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Sechzehntes Kapitel.
Über die Grade des Beifalls.

§ 1. Unser Beifall sollte nach den Gründen der Wahrscheinlichkeit geregelt werden. – In dem vorigen Kapitel haben wir die Gründe der Wahrscheinlichkeit angegeben; wie sie die Grundlagen sind, worauf unser Beifall sich stützt, so sind sie auch das Maß, wonach dessen verschiedene Grade sich regeln oder regeln sollten; nur müssen wir beachten, daß, was für Gründe der Wahrscheinlichkeit auch vorhanden sein mögen, sie doch auf den Verstand, der nach Wahrheit forscht und richtig zu urteilen sucht, nicht weiter einwirken, als sie zu Tage liegen, wenigstens bei dem ersten Urteil oder der ersten Nachforschung desselben. Ich gebe zu, daß bei den von den Menschen gehegten Meinungen, denen sie in der Welt fest anhängen, ihr Beifall nicht immer von einer gegenwärtigen Berücksichtigung der Gründe abhängt, die zuerst für sie maßgebend waren, indem es in vielen Fällen fast unmöglich und in den meisten selbst für solche, die ein außerordentlich gutes Gedächtnis besitzen, sehr schwer sein würde, alle die Beweisgründe zu behalten, wodurch sie nach sorgfältiger Prüfung bestimmt worden sind, eine Frage in gewissem Sinne zu entscheiden. Es genügt, daß sie einmal mit Sorgfalt und Redlichkeit den Gegenstand, so fein sie konnten, gesichtet haben, daß sie allen Einzelheiten, von denen sie irgend eine Beleuchtung der Frage erwarten konnten, nachgeforscht und nach ihrem besten Vermögen die Rechnung über den ganzen Beweis aufgestellt haben; und wenn sie so einmal nach einer möglichst vollständigen und genauen Untersuchung gefunden haben, auf welcher Seite ihnen die Wahrscheinlichkeit zu liegen schien, dann bewahren sie den Schluß als eine ermittelte Wahrheit in ihrem Gedächtnis und begnügen sich in Zukunft mit dessen Zeugnis, daß dies die Meinung sei, die nach den früher für sie gesehenen Beweisen den Grad von Beifall verdiene, den sie ihr schenken.

§ 2. Diese können uns nicht immer gegenwärtig vor Augen stehen, und dann müssen wir uns bei der Erinnerung beruhigen, daß wir früher einmal für eine solche Stufe des Beifalls Grund gefunden haben. – Dies ist alles, was der größte Teil der Menschen für die Regelung ihrer Meinungen und Urteile thun kann; es wäre denn entweder, daß man von ihnen verlangen wollte, sie sollten alle auf irgend einen wahrscheinlichen Satz bezüglichen Beweisgründe deutlich im Gedächtnis behalten, und zwar in derselben Ordnung und mit derselben regelmäßigen Ableitung der Folgerungen, wie sie dieselben früher entwickelt oder gehört haben, was mitunter ausreichen würde, um über eine einzelne Frage einen starken Band anzufüllen: oder daß man von einem Menschen fordern wollte, er solle für jede Meinung, der er sich anschließt, tagtäglich die Beweise prüfen; – was beides unmöglich ist. Es ist deshalb unvermeidlich, daß in diesem Falle das Gedächtnis als Stütze dienen muß, und daß die Menschen manche Meinungen hegen müssen, wofür die Beweise ihnen nicht in Gedanken gegenwärtig sind, ja wofür sie sich dieser vielleicht überhaupt nicht mehr entsinnen können. Ohnedem müßte der größte Teil der Menschen entweder sehr skeptisch sein oder jeden Augenblick seine Ansicht wechseln, und dem ersten Besten folgen, der, weil er kürzlich die Frage studiert hätte, ihnen Gründe entgegenhielte, woraus sie aus Mangel an Gedächtnis nicht sofort etwas erwidern könnten.

§ 3. Die üblen Folgen hievon, wenn unsere früheren Urteile nicht wohl erwogen waren. – Ich muß einräumen, daß das Stehenbleiben der Menschen bei ihren der Vergangenheit angehörigen Urteilen und ihre feste Anhänglichkeit an früher gemachten Schlüssen oft eine große Hartnäckigkeit in Irrtümern und Mißgriffen verursacht. Der Fehler liegt aber nicht darin, daß sie sich wegen dessen, was sie früher richtig beurteilt haben, auf ihr Gedächtnis verlassen, sondern darin, daß sie geurteilt haben, bevor sie die Sache genügend geprüft hatten. Finden wir nicht, daß eine große Zahl (um nicht zu sagen: der größte Teil) der Menschen sich über verschiedene Dinge aus keinem anderen Grunde richtige Urteile gebildet zu haben glaubt, als weil sie niemals anders darüber gedacht haben? daß sie sich nur deshalb einbilden, richtig geurteilt zu haben, weil sie ihre Meinungen nie in Frage gezogen und nie geprüft haben? Das heißt in der That glauben, daß sie richtig geurteilt haben, weil sie überhaupt niemals zu einem Urteil gekommen sind; und doch halten unter allen Menschen diese ihre Meinungen mit der größten Steifheit aufrecht, indem gewöhnlich diejenigen in ihren Lehren am eifrigsten und festesten sind, die sie am wenigsten geprüft haben. Wenn wir einmal ein Wissen von etwas erlangt haben, so sind wir sicher, daß es sich so verhalte, und wir dürfen überzeugt sein, daß es keine verborgenen und unentdeckt gebliebenen Beweise giebt, die unser Wissen umstoßen oder zweifelhaft machen könnten. Aber in Sachen der Wahrscheinlichkeit können wir nicht in jedem Falle gewiß sein, daß wir alle Einzelheiten, die irgendwie die Frage berühren könnten, vor uns haben, und daß kein Zeugnis im Rückstand und noch unbekannt sei, was die Wahrscheinlichkeit auf die andere Seite werfen und alles überwiegen könne, was gegenwärtig bei uns am meisten Gewicht zu haben scheint. Giebt es wohl jemand, der die Muße, Geduld und Mittel hätte, alle Gründe für und gegen die meisten seiner Meinungen dergestalt zusammen zu bringen, daß er sicher annehmen dürfte, einen klaren und vollständigen Überblick darüber zu haben, und daß sich nichts weiter zu seiner besseren Unterrichtung anführen lasse? Und doch sind wir genötigt, uns nach der einen oder der anderen Seite hin zu entscheiden. Unsere Lebensführung und der Betrieb unserer wichtigsten Angelegenheiten leiden keinen Verzug, denn diese beruhen größtenteils auf der Entscheidung unseres Urteils in Punkten, wo wir keines sicheren und demonstrativen Wissens fähig sind, während es für uns notwendig ist, die eine oder die andere Seite zu ergreifen.

§ 4. Die richtige Folgerung daraus ist, daß wir uns gegeneinander wohlwollend und duldsam bezeigen. – Weil es demnach für den größten Teil der Menschen, wenn nicht für alle, unvermeidlich ist, manche Meinungen ohne gewisse und zweifellose Beweise für ihre Wahrheit zu hegen, und sie sich allzusehr dem Vorwurf der Unwissenheit, des Leichtsinns oder der Thorheit aussetzen würden, wenn sie ihre bisherigen Ansichten auf die Vorhaltung eines Beweisgrundes, den sie nicht unmittelbar beantworten und als ungenügend darthun können, sofort aufgeben und verleugnen wollten, so würde es sich meiner Meinung nach für alle Menschen geziemen, ungeachtet der Verschiedenheit ihrer Ansichten den Frieden zu bewahren und die allgemeinen Pflichten der Menschlichkeit und Freundschaft zu erfüllen, weil wir vernünftigerweise nicht erwarten können, daß jemand seine eigene Meinung bereitwillig und folgsam aufgeben und mit einer blinden Resignation gegenüber einer von dem menschlichen Verstande nicht anerkannten Autorität die unsrige annehmen solle. Denn, wie oft dieser auch irre gehen mag, so kann er doch keinen anderen Führer als die Vernunft anerkennen und sich nicht dem Willen und den Befehlen eines anderen blind unterwerfen. Wenn der, den wir zu unsern Ansichten bekehren möchten, jemand ist, der prüft, bevor er beistimmt, so müssen wir ihm gestatten, nach seiner Bequemlichkeit die Rechnung von neuem durchzugehen, und, sich das Vergessene ins Gedächtnis zurückrufend, alle Einzelheiten zu erwägen, um zu sehen, auf welcher Seite das Mehr liegt; und wenn er unsere Gründe nicht für gewichtig genug hält, um sich von neuem so viele Mühe zu machen, so ist das nichts anderes, als was wir selbst oft in dem gleichen Falle thun, und wir würden es übel ausnehmen, wenn andere uns vorschreiben wollten, welche Punkte wir untersuchen sollten. Und wenn er jemand ist, der seine Ansichten auf Treu und Glauben irgend woher bezieht, wie können wir uns dann einbilden, daß er aus die Lehren verzichten solle, die sich durch Zeit und Gewohnheit in seinem Geiste so festgesetzt haben, daß er denkt, sie seien selbstverständlich und von unbestreitbarer Gewißheit, oder die er für von Gott selbst oder dessen Abgesandten empfangene Eindrücke hält? Wie können wir erwarten, sage ich, daß auf solche Weise befestigte Meinungen vor den Gründen oder der Autorität eines Fremden oder Gegners aufgegeben werden sollten, besonders wenn irgend ein Verdacht des Interesses oder einer Absicht obwaltet, woran es nie zu fehlen pflegt, wo Menschen sich schlecht behandelt glauben. Wir würden wohl daran thun, gegenseitig unsere Unwissenheit zu bemitleiden und zu versuchen, ihr auf jede mögliche Weise sanftmütiger und freundlicher Belehrung abzuhelfen, anstatt andere sofort als halsstarrig und verstockt schlecht zu behandeln, weil sie nicht ihren eigenen Meinungen entsagen und die unsrigen, oder wenigstens die, welche wir ihnen aufzwingen möchten, annehmen wollen, wenn es mehr als wahrscheinlich ist, daß wir mit nicht geringerer Hartnäckigkeit die Annahme irgend einer der ihrigen verweigern würden. Denn wo ist der Mann zu finden, der die Wahrheit alles dessen, was er verteidigt, und die Falschheit alles dessen, was er verurteilt, unbestreitbar nachweisen oder behaupten kann, daß er alle seine eignen Meinungen oder die anderer Leute bis auf den Grund geprüft habe? Die Notwendigkeit, in diesem flüchtigen Zustand des Handelns und der Blindheit, worin wir uns befinden, ohne Wissen ja oft auf sehr schwache Gründe hin zu glauben, sollte uns mehr zu Fleiß und Sorgfalt antreiben, um uns selbst zu belehren als um einen Zwang gegen andere auszuüben. Wenigstens müssen die, welche ihre eigenen Glaubenssätze nicht alle bis auf den letzten Grund geprüft haben, einräumen, daß sie nicht dazu berufen sind anderen Vorschriften zu machen und unvernünftig handeln, wenn sie dem Glauben anderer etwas als Wahrheit aufbinden wollen, ohne es selbst untersucht und die Wahrscheinlichkeitsgründe erwogen zu haben, die für dessen Annahme oder Verwerfung maßgebend sein sollen. Die, welche ehrlich und gründlich geprüft haben und dadurch bei allen Lehren, die sie bekennen und von denen sie sich leiten lassen, über jeden Zweifel hinausgekommen sind, würden einen gerechteren Anspruch darauf haben, von anderen Folgeleistung zu erwarten; aber deren Anzahl ist so klein, und sie finden so wenig Grund dafür, in ihren Meinungen herrisch zu sein, daß von ihnen kein anmaßendes und gebieterisches Benehmen zu erwarten ist; und es ist Grund zu der Annahme vorhanden, daß, wenn die Menschen selbst besser unterrichtet wären, sie sich anderen gegenüber weniger auf das hohe Pferd setzen würden.

§ 5. Wahrscheinlichkeit kommt entweder etwas Tatsächlichem oder etwas bloß Gedachtem zu. – Um jedoch auf die Gründe des Beifalls und die verschiedenen Abstufungen desselben zurückzukommen, so ist zu bemerken, daß die Sätze, zu deren Annahme wir durch Wahrscheinlichkeit bewogen werden, von zweierlei Art sind, indem sie entweder eine partikulare Existenz oder, wie man gewöhnlich sagt, eine Thatsache betreffen, die sich beobachten läßt und deshalb von Menschen bezeugt werden kann; oder aber Dinge, die, weil sie über das Wahrnehmungsvermögen unserer Sinne hinausliegen, ein derartiges Zeugnis nicht gestatten.

§ 6. Wenn die Erfahrung aller übrigen Menschen mit der unsrigen zusammentrifft, so entsteht eine dem Wissen nahe kommende Zuversicht. – Die erstere von diesen nämlich das partikular Thatsächliche Locke scheint hier die einzelnen Thatsachen und den aus vielen gleichartigen Thatsachen abstrahierten allgemeinen Erfahrungssatz nicht deutlich genug auseinander zu halten. Daß es in England zu gewisser Zeit Frost oder Schwalben gegeben hat, sind einzelne Thatsachen, daß dagegen Blei im Feuer schmilzt und Eisen im Wasser untersinkt, sind allgemeine Erfahrungssätze über Thatsachen. betreffend:

Erstens, wo irgend eine einzelne Sache in Übereinstimmung mit unserer eigenen beständigen Beobachtung und der anderer Leute in gleichen Fällen durch die zusammentreffenden Berichte aller, die ihrer gedenken, bezeugt wird, da nehmen wir sie ebensoleicht an und bauen ebensofest darauf, als wenn uns ein sicheres Wissen davon geboten würde, und wir tragen nicht mehr Bedenken, Schlüsse daraus zu ziehen und danach zu handeln, als wenn ein vollständiger Beweis dafür vorläge. Z. B. wenn alle Engländer, die Gelegenheit hätten davon zu sprechen, versichern würden, es habe während des letzten Winters in England gefroren, oder es seien dort im Sommer Schwalben gesehen worden, so meine ich, könnte jemand daran beinahe ebensowenig zweifeln wie daran, daß sieben und vier zusammengenommen elf sind. Die erste und höchste Stufe der Wahrscheinlichkeit ist es deshalb, wenn die allgemeine Beistimmung aller Menschen zu allen Zeiten, soweit sie erkennbar ist, mit jemandes eigener nie ausbleibender Erfahrung in gleichen Fällen zusammentrifft, um die Wahrheit einer einzelnen von einwandsfreien Zeugen beglaubigten Thatsache zu bestätigen. Dahin gehören alle festgestellten Beschaffenheiten und Eigenschaften von Körpern und die regelmäßigen Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen in dem gewöhnlichen Verlauf der Natur. Dies nennen wir einen aus der Natur der Dinge selbst geschöpften Beweisgrund. Denn, wovon unsere eigene und anderer Menschen beständige Beobachtung gezeigt hat, daß es sich stets auf dieselbe Art verhalte, davon nehmen wir mit Grund an, daß es die Wirkung stetiger und regelmäßiger Ursachen sei, wenn sich auch diese unserer Erkenntnis entziehen. Da z. B. folgende und ähnliche Sätze über besondere Thatsachen: daß das Feuer einen Menschen erwärme, Blei flüssig mache und die Farbe oder Konsistenz von Holz oder Kohlen ändere; daß das Eisen im Wasser untersinke und in Quecksilber schwimme, mit unserer konstanten Erfahrung, so oft wir mit diesen Dingen zu thun haben, übereinstimmen, und da von ihnen (wenn sie von anderen erwähnt werden) allgemein wie von Dingen, die sich beständig so verhielten und von niemanden bestritten würden, die Rede ist, so bleibt für uns kein Zweifel daran übrig, daß ein Bericht darüber, daß so etwas geschehen sei, oder eine Voraussagung, Predication steht hier wohl mit oder ohne Druckfehler für prediction. daß es in derselben Weise wieder geschehen werde, vollkommen wahr seien. Diese Wahrscheinlichkeiten kommen der Gewißheit so nahe, daß sie unsere Gedanken ebenso unbedingt beherrschen und unsere Handlungen ebenso vollständig beeinflussen, wie die einleuchtendste Beweisführung, und bei allen unseren Angelegenheiten machen wir zwischen ihnen und dem sicheren Wissen wenig oder gar keinen Unterschied. Unser so begründeter Glaube erhebt sich bis zur Zuversicht ( assurance).

§ 7. Unverdächtiges Zeugnis und Erfahrung bringen meistens Vertrauen hervor. – Zweitens, die nächste Stufe der Wahrscheinlichkeit ist, wenn ich nach meiner eigenen Erfahrung und der Zustimmung aller anderen, die ihrer gedenken, finde, daß sich eine Sache gewöhnlich so und so verhalte, und daß das einzelne Beispiel davon durch viele und einwandsfreie Zeugen beglaubigt sei. Z. B. da die Geschichte uns über Menschen aus allen Zeiten die Auskunft giebt, und meine eigene Erfahrung, soweit ich zur Beobachtung Gelegenheit gehabt habe, sie bestätigt, daß die meisten Menschen ihren Privatvorteil dem öffentlichen Wohle vorziehen, so ist es, wenn alle Historiker dies von Tiberius berichten, höchst wahrscheinlich, daß es bei ihm der Fall war. Und in diesem Falle hat unser Beifall eine genügende Grundlage, um sich bis zu einer Stufe zu erheben, die wir Vertrauen ( confidence) nennen mögen.

§ 8. Unverdächtiges Zeugnis ruft auch dann vertrauensvollen Glauben hervor, wenn die Natur der Sache unentschieden ist. – Drittens bei Dingen, deren Vorkommen unentschieden ist, wie, daß ein Vogel hierher oder dorthin fliegt, daß es zur rechten oder zur linken Hand eines Menschen donnert, etc. ist, wenn eine einzelne Thatsache durch die übereinstimmende Aussage unverdächtiger Zeugen verbürgt ist, unsere Zustimmung gleichfalls unvermeidlich. Daß es z. B. in Italien eine Stadt wie Rom giebt, daß dort vor etwa 1700 Jahren ein Mann Namens Julius Cäsar lebte, daß er ein Feldherr war, und daß er eine Schlacht gegen einen anderen, der Pompejus hieß, gewann, – das läßt sich zwar aus der Natur der Dinge weder schließen noch bestreiten; da es aber von glaubwürdigen Historikern berichtet wird und kein Schriftsteller dem widerspricht, so kann man auch nicht umhin, es zu glauben, und so wenig daran zweifeln, wie an dem Dasein und den Handlungen seiner eigenen Bekannten, deren Zeuge man selbst ist.

§ 9. Wo Erfahrung und Zeugnisse einander widersprechen, da entstehen unendlich mannigfache Abstufungen der Wahrscheinlichkeit. – So weit geht die Sache glatt genug. Wahrscheinlichkeit aus solchen Gründen ist so einleuchtend, daß sie das Urteil natürlicherweise bestimmt und uns so wenig die Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, läßt, wie ein Beweis die Möglichkeit, ob wir wissen oder unwissend bleiben wollen. Die Schwierigkeit entsteht, wenn Zeugnisse der gemeinen Erfahrung widersprechen, und die historischen Berichte und Zeugnisse mit dem gewöhnlichen Laufe der Natur oder miteinander kollidieren; in solchen Fällen sind Fleiß, Aufmerksamkeit und Genauigkeit erforderlich, um ein richtiges Urteil zu gewinnen und den Beifall dem verschiedenen Maße von Ersichtlichkeit und Wahrscheinlichkeit der Sache anzupassen, was steigt und sinkt, je nachdem die beiden Grundlagen der Glaubwürdigkeit, nämlich die gemeine Beobachtung in gleichen Fällen und einzelne Zeugnisse in diesem besonderen Beispiel, ihr günstig oder ungünstig sind. Diese sind einer so großen Mannigfaltigkeit entgegengesetzter Beobachtungen, Umstände und Berichte, verschiedener Befähigung, Gemütsart, Absichten, Versehen etc. der Berichterstatter ausgesetzt, daß es unmöglich ist, die verschiedenen Abstufungen, worin die Menschen ihren Beifall erteilen, auf genaue Regeln zurückzuführen. Nur soviel läßt sich im allgemeinen sagen, daß, je nachdem die Gründe und Beweise für und wider nach gehöriger Prüfung und sorgfältiger Erwägung jedes einzelnen Umstandes im ganzen genommen auf einer Seite in höherem oder geringerem Grade das Übergewicht zu haben scheinen, sie geeignet sind, im Geiste die verschiedenen Verhaltungsweisen ( entertainments) hervorzurufen, die wir Glauben, Vermutung ( conjecture), Mutmaßung ( guess), Zweifel, Schwanken, Mißtrauen, Unglauben etc. nennen.

§ 10. Überlieferte Zeugnisse haben um so weniger Beweiskraft, je älter sie sind. – Das ist es, was den Beifall in Angelegenheiten betrifft, worin von dem Zeugnis Gebrauch gemacht wird, wobei es, denke ich, nicht unpassend sein mag, an eine im englischen Rechte geltende Regel zu erinnern, die dahin geht, daß zwar die beglaubigte Abschrift einer Urkunde ein gutes Beweismittel ist, die Abschrift einer Abschrift aber, mag sie Der englische Text ( the copy of a copy ever so well attested) läßt nicht sicher erkennen, ob hier eine Beglaubigung beider Abschriften oder nur einer und welcher von beiden gemeint ist. auch noch so gut und von noch so zuverlässigen Zeugen beglaubigt sein, im Prozeß als Beweismittel nicht zugelassen wird. Dies wird so allgemein als vernünftig und der Weisheit und Vorsicht, der wir uns bei der Erforschung thatsächlicher Wahrheiten bedienen müssen, angemessen gebilligt, daß ich noch niemals einen Tadel dagegen gehört habe. Wenn diese Praxis bei den Entscheidungen über Recht und Unrecht statthaft erscheint, so liegt dabei wohl der Gedanke zu Grunde, daß jedes Zeugnis um so weniger Beweiskraft hat, je weiter es von der ursprünglichen Wahrheit absteht. Das Dasein und die Existenz der Sache selbst ist, was ich die ursprüngliche Wahrheit nenne. Ein glaubwürdiger Mann, der seine Kenntnis derselben beteuert, ist ein guter Beweis; wenn aber ein zweiter von gleicher Glaubwürdigkeit sie nach einer Mitteilung des ersten bezeugt, so ist dieses Zeugnis schwächer, und ein dritter, der ein Hörensagen vom Hörensagen bestätigt, kommt noch weniger in Betracht. So daß bei überlieferten Wahrheiten jeder weitere Schritt die Kraft des Beweises abschwächt, und je größer die Zahl der Hände ist, durch welche die Überlieferung der Reihe nach gegangen, um so geringer ist die Beweiskraft, die sie von ihnen empfängt. Hierauf aufmerksam zu machen, habe ich für nötig gehalten, da ich finde, daß bei manchen Leuten das gerade Gegenteil in gewöhnlicher Übung steht, indem sie es so ansehen, als ob die Meinungen um so mehr an Stärke gewinnen, je älter sie werden, und daß dem, was vor tausend Jahren keinem verständigen Zeitgenossen des ersten Gewährsmannes überhaupt nur wahrscheinlich vorgekommen wäre, gegenwärtig eine über jeden Zweifel erhabene Gewißheit bloß deshalb mit Eifer zugeschrieben wird, weil seitdem viele einer nach dem anderen sie ihm beigelegt haben. Aus diesem Grunde gelangen Sätze, die bei ihrer ersten Aufstellung offenbar falsch oder zweifelhaft genug waren, durch eine umgekehrte Regel der Wahrscheinlichkeit dazu, für authentische Wahrheiten zu gelten, und von denen, die im Munde ihrer ersten Urheber wenig Glauben fanden oder verdienten, meint man, daß sie durch das Alter ehrwürdig geworden seien, und pocht auf ihre Unbestreitbarkeit. Das großartigste Beispiel hievon liefert bekanntlich die christliche Dogmatik.

§ 11. Gleichwohl ist die Geschichte von großem Nutzen. – Man glaube nicht, daß ich hier das Zutrauen zu der Geschichte abschwächen und deren Nutzen verkleinern wolle, sie ist in vielen Fällen das einzige Licht, was wir haben, und wir beziehen aus ihr mit überzeugender Klarheit einen großen Teil der nützlichen Wahrheiten, die wir besitzen. Ich halte nichts für schätzbarer als die Dokumente des Altertums, ich wünschte, wir hätten mehr davon und sie wären weniger verdorben; aber gerade dieser Sachverhalt nötigt mich zu der Äußerung, daß keine Wahrscheinlichkeit sich über ihre ursprüngliche Quelle erheben kann. Wofür kein anderer Beweis gegeben ist, als die alleinige Aussage eines einzigen Zeugen, das muß mit dessen Aussage allein, mag sie gut, schlecht oder indifferent sein, stehen oder fallen; und wenn diese auch späterhin von Hunderten anderer Personen der Reihe nach angeführt wird, so bleibt sie doch soweit davon entfernt hiedurch an Stärke zu gewinnen, daß sie vielmehr nur immer schwächer wird. Leidenschaft, Interesse, Unaufmerksamkeit, Mißverständnis seiner Meinung und tausend seltsame Gründe oder Launen, die den Geist der Menschen bewegen (ohne daß sie sich entdecken ließen), können den einen veranlassen, die Worte oder die Meinung eines anderen unrichtig wiederzugeben. Wer auch nur im geringsten Maße die Anführungen von Schriftstellern geprüft hat, kann nicht im Zweifel darüber sein, wie wenig Zutrauen die Citate da verdienen, wo die Originale fehlen, und folglich wie viel weniger noch man sich auf Citate von Citaten verlassen darf. So viel ist gewiß, daß, was zu einer Zeit auf schwache Gründe hin versichert ward, niemals hernach in der Zukunft dadurch glaubwürdiger werden kann, daß es oft wiederholt wird. Sondern, je weiter es sich von dem Ursprung entfernt, um so unkräftiger wird es, und es hat immer in dem Munde oder der Schrift dessen, der es zuletzt gebrauchte, weniger Kraft als in dessen, von dem jener es empfing.

§ 12. Bei sinnlich nicht wahrnehmbaren Dingen ist die Analogie die Hauptregel der Wahrscheinlichkeit. – Die bisher erwähnten Wahrscheinlichkeiten sind nur solche, die Thatsächliches und Dinge von der Art betreffen, daß sie Gegenstände der Beobachtung und des Zeugnisses sein können. Es bleibt uns noch die andere Klasse übrig, worüber die Menschen Meinungen mit verschiedenen Graden des Beifalls haben, obgleich die Dinge derart sind, daß sie nicht Gegenstand des Zeugnisses werden können, weil sie nicht in den Bereich unserer Sinne fallen. Dahin gehören: 1. Die Existenz, Natur und Wirksamkeit endlicher immaterieller Wesen außer uns wie Geister, Engel, Teufel etc. oder die Existenz materieller Dinge, die entweder wegen ihrer eigenen Kleinheit oder ihrer Entfernung von uns für unsere Sinne nicht bemerkbar sind, wie z. B., ob es Pflanzen, Tiere und denkende Bewohner auf den Planeten und anderen Wohnsitzen des weiten Weltalls giebt? 2. Alles, was die Art und Weise der Wirksamkeit in den meisten Teilen der Naturerzeugnisse anbetrifft, wobei wir zwar die sinnlichen Erfolge sehen, aber deren Ursachen uns unbekannt bleiben und wir die Art und Weise, wie sie zustande kommen, nicht wahrnehmen. Wir sehen, daß Tiere erzeugt werden, sich ernähren und bewegen, daß der Magnetstein Eisen anzieht, daß die Teile einer Kerze nach und nach schmelzend sich in eine Flamme verwandeln, die uns Licht und Wärme giebt. Diese und ähnliche Erfolge sehen und erkennen wir, aber die wirksamen Ursachen und die Art und Weise, wie sie zustande kommen, können wir nur erraten oder als wahrscheinlich vermuten. Denn, da diese und ähnliche Dinge nicht in den Forschungsbereich der menschlichen Sinne kommen, so können sie nicht mit diesen untersucht noch auch von irgend jemand bezeugt werden, und deshalb nur insofern für mehr oder weniger wahrscheinlich gelten, als sie mit den in unserem Geiste feststehenden Wahrheiten mehr oder weniger übereinstimmen, und zu anderen Teilen unseres Wissens und unserer Beobachtungen ein angemessenes Verhältnis haben. Die Analogie ist in diesen Sachen unsere einzige Hilfe, und aus ihr allein ziehen wir alle unsere Wahrscheinlichkeitsgründe. Da wir wahrnehmen, daß bloß durch das heftige Reiben zweier Körper aneinander Hitze und oft sogar Feuer entsteht, so haben wir Grund zu der Annahme, daß das, was wir Hitze und Feuer nennen, in einer heftigen Bewegung der unsichtbaren kleinsten Teile des brennenden Stoffes bestehe; da wir gleichfalls wahrnehmen, daß die verschiedenen Lichtbrechungen durchsichtiger Körper in unseren Augen die verschiedenen Erscheinungen mehrfacher Farben hervorbringen, wie auch ein verschiedenes Anordnen und Zurechtlegen der Oberflächenteile mancher Körper, wie des Sammets, der gewässerten Seide etc., dasselbe bewirkt, so halten wir es für wahrscheinlich, daß die Farbe und der Glanz von Körpern an ihnen selbst nichts ist als die verschiedene Anordnung und Lichtbrechung ihrer kleinsten und unsichtbaren Teile. Weil wir in allen der menschlichen Beobachtung zugänglichen Teilen der Schöpfung finden, daß darin ein stufenweiser Zusammenhang des einen mit dem anderen besteht ohne große oder deutliche Lücken zwischen ihnen in all der großen Mannigfaltigkeit der für uns in der Welt sichtbaren Dinge, die so enge miteinander verkettet sind, daß es nicht leicht ist, die Grenze zwischen den verschiedenen Ordnungen der Wesen zu entdecken – deshalb haben wir Ursache, überzeugt davon zu sein, daß die Dinge in ebenso sanfter Abstufung einer gradweise zunehmenden Vollkommenheit nach oben emporsteigen. Es ist schwer zu sagen, wo Empfindung und Vernunft anfangen, und wo Empfindungslosigkeit und Unvernunft aufhören; und wer ist scharfsichtig genug, um genau zu bestimmen, welche die niedrigste Art lebender Wesen und welche die höchste der leblosen sei? Soweit unsere Beobachtung reicht, schwinden und wachsen die Dinge wie die Masse in einem regelmäßigen Kegel, worin zwar zwischen den Größen zweier Durchmesser in beträchtlicherer Entfernung eine offenbare Ungleichheit besteht, die Verschiedenheit des oberen von dem unteren aber, wenn sie einander berühren, kaum erkennbar ist. Zwischen manchen Menschen und manchen Tieren ist der Unterschied außerordentlich groß; wenn wir aber den Verstand und die Fähigkeiten einiger Menschen mit denen einiger Tiere vergleichen, so finden wir einen so geringen Unterschied, daß sich kaum behaupten läßt, die des Menschen seien heller oder reichten weiter. Wenn wir, sage ich, in den Teilen der Schöpfung, die unter dem Menschen liegen, eine solche gradweise und allmähliche Abstufung wahrnehmen, so kann die Regel der Analogie es wahrscheinlich machen, daß es sich ebenso mit den Dingen über uns und unserer Beobachtung verhalte, und daß es viele Ordnungen intelligenter Wesen gebe, die uns in vielen Abstufungen an Vollkommenheit übertreffen, indem sie mit kleinen Schritten und Unterschieden, von denen jeder nicht weit von dem nächsten absteht, zu der unendlichen Vollkommenheit des Schöpfers emporsteigen. Diese Art von Wahrscheinlichkeit, die zu verständigen Experimenten die beste Anleitung giebt und zur Aufstellung von Hypothesen führt, hat auch ihren Nutzen und Einfluß, und vorsichtige Folgerungen nach Analogie leiten uns oft zur Entdeckung von Wahrheiten und nützlichen Erzeugnissen, die sonst verborgen geblieben wären.

§ 13. Ein Fall, wo entgegengesetzte Erfahrung das Zeugnis nicht abschwächt. – Obgleich die gemeine Erfahrung und der regelmäßige Verlauf der Dinge mit Recht einen großen Einfluß auf den Sinn der Menschen haben und sie bestimmen, allem, was ihrem Glauben dargeboten wird, entweder Beifall zu schenken oder ihn zu verweigern, so giebt es doch einen Fall, worin die Seltsamkeit der Thatsache die Annahme eines redlichen für sie abgelegten Zeugnisses nicht verhindert. Denn wo solche übernatürliche Ereignisse den Zwecken dessen angemessen sind, der die Macht hat, den Lauf der Natur zu ändern, da mögen sie unter solchen Umständen um so besser dazu dienen Glauben hervorzurufen, je mehr sie über die gewöhnliche Beobachtung hinausgehen oder ihr zuwider laufen. Dies ist der eigentümliche Fall der Wunder, die, wenn sie gut bezeugt sind, nicht nur selbst Glauben finden, sondern ihn auch anderen Wahrheiten verschaffen, die einer solchen Bekräftigung bedürfen.

§ 14. Das bloße Zeugnis der Offenbarung giebt die höchste Gewißheit. – Außer den bisher erwähnten giebt es noch eine Art von Sätzen, die auf ein bloßes Zeugnis hin den höchsten Grad unseres Beifalls erfordern, gleichviel, ob die bezeugte Sache mit der gemeinen Erfahrung und dem gewöhnlichen Lauf der Dinge übereinstimmt oder nicht. Der Grund hiefür ist, daß das Zeugnis von jemand herrührt, der weder täuschen noch getäuscht werden kann, nämlich von Gott selbst. Dies bringt eine Überzeugung hervor, die über jeden Zweifel hinaus, und einen Beweis, der über jeden Einwand erhaben ist. Der eigentümliche Name dafür ist »Offenbarung« und unser Beifall heißt »Glaube«, der unsern Geist so unbedingt beherrscht und jedes Schwanken so vollkommen ausschließt wie unser Wissen selbst; und wir könnten ebensogut an unserm eignen Dasein zweifeln wie daran, ob eine göttliche Offenbarung wahr sei. So daß der Glaube ein feststehendes und sicheres Prinzip des Beifalls und der Überzeugung ist und auf keine Weise für Zweifel oder Bedenken Raum läßt. Wir müssen nur dessen gewiß sein, daß etwas eine göttliche Offenbarung sei, und daß wir sie richtig verstehen, sonst setzen wir uns der ganzen Extravaganz der Schwärmerei Vgl. Kapitel XIX. und allen von falschen Prinzipien herrührenden Irrtümern aus, wenn wir Glauben und Zuversicht aus etwas setzen, was keine göttliche Offenbarung ist. Und deshalb kann in diesen Fällen unser Beifall vernünftigerweise nicht höher sein als der Augenschein dafür, daß etwas eine Offenbarung sei und dies oder jenes der Sinn der Ausdrücke, worin sie überliefert worden. Wenn der Beweis dafür, daß etwas eine Offenbarung sei oder dies und jenes ihr wahrer Sinn, sich nur auf Wahrscheinlichkeitsgründe stützt, so kann unser Beifall nicht höher steigen als bis zu einem Zutrauen oder Mißtrauen, wie sie aus der mehr oder weniger einleuchtenden Wahrscheinlichkeit der Beweisgründe sich ergeben. Über den Glauben jedoch und den Vorrang, den er vor andern Gründen der Überzeugung haben sollte, werde ich weiterhin ausführlicher reden, wo ich von ihm in der ihm gewöhnlich angewiesenen Stellung als Gegensatz der Vernunft handeln werde, obgleich er in Wahrheit nichts anderes ist als ein auf die höchste Vernunft begründeter Beifall.


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