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Zwanzigstes Kapitel.
Über den mit Unrecht gegebenen Beifall, oder den Irrtum.

§ 1. Ursache des Irrtums. – Da es ein Wissen nur von sichtbaren und gewissen Wahrheiten geben kann, so ist der Irrtum kein Fehler unseres Wissens, sondern ein Mißgriff unseres Urteils, wodurch dem, was nicht wahr ist, Beifall gezollt wird. Wenn aber der Beifall sich auf Mutmaßungen gründet, wenn der eigentliche Gegenstand und das Motiv unseres Beifalls die Wahrscheinlichkeit ist, und die Wahrscheinlichkeit in dem besteht, was sich in den voraufgehenden Kapiteln als ihr Wesen ergeben hat, so entsteht die Frage, wie die Menschen dazu kommen, ihren Beifall der Wahrscheinlichkeit zuwider zu geben. Denn nichts ist gewöhnlicher als ein Widerstreit der Meinungen, nichts augenfälliger, als daß ein Mensch eben das für ganz unglaubwürdig hält, was ein anderer nur bezweifelt und ein dritter unerschütterlich glaubt und fest behauptet. Die Gründe hievon mögen sehr mannigfaltig sein, lassen sich jedoch meiner Meinung nach alle auf folgende vier zurückführen: 1. Mangel von Beweismitteln, 2. Mangel der Fähigkeit und 3. Mangel des Willens, sie zu gebrauchen, 4. falsche Maßstäbe der Wahrscheinlichkeit.

§ 2. Erstens, Mangel von Beweismitteln. – I. Unter dem Mangel von Beweismitteln verstehe ich nicht bloß den Mangel solcher, die nirgends vorhanden und also nirgends zu haben sind, sondern auch den Mangel solcher, die es giebt oder die gewonnen werden könnten. In dieser Weise fehlen Beweismittel den Menschen, die keine Zeit oder Gelegenheit haben, um zum Zweck der Erprobung eines Satzes selbst Versuche und Beobachtungen anzustellen, und ebensowenig gelegene Zeit, um nach Zeugnissen anderer zu forschen und solche zu sammeln; in dieser Lage aber befindet sich der größte Teil der Menschen, die ganz der Arbeit hingegeben, und durch die Not ihres niedrigen Standes geknechtet sind, deren Leben sich allein in der Fürsorge für die Existenzmittel verzehrt. Für diese Menschen sind die Gelegenheiten zum Lernen und Forschen gewöhnlich ebenso beschränkt wie ihre Geldmittel, und ihr Verstand wird nur wenig ausgebildet, wenn alle ihre Zeit und Mühe lediglich verwendet werden, um das Knurren ihres eigenen Magens oder das Geschrei ihrer Kinder zu stillen. Es läßt sich nicht erwarten, daß ein Mensch, der sich sein ganzes Lebenlang in einem mühseligen Gewerbe abplackt, mit der Mannigfaltigkeit der in der Welt vor sich gehenden Dinge besser bekannt sein sollte, als ein Lastpferd, das in einer engen Gasse auf schmutzigem Wege beständig nur zum Markte hin und her getrieben wird, in der Geographie des Landes bewandert ist. Auch liegt es durchaus nicht mehr im Bereich der Möglichkeit, daß jemand, dem Muße, Bücher, Sprachkenntnis und die Gelegenheit, mit vielen verschiedenen Menschen zu verkehren, mangeln, sich in der Lage befände, die vorhandenen Zeugnisse und Beobachtungen zu sammeln, die notwendig sind, um viele, ja die meisten der Sätze zu beurteilen, denen in der menschlichen Gesellschaft die höchste Wichtigkeit beigelegt wird, oder so schwerwiegende Gründe der Überzeugung ausfindig zu machen, wie für Statt as the belief lies as for the belief. den Glauben an die Punkte, die er auf sie stützen möchte, erforderlich zu sein scheinen. So daß wegen des natürlichen und unabänderlichen Standes der Dinge in dieser Welt und der Beschaffenheit der menschlichen Angelegenheiten ein großer Teil der Menschen unvermeidlich einer unbesiegbaren Unkenntnis der Beweise hingegeben ist, worauf andere jene Meinungen D. h. die oben erwähnten Sätze, denen in der menschlichen Gesellschaft die höchste Wichtigkeit beigelegt wird. bauen, und die zu deren Feststellung notwendig sind; da der größte Teil der Menschen genug damit zu thun hat, die Mittel zum Lebensunterhalt zu erwerben, so ist er nicht in der Lage, sich nach denen für gelehrte und mühsame Untersuchungen umzusehen.

§ 3. Antwort auf den Einwurf, was aus denen werden solle, welchen sie fehlen. – Was sollen wir demnach sagen? Ist der größte Teil der Menschen durch die Not ihrer Lage einer unvermeidlichen Unwissenheit in den für sie wichtigsten Dingen unterworfen? (Denn es liegt auf der Hand nach diesen zu fragen.) Hat die große Masse der Menschen keinen anderen Führer als den Zufall und das blinde Ungefähr, um sie zu ihrem Glück oder Elend zu leiten? Sind die landläufigen Meinungen und die konzessionierten Führer jeder Gegend für jedermann einleuchtend und sicher genug, um seine Hauptangelegenheiten, ja seine ewige Seligkeit oder Verdammnis ihnen anzuvertrauen? Oder können das sichere und untrügliche Orakel und Wahrheitsnormen sein, die im Christentume das eine, und in der Türkei etwas anderes lehren? Oder soll ein armer Bauer ewig selig werden, weil er das Glück gehabt hat, in Italien geboren zu werden, oder ein Tagelöhner unausbleiblich verloren sein, weil er das Unglück gehabt hat, in England geboren zu werden? Wie leicht gewisse Leute damit bei der Hand sind, so etwas zu behaupten, will ich hier nicht untersuchen, so viel aber steht für mich fest, daß man entweder das eine oder das andere hievon (man mag nach Gefallen wählen) als wahr anerkennen muß oder aber zugeben, daß Gott die Menschen mit hinlänglichen Fähigkeiten versehen hat, um sie auf den rechten Weg zu leiten, falls sie dieselben nur ernstlich dazu anwenden wollen, so oft ihre regelmäßigen Berufsgeschäfte ihnen Muße dafür gewähren. Niemand ist so vollständig durch die Sorge für seinen Lebensunterhalt in Anspruch genommen, daß er gar keine Zeit dafür übrig hätte, an seine Seele zu denken und sich über Religionssachen zu unterrichten. Wären die Menschen hierauf ebenso bedacht, wie sie es auf Dinge von geringerer Bedeutung sind, so würde niemand dermaßen für die notwendigen Erfordernisse des Lebens geknechtet sein, daß er nicht manche freien Augenblicke finden könnte, die sich auf diese Vermehrung seines Wissens verwenden ließen.

§ 4. An der Nachforschung verhinderte Personen. – Außer denen, die wegen der Beschränktheit ihrer Glücksgüter wenig Fortschritte machen und Kenntnisse erwerben können, giebt es andere, denen reichliches Vermögen die Anschaffung von Büchern und andern Erfordernissen zur Beseitigung von Zweifeln und zur Auffindung der Wahrheit in völlig ausreichendem Maße gestatten würde, aber sie sind eng eingeschlossen durch die Gesetze ihrer Heimat und die strengen Wächter derjenigen, die ein Interesse daran haben, sie unwissend zu erhalten, damit sie nicht bei vermehrtem Wissen ihnen weniger glauben möchten. Diese sind von der Freiheit und den Gelegenheiten zu einer ehrlichen Untersuchung ebenso weit, ja noch weiter entfernt als jene armen und unglücklichen Arbeiter, von denen wir vorhin sprachen, und, wie hoch und groß sie auch scheinbar sein mögen, auf einen engen Gedankenkreis beschränkt und darin geknechtet, was der freieste Teil des Menschen sein sollte, im Gebrauch ihres Verstandes. Dies ist im allgemeinen mit allen denen der Fall, die an Orten leben, wo für die Fortpflanzung von Wahrheit ohne Wissen Sorge getragen wird, wo die Menschen gezwungen werden, auf gut Glück die Landesreligion zu der ihrigen zu machen, und deshalb Meinungen hinunterschlucken müssen, wie einfältige Leute mit den Pillen eines Quacksalbers thun, ohne zu wissen, woraus sie bestehen und wie sie wirken werden, indem es ihre Sache nur ist an deren Heilkraft zu glauben; wobei sie jedoch noch übler daran sind als letztere, da es ihnen nicht freisteht, das Verschlingen von Dingen abzulehnen, die sie vielleicht lieber hätten liegen lassen, oder den Arzt zu wählen, dessen Behandlung sie sich anvertrauen wollen.

§ 5. Zweitens, Mangel der Geschicklichkeit, sie zu benutzen. – II. Diejenigen, denen die Geschicklichkeit fehlt, die ihnen dargebotenen Zeugnisse von Wahrscheinlichkeiten zu benutzen, die keine Reihe von Folgerungen in ihrem Kopfe behalten können, und nicht das Übergewicht einander entgegenstehender Beweismittel und Zeugnisse genau zu schätzen vermögen, indem sie jedem Umstande das ihm zukommende einräumen: können leicht dazu verführt werden, unwahrscheinlichen Sätzen ihren Beifall zu schenken. Es giebt Leute von nur einem, andere von nur zwei Syllogismen und nicht mehr, und wieder andere, die nur einen Schritt weiter gehen können. Diese können nicht immer unterscheiden, auf welcher Seite die stärksten Beweise liegen, können nicht beständig dem nachgehen, was an und für sich die wahrscheinlichere Meinung ist. Daß es nun solch einen Unterschied zwischen Menschen hinsichtlich ihres Verstandes giebt, wird, denke ich, niemand in Zweifel ziehen, der einigermaßen mit seinen Nachbarn verkehrt hat, wenn er auch niemals in Westminsterhall oder der Börse einerseits oder in Armenhäusern oder Bedlam andererseits gewesen ist. Ob dieser große Unterschied in den intellektuellen Fähigkeiten der Menschen aus einem Mangel in den speciell für das Denken bestimmten Organen des Leibes entspringt, oder auf einer Schwerfälligkeit und Ungelenkheit jener Fähigkeiten wegen Mangels an Benutzung beruht, oder – wie einige glauben – seinen Grund in den natürlichen Unterschieden der menschlichen Seelen selbst hat, oder in einigen oder allen diesen Umständen zusammen genommen: das bedarf hier keiner näheren Untersuchung; nur so viel liegt offen vor, daß es für den Verstand, für die Fassungskraft und das folgerichtige Denken der Menschen einen Gradunterschied von so großer Weite giebt, daß man, ohne der Menschheit Unrecht zu thun, behaupten darf, es finde sich in dieser Hinsicht zwischen einigen Menschen und anderen ein größerer Abstand, als zwischen einigen Menschen und manchen Tieren. Wie das zugeht, ist jedoch eine Frage, deren Beantwortung zwar höchst folgenschwer, für unsern gegenwärtigen Zweck indessen nicht erforderlich ist.

§ 6. Drittens, Mangel des Willens, sie zu benutzen. – III. Es giebt eine andere Klasse von Menschen, denen Beweise fehlen, nicht, weil sie außer ihrem Bereiche wären, sondern weil sie sich ihrer nicht bedienen wollen; die, obwohl sie Reichtum und Muße genug haben, auch es ihnen weder an Geistesanlagen noch an sonstigen Hilfsmitteln gebricht, gleichwohl aus alledem keinen Nutzen ziehen. Ihre heiße Jagd nach Vergnügen oder beständige Plackerei mit Geschäften hält die Gedanken mancher Leute anderswo fest: Trägheit und Schlaftrunkenheit im allgemeinen oder eine specielle Abneigung gegen Bücher, Studium und Nachdenken halten andere von irgend welchen ernsthaften Gedanken überhaupt ab; und aus Furcht davor, daß eine unparteiische Untersuchung die Ansichten nicht begünstigen werde, die zu ihren Vorurteilen, ihrer Lebensweise und ihren Zwecken am besten passen, begnügen noch andere sich damit, ohne Prüfung auf Treu und Glauben das anzunehmen, was sie bequem und nach der Mode finden. So bringen die meisten Menschen, selbst von denen, die anders handeln könnten, ihr Leben hin, ohne mit Wahrscheinlichkeiten bekannt zu werden, geschweige denn ihnen aus Vernunftgründen beizupflichten, deren Kenntnis für sie von Bedeutung wäre, obgleich sie ihrem Blicke so nahe liegen, daß, um von ihnen überzeugt zu werden, sie nur nötig hätten ihre Augen dahin zu richten. Wir wissen, daß manche Leute keinen Brief lesen wollen, der vermutlich eine schlimme Nachricht bringt, und daß viele es unterlassen ihre Rechnung aufzumachen oder auch nur an ihren Vermögensstand zu denken, wenn sie Ursache zu der Besorgnis haben, daß ihre Angelegenheiten sich in keiner sonderlich guten Lage befinden. Wie Menschen, denen eine Fülle von Glücksgütern die Muße zur Ausbildung ihres Verstandes gewährt, sich bei einer trägen Unwissenheit beruhigen können, vermag ich nicht zu sagen; mich dünkt jedoch, daß diejenigen eine geringe Meinung von ihrer Seele haben, die ihr ganzes Einkommen für die Verpflegung des Körpers ausgeben, und nichts davon anwenden, um sich die Mittel und Beihilfen der Erkenntnis zu verschaffen; die sorgfältig darauf bedacht sind, äußerlich immer fein und glänzend zu erscheinen, und sich in groben Kleidern oder einem geflickten Rock unglücklich fühlen würden, es aber mit Zufriedenheit ertragen, wenn ihr Geist sich öffentlich in einer bunten Livree von groben Flicken und erborgten Lumpen zeigt, so wie es dem Zufall oder ihrem Dorfschneider (ich meine die bei den Personen ihres Umgangs herrschende Ansicht) gefallen hat sie zu bekleiden. Ich will hier nicht davon reden, wie unvernünftig dies für Menschen ist, die jemals an ein zukünftiges Leben und ihr Interesse an demselben denken, was kein verständiger Mensch unterlassen kann mitunter zu thun, auch will ich nicht aufmerksam darauf machen, welche Schande und Beschämung es selbst für die größten Verächter des Wissens ist, in Dingen unwissend gefunden zu werden, an deren Kenntnis ihnen etwas gelegen ist. Aber das wenigstens ist der Erwägung derer, die sich Standespersonen ( gentlemen) nennen, wert, daß, wie sehr sie auch Kredit, Achtung, Einfluß und Ansehn als Begleiter ihrer Geburt und ihres Vermögens betrachten mögen, sie doch finden werden, daß ihnen dies alles von Personen niedrigeren Standes, die sie an Kenntnissen übertreffen, entzogen werden wird. Die Blinden werden immer von den Sehenden geleitet werden oder in die Grube fallen, und sicherlich ist keine Dienstbarkeit und keine Verknechtung schlimmer als die, welche den Verstand betrifft.

In den vorstehenden Beispielen sind einige der Ursachen unrichtiger Zustimmung gezeigt worden, und wie es zugeht, daß wahrscheinliche Lehren nicht immer den Beifall finden, der den für ihre Wahrscheinlichkeit anzuführenden Gründen entsprechen würde; bisher haben wir jedoch nur solche Wahrscheinlichkeiten in Betracht gezogen, wofür es Beweise giebt, die jedoch für den unsichtbar bleiben, der sich den Irrtum aneignet.

§ 7. Viertens, falsche Maßstäbe der Wahrscheinlichkeit, und zwar: – IV. Es bleibt uns noch die letzte Klasse »unrichtig urteilender Personen« ist hinzuzudenken. übrig, die selbst, wo die sachlichen Wahrscheinlichkeitsgründe sichtbar sind und ihnen klar vorgelegt werden, der Überzeugung nicht zugänglich sind und offenbaren Gründen nicht nach geben, sondern entweder das έπέχειν üben – unentschieden bleiben – oder der weniger wahrscheinlichen Meinung beipflichten. Und dieser Gefahr sind diejenigen ausgesetzt, die falsche Maßstäbe der Wahrscheinlichkeit angenommen haben, nämlich: 1. zu Prinzipien erhobene Sätze, die selbst nicht gewiß und einleuchtend, sondern zweifelhaft und falsch sind; 2. eine anerkannte Hypothese; 3. vorherrschende Leidenschaften oder Neigungen; 4. den Autoritätsglauben.

§ 8. Erstens, zu Prinzipien erhobene zweifelhafte Sätze. – Der erste und festeste Grund der Wahrscheinlichkeit ist die Übereinstimmung, die etwas mit unserem eigenen Wissen hat, namentlich dem Teile unseres Wissens, den wir zu Prinzipien erhoben haben und fortdauernd als solche betrachten. Diese haben einen so großen Einfluß auf unsere Meinungen, daß wir gewöhnlich in dem Maße die Wahrheit nach ihnen beurteilen und die Wahrscheinlichkeit abmessen, daß, was mit unseren Prinzipien nicht zusammen bestehen kann, soweit davon entfernt ist uns für wahrscheinlich zu gelten, daß es nicht einmal als möglich zugegeben wird. Die Hochachtung vor diesen Prinzipien ist so groß, und ihr Ansehen überragt jedes andere soweit, daß nicht bloß das Zeugnis anderer Menschen, sondern auch der Augenschein unserer eigenen Sinne oft verworfen werden, wenn sie sich erbieten, irgend etwas diesen feststehenden Regeln Zuwiderlaufendes zu verbürgen. Wie viel die Lehre von den angeborenen Grundsätzen und davon, daß Grundsätze nicht geprüft oder in Frage gestellt werden dürfen, hiezu beigetragen hat, will ich hier nicht untersuchen. Soviel gebe ich gerne zu, daß eine Wahrheit der anderen nicht widersprechen kann; übrigens aber erlaube ich mir zu bemerken, daß ein jeder sich sehr sorgfältig hüten sollte, bevor er etwas zu einem Prinzip erhebt, daß er es strenge prüfen und zusehen sollte, ob er aus ihm selber durch seine eigene Evidenz gewiß weiß, daß es wahr sei, oder ob er nur auf Grund der Autorität anderer Leute mit Zuversicht an dessen Wahrheit glaubt. Denn der hat seinem Verstande einen starken Hang eingepflanzt, der seinen Beifall unausbleiblich verleiten wird, wer falsche Prinzipien eingesogen und sich blind der Autorität irgend einer Meinung unterworfen hat, die nicht an ihr selbst augenscheinlich wahr ist.

§ 9. Nichts ist gewöhnlicher, als daß Kinder von ihren Eltern, ihren Ammen oder ihrer sonstigen Umgebung in ihren Geist Sätze (namentlich über Religionssachen) aufnehmen, die, wenn sie ihrem ebenso arglosen wie unbefangenen Verstande eingeflößt und nach und nach darin befestigt sind, dort zuletzt (gleichviel ob wahr oder falsch) durch lange Gewohnheit und Erziehung, so niet- und nagelfest werden, daß keine Möglichkeit vorhanden ist, sie wieder loszureißen. Denn, wenn die erwachsenen Menschen auf ihre Meinungen reflektieren und finden, daß die von dieser Art in ihrem Geiste ebenso alt sind wie ihr Gedächtnis selbst, weil sie deren frühzeitige Einflößung und den Weg, worauf sie zu ihnen gelangt sind, nicht bemerkt haben, so sind sie geneigt, dieselben als heilige Dinge zu verehren und nicht zu dulden, daß sie profaniert, berührt oder in Frage gestellt werden; sie betrachten dieselben als die Urim und Thummim, die unmittelbar von Gott selbst in ihrem Geiste aufgestellt worden, damit sie die großen und unfehlbaren Entscheider über Wahrheit und Falschheit und die Richter seien, auf die sie sich bei Streitigkeiten jeder Art berufen könnten.

§ 10. Wenn diese Meinung von seinen Prinzipien (sie mögen sein, was sie wollen) sich einmal in dem Geiste eines Menschen festgesetzt hat, so kann man sich leicht vorstellen, welche Aufnahme irgend ein – auch noch so klar bewiesener – Satz finden wird, der deren Ansehen entkräften oder überhaupt mit jenen inneren Orakeln kollidieren würde; wohingegen die größten Absurditäten und Unwahrscheinlichkeiten, wenn sie nur zu solchen Prinzipien passen, glatt hinuntergehen und leicht verdaut werden. Die große Halsstarrigkeit, die sich bei Menschen findet, die in den verschiedenen Religionen der Welt gerade entgegengesetzte, obwohl oft gleich absurde Meinungen fest glauben, ist Statt are as evident a proof, as they are etc., lies: is as evident a proof, as it is etc. ein ebenso offenbarer Beweis für diese Weise, aus herkömmlich angenommenen Prinzipien Schlüsse zu ziehen, wie eine unvermeidliche Folge davon. So daß die Menschen lieber ihren eigenen Augen mißtrauen, das Zeugnis ihrer eigenen Sinne verwerfen und ihre eigene Erfahrung Lügen strafen, als daß sie irgend etwas zugäben, was mit diesen heiligen Lehren nicht übereinstimmt. Man nehme einen intelligenten Katholiken, dem von dem ersten Aufdämmern irgend welcher Begriffe in seinem Verstande an der Grundsatz beständig eingeschärft worden ist, daß er glauben müsse, was die Kirche (d. i. die, welcher er angehört) glaube, oder daß der Papst unfehlbar sei, und der einen Zweifel hiegegen niemals auch nur äußern gehört hat, bis er im Alter von vierzig oder fünfzig Jahren einen Andersgläubigen traf – wie wäre der nicht vorbereitet, die Lehre von der Transsubstantiation nicht bloß gegen jede Wahrscheinlichkeit, sondern auch gegen das klare Zeugnis seiner Sinne hinunter zu schlucken? Jener Grundsatz hat einen solchen Einfluß auf seinen Geist, daß er glauben wird, das Brot, was er sieht, sei Fleisch. Und welchen Weg will man einschlagen, um jemanden von der Unwahrscheinlichkeit irgend einer von ihm gefaßten Meinung zu überzeugen, der mit gewissen Philosophen es als eine Grundlage der Schlußfolgerung angenommen hat, daß er seiner Vernunft (denn so nennen die Menschen unpassenderweise die aus ihren Prinzipien abgeleiteten Beweisgründe) gegen seine Sinne Glauben schenken müsse? Wenn ein Schwärmer grundsätzlich davon überzeugt ist, daß er oder sein Lehrer inspiriert sei und durch eine unmittelbare Eingebung des heiligen Geistes getrieben werde, so wird man vergebens die Augenscheinlichkeit klarer Vernunftgründe gegen seine Lehre ins Feld führen. Niemand, der falsche Prinzipien eingesogen hat, läßt sich deshalb bei damit unverträglichen Dingen durch die offenbarsten und überzeugendsten Wahrscheinlichkeitsgründe bewegen, so lange er nicht gegen sich selber ehrlich und aufrichtig genug ist, um sich zu einer Prüfung eben jener Prinzipien selbst überreden zu lassen, was jedoch viele sich niemals gestatten.

§ 11. Zweitens, eine angenommene Hypothese. – II. Diesen zunächst stehen Menschen, deren Verstand in eine Form gegossen, und genau nach dem Maße einer angenommenen Hypothese gestaltet ist. Der Unterschied zwischen diesen und den vorigen besteht darin, daß sie Thatsachen zugeben und darin mit Andersdenkenden übereinkommen, die Meinungsverschiedenheit also sich nur auf die Angabe von Gründen und die Erklärung der Art und Weise einer Wirksamkeit bezieht. Diese (Menschen) bieten ihren Sinnen nicht so offen Trotz wie die vorigen, sie können es ertragen, mit etwas mehr Geduld auf Auskunftserteilungen zu hören, gestatten jedoch unter keinen Umständen, daß diese sich auf die Erklärung von Dingen erstrecken, und lassen keine Wahrscheinlichkeitsgründe gelten, die sie davon überzeugen könnten, daß die Dinge nicht gerade in der Weise zustande kommen, wie sie bei sich entschieden haben, daß sie es thun. Wäre es nicht eine unerträgliche Sache für einen gelehrten Professor, worüber sein Scharlach Wohl eine Anspielung auf die Amtstracht der Professoren in Oxford. erröten könnte, wenn seine Autorität von vierzigjähriger Dauer, die mit nicht geringem Aufwande von Zeit und Lampenlicht aus dem harten Fels des Griechischen und Lateinischen herausgearbeitet worden und durch fortwährenden Ruhm ( by general tradition) und einen ehrwürdigen Bart bestätigt ist, in einem Augenblick durch einen plötzlich aufgetauchten Neuerer umgestoßen würde? Darf irgend jemand erwarten, daß er zu dem Geständnis bewogen werden könne, alles, was er seinen Schülern seit dreißig Jahren gelehrt habe, sei Irrtum und Mißverständnis, und er habe ihnen schwierige Wörter und Unwissenheit für einen sehr teuren Preis verkauft? Welche Wahrscheinlichkeiten, frage ich, wären wohl genügend, um in einem solchen Falle die Oberhand zu gewinnen? Und wer würde sich wohl auch durch die zwingendsten Argumente bestimmen lassen, sich auf einmal aller seiner alten Meinungen und Ansprüche auf Wissen und Gelehrsamkeit, die er sich in seiner ganzen Lebenszeit mit hartem Studium erarbeitet hat, zu entkleiden und sich selbst völlig nackt abermals auf die Suche nach neuen Begriffen hinauszutreiben? Alle Gründe, die gebraucht werden könnten, werden dies ebensowenig zu bewirken vermögen, wie der Wind den Wanderer bestimmen konnte, sich von seinem Mantel zu trennen, in den er sich nur immer fester einwickelte. Auf diesen Irrtum einer unrichtigen Hypothese lassen sich auch die Irrtümer zurückführen, die durch eine wahre Hypothese oder richtige Prinzipien veranlaßt werden können, wenn sie nicht richtig verstanden werden. Nichts ist gewöhnlicher als solche; die Beispiele von Menschen, die für verschiedene, alle aus der unfehlbaren Wahrheit der heiligen Schrift abgeleitete Meinungen streiten, sind ein unleugbarer Beweis hievon. Alle, die sich Christen nennen, geben zu, daß der Text, welcher sagt: μετανοε̃ιτε, die Auferlegung einer sehr schwer wiegenden Pflicht enthält. Wie höchst irrtümlich aber wird die eine Weise ihrer Ausübung durch diejenigen sein, die, da sie nur französisch verstehen, diese Regel entweder mit einer Übersetzung im Sinne von repentez-vous (bereuet), oder mit der anderen im Sinne von faitiez penitence (thut Buße) nehmen.

§ 12. Drittens, vorherrschende Leidenschaften. – III. Wahrscheinlichkeiten, welche die Begierden und vorherrschenden Leidenschaften der Menschen durchkreuzen, trifft dasselbe Schicksal. Wenn bei den Überlegungen eines habsüchtigen Menschen noch so große Wahrscheinlichkeit in der einen Wagschale liegt und Geld in der anderen, so läßt sich leicht vorhersehen, welche von beiden das Übergewicht haben werde. Irdische Gemüter widerstehen wie Lehmwälle den stärksten Batterien, und wenn auch mitunter die Kraft eines klaren Beweisgrundes einen gewissen Eindruck hervorbringen mag, so stehen sie doch fest, und halten den Feind – die Wahrheit – ab, der sie einnehmen oder zerstören möchte. Man sage einem leidenschaftlich verliebten Manne, daß eine Kokette ihn zum besten habe, man bringe ein Dutzend Zeugen für die Falschheit seiner Geliebten, so darf man doch zehn gegen eins wetten, daß drei Schmeichelworte ihrerseits deren Aussagen sämtlich entkräften werden. Quod volumus, facile credimus, was unseren Wünschen entspricht, wird voreilig geglaubt, das, meine ich, hat jedermann mehr als einmal erfahren; und wenn die Menschen auch nicht immer der Kraft offenbarer Wahrscheinlichkeiten, die ihnen entgegen sind, geradezu widersprechen oder widerstehen können, so geben sie doch der Begründung nicht nach. Nicht als ob es nicht Statt that it is the nature lies that it is not the nature. die Natur des Verstandes wäre sich immer der wahrscheinlicheren Seite anzuschließen, sondern weil der Mensch das Vermögen besitzt, seine Nachforschungen aufzuschieben und einzustellen, und keine volle und genügende Untersuchung, soweit wie der fragliche Gegenstand deren fähig ist und ihre Anstellung verträgt, zu gestatten. So lange diese nicht stattgefunden hat, werden immer folgende beiden Wege offen bleiben, um auch den offenbarsten Wahrscheinlichkeiten auszuweichen.

§ 13. Die Mittel, um den Wahrscheinlichkeiten auszuweichen. Erstens, Voraussetzung ihrer Trüglichkeit. – I. Daß Vor »Daß« ist hinzuzudenken: »Die Behauptung,« oder: »Die Annahme«. die Beweisgründe, da sie (wie das in der Regel der Fall ist) in Worten vorgebracht sind, einen verborgenen Trugschluß enthalten mögen, und daß von den Folgerungen, da sie vielleicht eine lange Reihe bilden, einige nicht schlüssig sein mögen. Es giebt wenig Vorträge, die so kurz, klar und folgerecht wären, daß dieser Zweifel nicht von den meisten Menschen zu ihrer eigenen genügenden Befriedigung gegen sie erhoben werden könnte, und von deren Überzeugungskraft sie sich nicht, ohne sich Unredlichkeit oder Unvernunft vorwerfen zu müssen, mit der alten Antwort frei machen könnten: non persuadebis, etiam si persuaseris; wenn ich auch nicht antworten kann, will ich doch nicht nachgeben.

§ 14. Zweitens, Voraussetzung von Beweisen für das Gegenteil. – II. Offenbaren Wahrscheinlichkeiten läßt sich ausweichen und der Beifall versagen, indem man vorschützt, noch nicht alles zu wissen, was sich für das Gegenteil anführen lasse. Und deshalb brauche ich obwohl geschlagen mich nicht zu ergeben, da ich nicht weiß, welche Kräfte noch im Rückhalt sein mögen. Dies ist eine so offene und so geräumige Zuflucht gegen die Überführung, daß sich schwer bestimmen läßt, wann sich jemand ganz außerhalb ihres Umkreises befinden sollte.

§ 15. Welche Wahrscheinlichkeiten den Beifall bestimmen. – Gleichwohl muß die Sache ein Ende nehmen, und wenn jemand alle Gründe der Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit sorgfältig geprüft, wenn er sein Möglichstes gethan hat, um sich über alle Einzelheiten ehrlich zu unterrichten und auf beiden Seiten die Gesamtsumme zu ermitteln, so mag er in den meisten Fällen zu der Einsicht gelangen, auf welcher Seite alles in allem genommen die Wahrscheinlichkeit liegt, wo in Fragen der Vernunft gewisse Beweisgründe, die sich auf die allgemeine Erfahrung stützen, so zwingend und klar, und in thatsächlichen Fragen gewisse Zeugnisse so allgemein sind, daß er seinen Beifall nicht verweigern kann. So daß wir meiner Meinung nach zu dem Schluß kommen können, daß bei Sätzen, wo zwar die vorliegenden Beweise von größtem Gewichte sind, aber doch genügende Gründe zu der Vermutung obwalten, daß entweder in den Worten ein Trugschluß liege, oder sich noch ebenso ansehnliche Beweise für das Gegenteil beibringen ließen – daß dort der Beifall, die Unentschiedenheit oder der Dissens oft willkürliche Handlungen sind. Wo aber die Beweise derart sind, daß sie etwas höchst wahrscheinlich machen und weder dafür, daß die Worte einen (durch verständige und ernstliche Betrachtung zu entdeckenden) Trugschluß enthalten möchten, noch dafür, daß gleich starke Beweise (die auch die Natur der Sache in manchen Fällen einem umsichtigen Manne enthüllen könnte) noch unentdeckt auf der anderen Seite verborgen liegen möchten, ausreichende Vermutungsgründe gegeben sind: da meine ich, kann jemand, der sie (die Beweise) erwogen hat, seinen Beifall kaum der Seite versagen, auf welcher sich die größere Wahrscheinlichkeit zeigt. Ob es wahrscheinlich sei, daß ein Haufe durcheinander gemengter Buchdrucker-Lettern oft in einer solchen Reihe und Ordnung hinfallen würden, daß sie, auf Papier abgedruckt, eine zusammenhängende Rede ergäben, oder ob durch ein blind zufälliges Zusammentreffen von Atomen, die nicht von bewußter Zweckthätigkeit geleitet wären, häufig die Körper irgend einer Tierart entstehen würden: bei diesen und ähnlichen Fragen, denke ich, kann niemand, der sie erwägt, auch nur einen Augenblick unschlüssig darüber sein, welcher Seite er sich zuwenden solle, und überhaupt in seinem Beifall nicht schwanken. Endlich, wenn sich nicht annehmen läßt (bei Dingen, die ihrer eigenen Natur nach unentschieden sind, und lediglich auf der Aussage von Zeugen beruhen), daß ein ebenso unverdächtiges Zeugnis gegen die bezeugte Thatsache wie für dieselbe vorliege, was sich durch Nachforschung ermitteln lasse – z. B. ob es vor 1700 Jahren solch einen Mann wie Julius Cäsar in Rom gegeben habe, – in allen solchen Fällen, sage ich, steht es meiner Meinung nach nicht in der Macht eines vernünftigen Menschen, seinen Beifall zu versagen, sondern dieser erfolgt notwendig und schließt sich solchen Wahrscheinlichkeiten an. In anderen weniger klaren Fällen, denke ich, steht es in jedermanns Macht, seinen Beifall auszusetzen und vielleicht auch sich mit den ihm vorliegenden Beweisen zu begnügen, wenn sie der seiner Neigung oder seinem Interesse entsprechenden Meinung günstig sind, und somit die weitere Nachforschung aufzugeben. Daß jedoch jemand seinen Beifall der Seite zuwenden sollte, wo sich ihm die geringere Wahrscheinlichkeit zeigt, das scheint mir ganz unthunlich und ebenso unmöglich zu sein, wie dieselbe Sache zu gleicher Zeit für wahrscheinlich und für unwahrscheinlich zu halten.

§ 16. Wo es in unserer Macht steht, den Beifall auszusetzen. – Wie das Erkennen nicht mehr von unserer Willkür abhängt als das Wahrnehmen, ebenso, denke ich, steht der Beifall nicht mehr in unserer Macht als die Erkenntnis. Wenn die Übereinstimmung zweier Ideen sich unserm Geiste zeigt, sei es unmittelbar oder mit dem Beistande der Vernunft, so kann ich deren Wahrnehmung ebensowenig ablehnen, deren Erkenntnis ebensowenig vermeiden, wie ich das Sehen der Gegenstände vermeiden kann, auf die ich meine Augen richte und bei hellem Tage hinblicke, und dem, was ich nach vollständiger Prüfung als das Wahrscheinlichste befinde, kann ich meinen Beifall nicht versagen. Obgleich wir aber unser Erkennen nicht verhindern können, wo die Übereinstimmung einmal wahrgenommen ist, noch auch unsern Beifall, wo die Wahrscheinlichkeit nach gehöriger Erwägung aller ihrer Maße sich offenbar zeigt, so können wir doch sowohl die Erkenntnis wie den Beifall verhindern, indem wir unsere Untersuchung einstellen und unsere Fähigkeiten nicht zur Erforschung dieser oder jener Wahrheit gebrauchen. Verhielte sich dies nicht so, dann könnten Unwissenheit, Irrtum oder Ungläubigkeit in keinem Falle ein Fehler sein. So können wir in manchen Fällen unsern Beifall verhindern oder aufschieben, aber kann jemand, der in der neueren oder der alten Geschichte bewandert ist, bezweifeln, ob es einen Ort wie Rom giebt, oder ob dort ein Mann wie Julius Cäsar gelebt hat? Freilich giebt es Millionen von Wahrheiten, an deren Kenntnis jemandem wirklich oder seiner Meinung nach nichts gelegen ist, wie z. B. ob unser König Richard III. buckelig war oder nicht, oder ob Roger Bacon ein Mathematiker oder ein Zauberer war. In diesen und ähnlichen Fällen, wo es für das Interesse irgend jemandes bedeutungslos ist, ob er seinen Beifall nach der einen oder der anderen Seite hin giebt, weil keine seiner Handlungen, keine seiner Angelegenheiten davon abhängen oder darauf beruhen, da darf es nicht befremden, wenn der Geist sich der gemeinen Meinung hingiebt, oder dem ersten besten Ratgeber folgt. Diese und ähnliche Meinungen haben so wenig Gewicht und Bedeutung, daß man wie bei Sonnenstäubchen sehr selten darauf achtet, wohin sie gehen. Sie sind gleichsam zufällig vorhanden, und der Geist läßt sie ungehindert umherflattern. Wo dagegen der Geist urteilt, daß ein Satz von Bedeutung sei, wo er glaubt, daß seine Beistimmung oder Nichtbeistimmung gewichtige Folgen nach sich ziehen werde, daß von der Wahl oder Ablehnung der richtigen Seite Gutes und Schlimmes abhängen, und wo er sich deshalb ernstlich daran macht die Wahrscheinlichkeit zu untersuchen und zu prüfen, da, denke ich, steht es nicht zu unserer Wahl, beliebig die eine oder die andere Seite zu ergreifen, wenn sich eine augenscheinliche Ungleichheit beider zeigt. In diesem Falle, meine ich, wird die größere Wahrscheinlichkeit den Beifall bestimmen, und man kann es ebensowenig vermeiden beizupflichten oder etwas für wahr anzunehmen, wo man die größere Wahrscheinlichkeit bemerkt, wie man es vermeiden kann die Wahrheit von etwas zu erkennen, wo man die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zweier Ideen wahrnimmt. Verhält sich dieses so, dann wird der Grund des Irrtums in falschen Maßstäben der Wahrscheinlichkeit liegen, gleichwie der Grund des Lasters in falschen Maßstäben für das Gute.

§ 17. Viertens der Autoritätsglaube. – IV. Der vierte und letzte falsche Maßstab der Wahrscheinlichkeit, dessen ich gedenken will, und der mehr Leute in Unwissenheit und Irrtum hält, wie alle anderen zusammen genommen, ist der im vorigen Kapitel erwähnte; ich meine, daß wir unsern Beifall an die gemeinsame herkömmliche Meinung, sei es nun unserer Freunde oder Partei, unserer Nachbarn oder unseres Landes binden. Wie viele Menschen haben für ihre Lehrsätze keinen anderen Grund, als die vorausgesetzte Aufrichtigkeit und Gelehrsamkeit oder die Anzahl ihrer Glaubensgenossen? Als ob ehrliche oder buchgelehrte Männer nicht irren könnten, oder die Wahrheit sich durch die Stimmen der Menge feststellen ließe; gleichwohl reicht dies für die meisten Menschen aus. Eine Lehre hat das Zeugnis ehrwürdigen Altertums für sich, sie kommt zu mir mit dem Passierschein früherer Jahrhunderte, darum bin ich sicher, wenn ich ihr Aufnahme gewähre; andere Menschen sind derselben Ansicht gewesen und sind es noch (denn das ist alles, was gesagt wird), und deshalb handle ich vernünftig, indem ich sie mir aneigne. Jemand könnte mit mehr Recht über seine Ansichten Bild und Schrift aufwerfen D. h. eine Münze emporwerfen, und je nachdem sie beim Niederfallen auf den Avers (die Bildseite, cross) oder den Revers (die Schriftseite, pile) zu liegen kommt, sich für oder wider etwas entscheiden. als sie nach solchen Maßstäben wählen. Alle Menschen sind dem Irrtum ausgesetzt, und die meisten Menschen sind in vielen Punkten durch Leidenschaft oder Interesse in Versuchung dazu. Wenn wir nur die geheimen Motive wahrnehmen könnten, von denen in der Welt die berühmten und gelehrten Männer und die Leiter der Parteien beeinflußt werden, so würden wir finden, daß es nicht immer die Liebe zur Wahrheit um ihrer selbst willen gewesen ist, die sie zur Annahme der von ihnen bekannten und verteidigten Lehren bestimmte. So viel wenigstens ist gewiß, es giebt keine so absurde Meinung, daß sie nicht jemand auf jenen Grund hin annehmen könnte; es läßt sich kein Irrtum namhaft machen, der nicht seine Bekenner gehabt hätte, und niemals wird es jemandem an krummen Pfaden, die er gehen könnte, fehlen, wenn er auf dem rechten Wege zu sein glaubt, sobald er nur irgendwo den Fußstapfen anderer folgen kann.

§ 18. Die Menschen sind nicht in so vielen Irrtümern befangen Es sollte heißen: »Nicht so viel Menschen sind im Irrtum befangen etc., wie man sich vorstellt. – So viel Lärm aber in der Welt auch über Irrtümer und Meinungen gemacht wird, muß ich doch der Menschheit das Recht anthun, zu sagen, daß nicht so viele Personen in Irrtümern und falschen Ansichten befangen sind, wie man gewöhnlich glaubt. Ich meine zwar nicht, daß sie die Wahrheit erfaßt hätten, allerdings aber, daß sie in betreff der Lehren, wovon sie so viel Aufhebens machen, überhaupt keine Gedanken und keine Meinung haben. Denn, wenn jemand den größten Teil der Anhänger der meisten Sekten in der Welt ein wenig katechisieren wollte, so würde er nicht finden, daß sie über die Dinge, wofür sie so viel Eifer zeigen, irgend welche eigene Meinungen haben, und noch viel weniger würde er Ursache haben zu denken, daß sie sich solche nach der Prüfung von Beweisen und Wahrscheinlichkeitsgründen gebildet hätten. Sie sind entschlossen, an der Partei festzuhalten, zu der sie durch Erziehung oder Interesse geführt worden, und dort wie die gemeinen Soldaten einer Armee der Anleitung ihrer Führer gemäß ihren Mut und ihre Hitze zu zeigen, ohne die Sache, wofür sie streiten, jemals zu prüfen oder auch nur zu kennen. Wenn das Leben eines Menschen zeigt, daß er keine ernstliche Achtung für die Religion hat, aus welchem Grunde sollten wir dann glauben, daß er sich den Kopf über die Meinungen seiner Kirche zerbreche und sich damit abmühe, die Begründung dieser oder jener Lehre zu prüfen? Es genügt ihm, seinen Führern zu gehorchen, seine Hand und seine Zunge zur Verteidigung der gemeinen Sache bereit zu halten und sich dadurch denen zu empfehlen, die ihm Ansehn, Beförderung oder Schutz in jener Gesellschaft verschaffen können. So werden Menschen zu Bekennern und Vorkämpfern solcher Meinungen, von denen sie nie überzeugt, wofür sie nie zu Proselyten gemacht worden sind, ja die ihnen sogar nicht einmal irgendwann im Kopfe geschwebt haben, und wenn man auch nicht sagen kann, daß es weniger unwahrscheinliche oder irrtümliche Meinungen in der Welt gebe, als dort vorhanden sind, so ist es doch gewiß, daß die Zahl derer, die ihnen wirklich beipflichten und sie irrtümlich für Wahrheit halten, geringer ist, als man sich vorstellt.


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