte.

Es freut mich, daß du so aufrichtig bist, sagte Herr Danby. Ihr müßt die ganze Aufgabe noch einmal lernen, das versteht sich von selbst; aber ich bitte euch, mir keine solchen Streiche mehr zu spielen.


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