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Achtzehntes Kapitel.
Über den Glauben und die Vernunft und deren unterschiedene Gebiete.

§ 1. Es ist notwendig, die Grenzen derselben zu kennen. – Oben ist gezeigt worden: 1. Daß wir notwendig unwissend sind und jede Art von Erkenntnis entbehren, wo uns Ideen fehlen; 2. daß wir unwissend sind und ohne vernunftmäßige Erkenntnis, wo uns Beweise fehlen; 3. daß uns sicheres Wissen und Gewißheit mangeln, soweit wir keine klaren und bestimmten specifischen Ideen haben; 4. daß uns die Wahrscheinlichkeit als Leiterin unseres Beifalls in solchen Sachen fehlt, wo wir weder eigenes Wissen noch das Zeugnis anderer Leute als Unterlage für unsere Vernunftschlüsse haben.

Von diesen Vordersätzen ausgehend können wir, denke ich, dazu gelangen, die Maße und Grenzen zwischen Glauben und Vernunft abzustecken, deren mangelnde Bestimmung möglicherweise die Ursache wenn nicht großer Unordnungen, so doch wenigstens großer Streitigkeiten und vielleicht Irrtümer in der Welt gewesen sind. Denn, so lange nicht entschieden ist, wie weit wir uns von der Vernunft und wie weit vom Glauben leiten lassen sollen, werden wir über religiöse Dinge vergebens streiten und einander zu überzeugen suchen.

§ 2. Was Glaube und Vernunft sind, wenn sie gegensätzlich unterschieden werden. – Ich finde, daß jede Sekte von der Vernunft gerne Gebrauch macht, so weit sie mit ihr fortkommt, und wo sie ihr versagt, da hört man den Ruf: das ist Glaubenssache und übersteigt die Vernunft. Und ich sehe nicht ein, wie sie mit jemand disputieren oder jemals einen Gegner, der von derselben Ausrede Gebrauch macht, überführen wollen, ohne zwischen Glauben und Vernunft scharfe Grenzen zu ziehen, was bei allen Fragen, womit der Glaube irgend etwas zu thun hat, der zuerst festgesetzte Punkt sein müßte.

Unter Vernunft als gegensätzlich zum Glauben bestimmt verstehe ich deshalb hier die Entdeckung der Gewißheit oder Wahrscheinlichkeit solcher Sätze oder Wahrheiten, wozu der Geist durch Ableitung aus solchen Ideen gelangt, die er durch den Gebrauch seiner natürlichen Fähigkeiten erworben hat, nämlich durch Sinneswahrnehmung oder Selbstbeobachtung.

Andererseits ist der Glaube die Zustimmung zu irgend einem Satze, der nicht so durch Deduktionen der Vernunft ermittelt worden ist, sondern im Vertrauen auf den, der ihn aufstellt, angenommen wird, weil er auf einem außerordentlichen Wege der Mitteilung von Gott komme. Diese Art, den Menschen Wahrheiten bekannt zu machen, nennen wir Offenbarung.

§ 3. Keine neuen einfachen Ideen können durch überlieferte Offenbarung mitgeteilt werden. – Nun sage ich erstens, daß kein von Gott inspirierter Mensch durch irgend welche Offenbarung anderen irgend eine neue einfache Idee mitteilen kann, die sie nicht schon vorher durch Sinneswahrnehmung oder Selbstbeobachtung gewonnen hatten. Denn, welche Eindrücke ihm auch selbst unmittelbar aus der Hand Gottes zu teil geworden sein mögen, so kann diese Offenbarung, wenn sie neue einfache Ideen betrifft, anderen weder durch Wörter noch durch sonstige Zeichen mitgeteilt werden, weil Wörter durch ihre unmittelbare Einwirkung auf uns keine anderen Ideen hervorrufen als die ihrer natürlichen Laute, und es die Gewohnheit sie als Zeichen zu gebrauchen ist, wodurch sie in unserem Bewußtsein latente Ideen erwecken und beleben, aber nur solche Ideen, die sich vorher (aktuell) dort befunden haben. Denn gelesene oder gehörte Wörter rufen uns nur solche Ideen in das Gedächtnis zurück, als deren Zeichen wir sie zu betrachten gewöhnt sind, können aber nicht irgend welche völlig neue und früher unbekannte einfache Ideen in dasselbe einführen. Dasselbe gilt von allen übrigen Zeichen, die uns nicht Dinge bezeichnen können, wovon wir bisher überhaupt keine Idee gehabt haben. So besteht, welche Dinge auch dem heiligen Paulus offenbart sein mögen, als er in den dritten Himmel entrückt worden war, und welche neuen Ideen sein Geist dort auch empfangen haben mag, doch die ganze Beschreibung, die er anderen von jenem Orte machen kann, nur darin, daß sich dort solche Dinge befänden, »wie das Auge nicht gesehen, und das Ohr nicht gehört habe, und deren Vorstellung nicht in das menschliche Herz gelangt sei.« II. Korinth. 12, 2-4? Vgl. I. Korinth. 2, 9. Und angenommen, Gott würde jemanden auf übernatürliche Weise mit einer Art von Geschöpfen bekannt machen, die z. B. den Jupiter oder den Saturn bewohnten (denn die Möglichkeit, daß es dort solche geben mag, kann niemand bestreiten) und sechs Sinne hätten, und würde dessen Geist die Ideen einprägen, die jene Geschöpfe durch ihren sechsten Sinn erhielten, so könnte dieser die durch diesen sechsten Sinn erzeugten Ideen ebensowenig in dem Bewußtsein anderer Menschen durch Worte hervorrufen, wie einer von uns die Idee irgend welcher Farbe durch den Laut von Worten einem Menschen mitteilen könnte, dem, während er die übrigen vier Sinne ungeschwächt besäße, der fünfte des Gesichtes immer völlig gefehlt hätte. Wegen unserer einfachen Ideen also, die die Grundlage und das alleinige Material aller unserer Begriffe und Kenntnisse bilden, müssen wir uns lediglich auf unsere Vernunft verlassen, ich meine auf unsere natürlichen Fähigkeiten, und können sie oder irgend welche von ihnen auf keine Weise durch überlieferte Offenbarung erhalten; ich sage »überlieferte« zum Unterschied von der ursprünglichen Offenbarung. Unter dieser verstehe ich den ersten Eindruck, der unmittelbar von Gott auf den Geist irgend eines Menschen gemacht wird, und dem wir keine Schranken setzen können; unter jener die Überlieferung solcher Eindrücke an andere in Worten und auf den gewöhnlichen Wegen, unsere Gedanken einander mitzuteilen.

§ 4. Die überlieferte Offenbarung kann uns Sätze lehren, die sich auch durch die Vernunft erkennen lassen, jedoch nicht mit derselben Gewißheit wie die Vernunft. – Zweitens sage ich, daß durch Offenbarung dieselben Wahrheiten enthüllt und aus ihr weiter überliefert werden mögen, die wir mit Hilfe der Vernunft und der auf natürlichem Wege gewonnenen Ideen entdecken können. So könnte Gott die Wahrheit irgend eines Satzes im Euklid ebensogut durch Offenbarung enthüllen, wie Menschen durch den natürlichen Gebrauch ihrer Fähigkeiten von selbst zu seiner Entdeckung gelangen. Bei allen Dingen dieser Art ist die Offenbarung wenig vonnöten oder nützlich, da Gott uns mit natürlichen und sicheren Mitteln versehen hat, um zu ihrer Kenntnis zu gelangen. Denn jede Wahrheit, zu deren klarer Entdeckung wir von der Kenntnis und Betrachtung unserer eigenen Ideen aus gelangen, wird für uns immer mehr Gewißheit haben als die uns durch überlieferte Offenbarung mitgeteilten. Denn unser Wissen davon, daß diese Offenbarung ursprünglich von Gott gekommen sei, kann niemals so gewiß sein als das Wissen, was aus der klaren und deutlichen Wahrnehmung der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung unserer eigenen Ideen entspringt; z. B. wenn es vor einigen Jahrhunderten offenbart wäre, daß die drei Winkel eines Dreiecks gleich zwei rechten seien, so könnte ich der Wahrheit dieses Satzes auf die Glaubwürdigkeit der Überlieferung hin beistimmen, daß er offenbart sei, allein diese würde mir niemals eine so große Gewißheit gewähren, wie die Erkenntnis jener Wahrheit auf Grund einer Vergleichung und Messung meiner eigenen Ideen von zwei rechten Winkeln und der drei Winkel eines Dreiecks. Dasselbe gilt für sinnlich wahrnehmbare Thatsachen; z. B. die Geschichte von der Sündflut ist uns in Schriften überliefert, die ihren Ursprung in der Offenbarung haben, gleichwohl, denke ich, wird niemand behaupten, daß er eine ebenso gewisse und klare Kenntnis von der Flut habe wie Noah, der sie sah, oder wie er selbst gehabt haben würde, wenn er damals gelebt und sie gesehen hätte. Denn davon, daß sie in dem Buche berichtet ist, für dessen Verfasser der inspirierte Moses gilt, hat er keine größere Gewißheit als die ihm seine Sinne gewähren; dafür aber, daß Moses jenes Buch geschrieben hat, hat er keine so große Sicherheit, als wenn er ihn dasselbe hätte schreiben sehen. Also ist die Gewißheit, daß der Bericht eine Offenbarung sei, immer eine geringere als die, welche ihm seine Sinne gewähren.

§ 5. Gegen einen klaren Vernunftbeweis kann keine Offenbarung zugelassen werden. – Bei Sätzen also, deren Gewißheit auf die klare Wahrnehmung der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung unserer Ideen begründet ist, die wir entweder, wie bei selbstverständlichen Sätzen, durch unmittelbare Anschauung erworben haben oder durch einleuchtende Deduktionen in Vernunftbeweisen, bedarf es nicht des Beistandes der Offenbarung als eines notwendigen Hilfsmittels, um unseren Beifall zu gewinnen und sie in unsern Geist einzuführen, weil sie durch die natürlichen Erkenntnismittel dort festgestellt werden können, oder schon fest gestellt sind, und dies die größte Gewißheit ist, die wir möglicherweise von etwas haben können, ausgenommen wenn Gott es uns unmittelbar offenbart: und auch in diesem Falle kann unsere Zuversicht nicht größer sein als unsere Überzeugung davon, daß es eine göttliche Offenbarung sei. Gleichwohl kann meiner Meinung nach unter diesem Titel nichts die klare Einsicht erschüttern oder überwältigen oder vernünftigerweise jemanden bestimmen, es in direktem Widerspruch mit dem hellen Zeugnis seines eigenen Verstandes für wahr gelten zu lassen. Denn, da kein Zeugnis unserer Fähigkeiten, durch die wir solche Offenbarungen empfangen, die Gewißheit unserer intuitiven Erkenntnis übertreffen, wenn überhaupt ihr gleichkommen kann, so können wir niemals irgend etwas unserm klaren und deutlichen Wissen direkt Entgegengesetztes als Wahrheit annehmen. Z. B. die Ideen eines Körpers und eines Ortes stimmen so deutlich überein, und der Geist nimmt ihre Übereinstimmung so augenscheinlich wahr, daß wir einem Satze, worin behauptet wird, derselbe Körper sei gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten niemals beistimmen können, mag er auch die Autorität einer göttlichen Offenbarung in Anspruch nehmen; weil die Gewißheit: 1. daß wir uns nicht täuschen, wenn wir ihn Gott zuschreiben, und 2. daß wir ihn richtig verstehen, niemals so groß sein kann wie die Gewißheit unserer eigenen intuitiven Erkenntnis, womit wir die Unmöglichkeit einsehen, daß derselbe Körper sich zugleich an zwei Orten befinden könne. Und deshalb kann kein Satz als eine göttliche Offenbarung anerkannt werden oder den allen solchen gebührenden Beifall finden, wenn er unserer klaren intuitiven Erkenntnis widerspricht, weil das so viel heißen würde wie die Prinzipien und Grundlagen alles und jedes Erkennens, Beweisens und Dafürhaltens umstoßen, und kein Unterschied zwischen Wahrheit und Falschheit, kein Maßstab für Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit in der Welt übrigbleiben würde, wenn zweifelhafte Sätze den Vorrang vor selbstverständlichen erhielten, und was wir sicher wissen, vor dem, worin wir uns möglicherweise irren können, zurückweichen sollte. Deshalb ist es bei Sätzen, die der klaren Wahrnehmung der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung irgend welcher von unseren Ideen zuwiderlaufen, vergeblich, ihre Eigenschaft als Glaubenssache nachdrücklich zu betonen, sie können unsern Beifall unter dem Titel so wenig wie unter irgend einem andern erwerben, denn der Glaube kann uns niemals von irgend etwas überzeugen, was unserer Einsicht widerspricht. Denn, wenn sich auch der Glaube auf das Zeugnis Gottes stützt, der uns einen Satz offenbart habe (und nicht lügen könne), so können wir von der Wahrheit, daß er eine göttliche Offenbarung sei, doch keine Versicherung haben, die größer wäre als unser eigenes Wissen, weil die ganze Kraft der Sicherheit auf unserem Wissen davon beruht, daß Gott ihn geoffenbart habe, dem in diesem Falle, wo der vermeintlich geoffenbarte Satz unserer Einsicht oder Vernunft widerspricht, immer der Einwurf anhaften wird, daß wir nicht begreifen können, wie etwas von Gott dem gütigen Urheber unseres Daseins kommen sollte, was als wahr angenommen alle uns von ihm verliehenen Prinzipien und Grundlagen des Wissens umstoßen, alle unsere Fähigkeiten nutzlos machen, den vortrefflichsten Teil seiner Werke unseren Verstand völlig zerstören und den Menschen in eine Lage versetzen würde, worin er weniger Licht und weniger Leitung hätte als das sterbliche Tier. Denn, wenn es dem menschlichen Geiste niemals klarer (und vielleicht nicht einmal so klar) einleuchten kann, daß irgend etwas eine göttliche Offenbarung sei, als ihm die Prinzipien seiner eigenen Vernunft einleuchten, so kann er niemals Grund dafür haben, den klaren Beweis seiner Vernunft fallen zu lassen, um einem Satze Raum zu geben, dessen Offenbarung nicht klarer dargethan ist, als es jene Prinzipien sind.

§ 6. Geschweige denn eine überlieferte Offenbarung. – Soweit darf der Mensch seine Vernunft gebrauchen und sollte auf sie hören sogar einer unmittelbaren und ursprünglichen Offenbarung gegenüber, die vermeintlich ihm selbst gemacht wird; für alle die aber, die auf unmittelbare Offenbarung keinen Anspruch machen, von denen jedoch verlangt wird, daß sie sich gehorsam zeigen und die anderen geoffenbarten Wahrheiten annehmen sollen, die ihnen schriftlich oder mündlich überliefert worden, muß die Vernunft noch viel mehr thun, indem sie allein uns zu deren Annahme bestimmen kann. Denn, da nur die göttliche Offenbarung und nichts anderes den Gegenstand des Glaubens ausmacht, so hat der Glaube in dem Sinne, worin wir das Wort gebrauchen (gewöhnlich heißt er darin göttlicher Glaube), es nur mit solchen Sätzen zu thun, die für göttliche Offenbarungen gelten. Ich sehe deshalb nicht ein, wie die, welche die Offenbarung zum alleinigen Gegenstand des Glaubens machen, sagen können, es sei Sache des Glaubens und nicht der Vernunft zu glauben, daß der und der in dem und dem Buche enthaltene Satz auf göttlicher Eingebung beruhe, wenn es nicht geoffenbart worden, daß jener Satz oder der ganze Inhalt jenes Buches durch göttliche Eingebung mitgeteilt sei. Ohne eine solche Offenbarung kann das Glauben oder Nichtglauben daran, daß jener Satz oder jenes Buch göttliche Autorität besitze, niemals Sache des Glaubens sein, sondern nur Sache der Vernunft und solch eine, der ich nur infolge eines Gebrauches meiner Vernunft beipflichten darf, die mich nie veranlassen oder befähigen wird, etwas ihr selbst Widersprechendes zu glauben, indem es für die Vernunft unmöglich ist, jemals irgend welchen Beifall einer Sache zu verschaffen, die ihr selbst unvernünftig erscheint. Deshalb ist in allen Dingen, wo wir aus unseren Ideen und den von mir oben erwähnten Erkenntnisprinzipien einen klaren Beweis erlangen können, die Vernunft der zuständige Richter, und die Offenbarung kann in solchen Fällen, wenn sie auch durch Übereinstimmung mit der Vernunft deren Vorschriften bestätigen mag, doch ihre Entscheidungen nicht entkräften, auch können wir nicht verpflichtet sein, wo wir einen klaren und augenscheinlichen Ausspruch der Vernunft haben, diesen mit der entgegengesetzten Meinung unter dem Vorwande zu vertauschen, daß sie Glaubenssache sei, was ihr gegenüber den klaren und deutlichen Vorschriften der Vernunft keine Autorität verleihen kann.

§ 7. Dinge über der Vernunft – Da es jedoch, drittens, viele Dinge giebt, wovon wir sehr unvollkommene oder überhaupt keine Vorstellungen haben, und andere Dinge, über deren vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Existenz wir durch den natürlichen Gebrauch unserer Fähigkeiten durchaus nichts in Erfahrung bringen können, so bilden diese als über die Entdeckung durch unsere natürlichen Kräfte und über die Vernunft hinaus liegend, wenn sie geoffenbart sind, den eigentlichen Gegenstand des Glaubens. Daß z. B. ein Teil der Engel sich gegen Gott empörte und dadurch seinen ersten glücklichen Zustand einbüßte, und daß die Toten zu neuem Leben auferstehen werden, diese und ähnliche Dinge sind, da sie über den Gesichtskreis der Vernunft hinausliegen, lediglich Glaubenssache, und die Vernunft hat direkt mit ihnen nichts zu thun.

§ 8. oder der Vernunft nicht zuwider sind, wenn sie geoffenbart worden, Sache des Glaubens. – Weil aber Gott, indem er uns das Licht der Vernunft gab, sich dadurch nicht selbst die Hände gebunden hat, uns nicht auch, wenn er es angemessen finden sollte, das Licht der Offenbarung in einer von den Angelegenheiten zukommen zu lassen, worin unsere natürlichen Fähigkeiten uns eine wahrscheinliche Entscheidung zu geben vermögen, so muß die Offenbarung, wo es Gott gefallen hat sie zu geben, den wahrscheinlichen Vermutungen der Vernunft vorgehen, weil der Geist, da er der Wahrheit dessen nicht sicher ist, was er nicht mit Evidenz erkennt, sondern nur der sich dabei zeigenden Wahrscheinlichkeit Rechnung trägt, verpflichtet ist, seinen Beifall einem solchen Zeugnis gegenüber aufzugeben, das, wie ihm genügend dargethan worden, von jemandem herrührt, der nicht irren kann und nicht täuschen will. Gleichwohl kommt es der Vernunft noch zu, darüber zu urteilen, ob es wirklich eine Offenbarung sei, und was die Worte, worin sie überliefert ist, bedeuten. Aber freilich, wenn etwas, was den klaren Prinzipien der Vernunft und dem evidenten Wissen des Geistes von seinen eigenen hellen und deutlichen Ideen zuwiderläuft, für eine Offenbarung gehalten werden soll, dann muß die Vernunft wie über eine in ihr Gebiet fallende Sache gehört werden, weil niemals jemand so sicher wissen kann, daß ein Satz, der den klaren Prinzipien und der Evidenz seiner eigenen Erkenntnis zuwiderläuft, von Gott geoffenbart sei, oder daß er die Worte, worin er überliefert ist, richtig verstehe, wie er weiß, daß das Gegenteil wahr sei, und er deshalb verpflichtet ist, ihn als eine Sache der Vernunft zu erwägen und zu beurteilen, nicht aber als Glaubenssache ohne Prüfung zu verschlucken.

§ 9. In Sachen, worüber die Vernunft gar nicht oder nur nach Wahrscheinlichkeit urteilen kann, muß die Offenbarung gehört werden. – 1. Jeder geoffenbarte Satz, über dessen Wahrheit unser Geist mit Hilfe seiner natürlichen Fähigkeiten und Begriffe nicht urteilen kann, ist lediglich Glaubenssache, und über der Vernunft. 2. Alle Sätze, worüber der Geist durch den Gebrauch seiner natürlichen Fähigkeiten aus den auf natürlichem Wege erworbenen Ideen zu einer Entscheidung und einem Urteil gelangen kann, sind Sachen der Vernunft, jedoch mit dem Unterschiede, daß bei denen, bezüglich welcher er nur einen unsicheren Beweis hat, indem er von ihrer Wahrheit nur aus Wahrscheinlichkeitsgründen überzeugt ist, die immer noch eine Möglichkeit der Wahrheit des Gegenteils offen lassen, wobei weder der sicheren Evidenz seines eigenen Wissens Gewalt angethan noch die Prinzipien aller Vernunft umgestoßen würden: – daß, sage ich, bei solchen wahrscheinlichen Sätzen eine augenscheinliche Offenbarung unsern Beifall selbst gegen die Wahrscheinlichkeit bestimmen sollte. Denn, wo die Prinzipien der Vernunft nicht bewiesen haben, daß ein Satz gewiß wahr oder falsch sei, da kann die Entscheidung durch zweifellose Offenbarung als einer anderen Quelle der Wahrheit und Ursache des Beifalls erfolgen, und derselbe so zur Glaubenssache werden und ebenfalls über die Vernunft hinausgehen, weil in dieser einzelnen Sache, da die Vernunft nicht höher als bis zur Wahrscheinlichkeit reichen konnte, der Glaube die Entscheidung gab, wo die Vernunft sich als unzulänglich erwies, und die Offenbarung zeigte, auf welcher Seite die Wahrheit liege.

§ 10. In den Sachen, wo die Vernunft sichere Erkenntnis gewähren kann, muß sie gehört werden. – So weit reicht das Gebiet des Glaubens und zwar ohne irgend welche Verletzung oder Behinderung der Vernunft, die durch neue aus der ewigen Quelle alles Wissens kommende Entdeckungen nicht beleidigt oder gestört wird, sondern Beistand und Förderung erhält. Alles, was Gott geoffenbart hat, ist gewißlich wahr, daran läßt sich nicht zweifeln. Das ist der eigentliche Gegenstand des Glaubens, aber ob etwas eine göttliche Offenbarung sei oder nicht, darüber muß die Vernunft entscheiden, die niemals dem Geiste erlauben kann, eine größere Evidenz zu verwerfen, um etwas weniger Einleuchtendes anzunehmen, noch auch ihm gestatten, im Gegensatz zur Erkenntnis und Gewißheit an der Wahrscheinlichkeit festzuhalten. Es kann keinen Beweis dafür geben, daß irgend eine überlieferte Offenbarung in den Worten, worin wir sie erhalten, und in dem Sinne, worin wir sie verstehen, göttlichen Ursprungs sei, der so klar und so sicher wäre wie der aus den Prinzipien der Vernunft, und deshalb hat nichts, was mit den klaren und von selbst einleuchtenden Aussagen der Vernunft in Widerspruch steht und unvereinbar ist, Anspruch darauf, als eine Glaubenssache, wobei die Vernunft nichts zu thun habe, geltend gemacht oder anerkannt zu werden. Was immer göttliche Offenbarung ist, muß über alle unsere Meinungen, Vorurteile und Interessen die Oberhand haben und darf erwarten, mit voller Zustimmung aufgenommen zu werden. Eine solche Unterwerfung unserer Vernunft unter den Glauben wie diese verrückt die Grenzsteine des Wissens nicht, sie erschüttert nicht die Grundlagen der Vernunft, sondern läßt uns den Gebrauch unserer Fähigkeiten, wozu sie uns gegeben worden.

§ 11. Wenn die Grenzen zwischen Glauben und Vernunft nicht gestimmt werden, so läßt sich keiner Schwärmerei oder Überspanntheit in der Religion entgegentreten. – Wenn die Gebiete von Glauben und Vernunft nicht durch diese Schranken auseinander gehalten werden, so wird in Sachen der Religion für die Vernunft überhaupt kein Raum übrigbleiben, und die überspannten Meinungen und Ceremonien, die in den verschiedenen Religionen der Welt zu finden sind, werden keinen Tadel verdienen. Denn diesem Herausstreichen des Glaubens im Gegensatz zur Vernunft dürfen wir, meine ich, großenteils die Absurditäten zuschreiben, die fast alle Religionen erfüllen, von denen die Menschheit beherrscht und geteilt wird. Denn, da den Menschen die Meinung eingeprägt war, daß sie in religiösen Dingen, wie augenscheinlich sie auch mit dem gesunden Verstande und selbst mit den Prinzipien aller ihrer Erkenntnis in Widerspruch stehen möchten, die Vernunft nicht zu Rate ziehen dürften, so ließen sie ihrer Phantasie und dem natürlichen Aberglauben die Zügel schießen, und sind von diesen zu so seltsamen Meinungen und so überspannten Religionsgebräuchen geführt worden, daß ein besonnener Mann nicht umhin kann, vor ihren Thorheiten erstaunt stillzustehen und diese für soweit entfernt davon zu halten, dem großen und weisen Gott gefällig zu sein, daß er sie vielmehr als lächerlich und für einen verständigen wohlgesinnten Menschen anstößig betrachten muß. So daß thatsächlich die Religion, die uns am meisten von den Tieren unterscheiden und uns vorzugsweise als vernünftige Geschöpfe über sie erheben sollte, vielmehr das ist, worin die Menschen oft am unvernünftigsten und sinnloser als die Tiere selbst zu sein scheinen. Credo, quia impossibile est – ich glaube, weil es unmöglich ist – könnte einem guten Menschen als eine Anwandlung von Eifer hingehen, würde sich aber als eine sehr schlechte Regel erweisen, wenn Menschen ihre Meinungen oder ihre Religion danach wählen sollten.


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