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§ 1. Was Wahrheit ist. – Was Wahrheit sei, danach ward schon vor vielen Menschenaltern gefragt, und da sie das ist, wonach alle Menschen forschen oder zu forschen vorgeben, so kann es nicht anders als der Mühe wert sein, zu untersuchen, worin sie bestehe, und uns mit ihrer Natur so bekannt zu machen, daß wir erkennen, wie der Geist sie von der Falschheit unterscheidet.
§ 2. Eine richtige Verbindung oder Trennung von Zeichen, d. h. Ideen oder Wörtern, –. Im eigentlichen Sinne des Wortes scheint mir nun »Wahrheit« lediglich die Verbindung oder Trennung von Zeichen zu bedeuten, jenachdem die damit bezeichneten Dinge miteinander übereinstimmen oder nicht. Unter der Verbindung oder Trennung von Zeichen ist hier dasselbe zu verstehen, was mit anderem Namen ein Satz heißt, so daß Wahrheit eigentlich nur Sätzen zukommt, wovon es zwei Arten giebt, nämlich gedachte und ausgesprochene, gleichwie es zwei Arten von gewöhnlich gebrauchten Zeichen giebt, nämlich Ideen und Wörter.
§ 3. Wodurch gedachte oder ausgesprochene Sätze entstehen. – Um einen klaren Begriff von Wahrheit zu gewinnen, ist es höchst notwendig, bei der Betrachtung die Wahrheit von Gedanken und die Wahrheit von Worten bestimmt zu unterscheiden, obwohl es sehr schwierig ist, sie getrennt voneinander zu behandeln, weil es sich nicht vermeiden läßt, beim Reden über gedachte Sätze Worte zu gebrauchen, dann aber die von gedachten Sätzen gegebenen Beispiele unmittelbar aufhören, bloß gedacht zu sein und zu ausgesprochenen Sätzen werden. Denn, da ein gedachter Satz nichts ist als eine Betrachtung bloß von Ideen, so wie sie der Namen entkleidet in unserem Bewußtsein existieren, so verlieren sie die Natur bloß gedachter Sätze, sobald sie in Worte gefaßt werden.
§ 4. Von gedachten Sätzen zu handeln, ist sehr schwierig, – Und was eine gesonderte Behandlung gedachter und ausgesprochener Sätze noch schwieriger macht, ist, daß die meisten Menschen, wenn nicht alle, bei ihrem Denken und bloß innerlichem Folgern Wörter statt der Ideen gebrauchen, wenigstens, wenn der Gegenstand ihrer Überlegung komplexe Ideen in sich schließt. Dies ist ein schlagender Beweis für die Unvollkommenheit und Unsicherheit unserer Ideen dieser Art, und kann, wenn davon vorsichtig Gebrauch gemacht wird, als Prüfstein dienen, um uns zu zeigen, von welchen Dingen wir klare und völlig feststehende Ideen haben, und von welchen nicht. Denn, wenn wir den Weg, den unser Geist beim Denken und Schließen verfolgt, sorgfältig beobachten, so werden wir, glaube ich, finden, daß, wenn wir bloß in unseren Gedanken irgend welche Sätze über weiß oder schwarz, süß oder bitter, ein Dreieck oder einen Kreis aufstellen, wir in unserem Bewußtsein die Ideen selbst ohne Berücksichtigung der Namen bilden können und oft bilden. Wenn wir aber die mehr zusammengesetzten Ideen in Betracht ziehen oder Sätze darüber aufstellen wollen – wie über einen Menschen, Vitriol, Tapferkeit, Ruhm – dann setzen wir gewöhnlich den Namen an die Stelle der Idee, weil die von diesen Namen vertretenen Ideen größtenteils unvollkommen, verworren und unbestimmt sind, und wir deshalb auf die Namen selbst reflektieren, die klarer, sicherer und deutlicher sind, und sich unseren Gedanken leichter darbieten als die bloßen Ideen; und so bedienen wir uns dieser Wörter anstatt der Ideen selbst, auch wenn wir nur für uns selbst nachdenken und schließen und stillschweigend gedachte Sätze bilden wollen. Bei Substanzen giebt, wie schon bemerkt worden, die Unvollkommenheit unserer Ideen den Anlaß hiezu, indem wir den Namen zum Stellvertreter der realen Wesenheit machen, wovon wir überhaupt keine Idee haben. Bei den Modi liegt der Anlaß in der großen Anzahl einfacher Ideen, die dazu gehören, um ihren Begriff vollständig zu machen. Denn, da viele von ihnen zusammengesetzt sind, so kommt uns der Name weit leichter in den Sinn als die komplexe Idee selbst; um sich dieser zu erinnern und sie dem Geiste genau zu vergegenwärtigen, dazu sind selbst bei Leuten, die sich früher die Mühe gegeben haben, das zu thun, Zeit und Aufmerksamkeit erforderlich, und es ist ganz unmöglich für solche, denen zwar der größte Teil der gemeingebräuchlichen Wörter dieser oder jener Sprache im Gedächtnis zur Hand ist, die sich aber doch ihr ganzes Lebenlang nie damit belästigt haben, genau zu untersuchen, welche Ideen die meisten von ihnen vertreten. Einige verworrene und dunkle Begriffe haben ihnen genügt, und manche, die von Religion und Gewissen, von Kirche und Glauben, von Macht und Recht, von Verstopfung und Flüssigkeiten, vom melancholischen und cholerischen Temperament sehr viel reden, würden vielleicht in ihren Gedanken und Betrachtungen wenig übrig behalten, wenn man von ihnen verlangen wollte, daß sie nur an die Dinge selbst denken, und die Wörter beiseite lassen sollten, womit sie so oft andere und nicht selten auch sich selbst in Verwirrung setzen.
§ 5. Weil sie nichts sind als das Verbinden oder Trennen von Ideen ohne Wörter. – Um aber auf die Untersuchung der Wahrheit zurückzukommen, so müssen wir, sage ich, zwei Arten von Sätzen in Betracht ziehen, die wir zu bilden imstande sind: 1. Gedachte, worin die Ideen vom Geiste, der ihre Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung wahrnimmt oder beurteilt, in unserem Verstande, ohne Wörter zu gebrauchen, zusammengefügt oder getrennt werden. 2. Ausgesprochene Sätze, d. h. Wörter oder Zeichen für unsere Ideen, die in bejahenden oder verneinenden Urteilen zusammengefügt oder getrennt sind. Durch diese Art des Bejahens oder Verneinens werden gleichsam die aus Lauten gebildeten Zeichen zusammengefügt oder voneinander getrennt, so daß der Satz in der Verbindung und Trennung von Zeichen und die Wahrheit darin besteht, daß diese Zeichen, je nachdem die von ihnen vertretenen Dinge Man sollte erwarten, daß es hieße: »Ideen«. übereinstimmen oder nicht übereinstimmen, zusammengefügt oder getrennt werden.
§ 6. Wann gedachte Sätze reale Wahrheit enthalten, und wann ausgesprochene. – Jedermanns Erfahrung wird ihn davon überzeugen, daß der Geist, wenn er die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung irgend welcher von seinen Ideen wahrnimmt oder voraussetzt, sie in ihm selber stillschweigend in eine Art von bejahenden oder verneinenden Satz bringt, was ich durch die Wörter »zusammenfügen« und »trennen« auszudrücken gesucht habe. Diese Geistesthätigkeit aber, womit jeder nachdenkende und Schlüsse ziehende Mensch so vertraut ist, läßt sich leichter verstehen, wenn man auf das achtet, was beim Bejahen oder Verneinen in uns vorgeht, als mit Worten erläutern. Wenn jemand in seinem Kopfe die Idee zweier Linien hat, z. B. von der Seite und der Diagonale eines Quadrats, wovon die Diagonale einen Zoll lang ist, so kann er auch die Idee von einer Teilung dieser Linie in eine gewisse Anzahl gleicher Teile haben, z. B. in fünf, zehn, hundert, tausend oder irgend welche andere Zahl, und er kann die Idee haben, daß jene einen Zoll lange Linie in solche gleichgroße Teile teilbar oder nicht teilbar sei, daß eine bestimmte Anzahl derselben der Seitenlinie gleich sein werde. Wenn er nun wahrnimmt, glaubt oder voraussetzt, daß eine solche Art von Teilbarkeit mit seiner Idee jener Linie übereinstimme oder nicht übereinstimme, so verbindet oder trennt er gleichsam diese beiden Ideen, nämlich die Idee jener Linie und die Idee jener Art von Teilbarkeit, und bildet so einen gedachten Satz, der wahr oder falsch ist, je nachdem eine solche Art von Teilbarkeit, eine Teilbarkeit in so viele und so große Teile, thatsächlich jener Linie zukommt oder nicht. Wenn Ideen im Geiste ebenso zusammengefügt oder getrennt werden, wie sie oder die von ihnen vertretenen Dinge übereinstimmen oder nicht, so ergiebt sich das, was ich Gedanken-Wahrheit nennen möchte. Die Wahrheit in Worten begreift jedoch etwas mehr, nämlich daß Wörter voneinander bejaht oder verneint werden, je nachdem die von ihnen vertretenen Ideen übereinstimmen oder nicht übereinstimmen; und diese ist wiederum zwiefach, nämlich entweder lediglich verbal und gehaltlos, wovon ich im Kapitel VIII handeln werde, oder fachlich und belehrend, und dann ist sie der Gegenstand des realen Wissens, wovon wir schon gesprochen haben.
§ 7. Der Einwurf, daß die Wahrheit in Worten, so verstanden, ganz chimärisch sein könne, – Hier wird sich jedoch leicht von neuem derselbe Zweifel bezüglich der Wahrheit erheben, der vorhin bezüglich des Wissens entstand, und man wird einwenden, daß, wenn die Wahrheit nichts sei als die Verbindung und Trennung von Wörtern, je nachdem die von ihnen vertretenen Ideen im menschlichen Geiste übereinstimmen oder nicht übereinstimmen, die Erkenntnis derselben nicht die wertvolle Sache sei, wofür sie gelte, und die Mühe und Zeit nicht lohne, die von den Menschen auf ihre Erforschung verwendet würden, weil sie nach dieser Auffassung auf nicht mehr hinauslaufe als auf die Übereinstimmung von Worten mit den Chimären des menschlichen Gehirns. Wer weiß nicht, mit welchen wunderlichen Vorstellungen die Köpfe vieler Menschen angefüllt sind, und für welche sonderbare Ideen das Gehirn aller Menschen zugänglich ist? Wenn wir hiebei stehen bleiben, so werden wir nach dieser Regel nur die Wahrheit der Scheinwelten Statt visionary words lies visionary worlds. in unserer Phantasie erkennen, und es wird keine andere Wahrheit für uns geben als eine solche, die ebensogut Harpyien und Centauren wie Menschen und Pferde betrifft. Denn diese und ähnliche Dinge können als Ideen in unsern Köpfen existieren, und dort ebensogut wie die Ideen von wirklichen Wesen miteinander übereinstimmen oder nicht übereinstimmen, so daß ebenso wahre Sätze über sie gebildet werden können. Es wird ein gerade so wahrer Satz sein zu sagen: »alle Centauren sind animalische Wesen,« wie: »alle Menschen sind animalische Wesen, und die Gewißheit des einen so groß wie die des anderen. Denn in beiden Sätzen sind die Wörter gemäß der Übereinstimmung der Ideen in unserem Bewußtsein zusammengefügt, und die Übereinstimmung der Idee »animalisches Wesen« mit der des Centauren ist für den Geist ebenso klar und deutlich wie die Übereinstimmung der Idee »animalisches Wesen« mit der des Menschen, also sind diese beiden Sätze gleich wahr und gleich gewiß. Was nützt aber all solche Wahrheit uns?
§ 8. wird dahin beantwortet, daß die reale Wahrheit Ideen betreffe, die mit den Dingen übereinstimmen. – Zwar könnte das zur Unterscheidung des realen von dem eingebildeten Wissen im vorigen Kapitel Gesagte hier genügen, um zur Beantwortung dieses Einwurfs die reale Wahrheit von der chimärischen oder (wenn man will) bloß nominalen zu unterscheiden, indem beide Das reale Wissen und die reale Wahrheit. auf derselben Grundlage beruhen; indessen mag es nicht ohne Nutzen sein, hier nochmals zu erwägen, daß, wenn auch unsere Wörter nichts als unsere Ideen bezeichnen, doch weil sie vermittelst dieser Dinge bezeichnen sollen, die Wahrheit, die sie in Sätze gebracht enthalten, dann nur verbal sein wird, wenn sie im Bewußtsein vorhandene Ideen vertreten, die mit der Realität der Dinge nicht übereinstimmen. Und deshalb kann man bei der Wahrheit so gut wie bei dem Wissen füglich verbale und reale unterscheiden, indem die Wahrheit nur verbal ist, worin Ausdrücke gemäß der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der von ihnen vertretenen Ideen verbunden sind ohne Rücksicht darauf, ob unsere Ideen der Art sind, daß sie ein Dasein in der Natur tatsächlich haben oder haben können. Dagegen enthalten sie Ausgesprochene Sätze sind gemeint. reale Wahrheit, wenn jene Zeichen so verbunden sind, wie unsere Ideen übereinstimmen, und wenn unsere Ideen der Art sind, daß wir von ihnen wissen, sie seien des natürlichen Daseins fähig, was wir von Substanzen nur dann wissen können, wenn uns bekannt ist, daß sie existiert haben.
§ 9. Falschheit ist die Verbindung von Namen in anderer Weise als nach der Übereinstimmung ihrer Ideen. – Die Wahrheit besteht darin, daß die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Ideen so, wie sie ist, in Worten ausgedrückt wird. Die Falschheit besteht darin, daß die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Ideen anders, als sie ist, in Worten ausgedrückt wird. Und soweit diese dergestalt durch Laute ausgedrückten Ideen mit ihren Urbildern übereinstimmen, ebensoweit nur ist die Wahrheit real. Das Wissen dieser Wahrheit besteht darin, daß man weiß, welche Ideen die Wörter vertreten, und daß man die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung dieser Ideen so wahrnimmt, wie sie durch die Worte ausgedrückt ist.
§ 10. Über allgemeine Sätze soll ausführlicher gehandelt werden. – Weil man aber die Worte als die großen Kanäle für Wahrheit und Wissen betrachtet, und weil wir bei der Mitteilung und der Annahme von Wahrheiten und gewöhnlich bei Erörterungen darüber von Wörtern und Sätzen Gebrauch machen, so will ich ausführlicher untersuchen, worin die Gewißheit realer in Sätzen enthaltener Wahrheiten besteht, und wo sie zu erhalten ist, und will zu zeigen versuchen, bei welcher Art von allgemeinen Sätzen wir imstande sind, uns über deren reale Wahrheit oder Falschheit zu vergewissern.
Ich werde den Anfang mit allgemeinen Sätzen machen, weil diese am meisten unsere Gedanken beschäftigen und unser Nachdenken üben. Nach allgemeinen Wahrheiten sieht der Geist sich hauptsächlich um, weil sie unser Wissen am meisten erweitern und durch ihre umfassende Natur uns auf einmal von vielen Einzelheiten überzeugen, unseren Gesichtskreis ausdehnen und uns den Weg zur Erkenntnis abkürzen.
§ 11. Moralische und metaphysische Wahrheit. – Außer der Wahrheit im vorerwähnten eigentlichen Sinne des Wortes giebt es noch andere Arten derselben, nämlich 1. moralische Wahrheit, Im Deutschen sagt man hiefür »Wahrhaftigkeit«. die darin besteht, daß wir von den Dingen so reden, wie wir wirklich von ihnen denken, wenn auch der Satz, den wir aussprechen, mit der Realität der Dinge nicht übereinstimmt. 2. Metaphysische Wahrheit, die nichts anderes ist, als das reale Dasein der Dinge entsprechend den Ideen, womit wir ihre Namen verknüpft haben. Dies scheint zwar eben nur das Dasein der Dinge selbst zu sein, allein bei genauer Betrachtung zeigt sich, daß darin ein stillschweigender Satz enthalten ist, wodurch der Geist das einzelne Ding mit der von ihm vorher festgestellten und benannten Idee verbindet. Es mag jedoch genügen, diese Bedeutungen von »Wahrheit« hier nur zu erwähnen, weil wir entweder schon früher von ihnen Kenntnis genommen haben, oder sie nicht eigentlich zu unserer gegenwärtigen Aufgabe gehören.