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§ 1. Das Wissen ist nicht aus Axiomen hervorgegangen. – Da unter den Gelehrten die Ansicht allgemeine Geltung gewonnen hatte, daß Axiome die Grundlage alles Wissens seien, und daß von den Wissenschaften eine jede auf gewisse praecognita gebaut sei, wovon der Verstand ausgehen müsse, und die ihm bei seinen Untersuchungen über die zu einer bestimmten Wissenschaft gehörigen Dinge als Leitfaden dienen müßten: so ist es der allgemein betretene Weg der Schulen gewesen, zu Anfang einen oder mehre allgemeine Sätze aufzustellen als die Grundlagen, woraus das von einem bestimmten Gegenstande mögliche Wissen zu bauen sei. Diese solchergestalt als Grundlagen für irgend eine Wissenschaft aufgestellten Lehren wurden Prinzipien genannt, weil sie die Anfänge seien, von denen wir ausgehen müßten, und über die hinaus wir bei unseren Untersuchungen nicht weiter rückwärts zu blicken brauchten; wie wir schon früher bemerkt haben.
§ 2. (Die Veranlassung zu dieser Ansicht.) – Eine Sache, die vielleicht zu dieser Art des Verfahrens in anderen Wissenschaften Anlaß geben mochte, war, wie ich glaube, der gute Erfolg, den sie in der Mathematik zu haben schien; da man sah, daß die Menschen in dieser eine große Sicherheit des Wissens erlangten, so ward sie vorzugsweise Μαδήματα und Μάδησις, Gelehrsamkeit oder gelernte völlig erkannte Dinge genannt, weil ihr unter allen anderen die größte Gewißheit, Klarheit und Augenscheinlichkeit eigen sei.
§ 3. Sondern aus der Vergleichung klarer und deutlicher Ideen. – Wenn aber jemand die Sache näher überlegen will, so wird er, meine ich, finden, daß der große Fortschritt und die Gewißheit sachlicher Erkenntnis, wozu die Menschen in dieser Wissenschaft gelangten, nicht dem Einfluß jener Prinzipien zu verdanken waren, noch aus einem besonderen Gewinne herrührten, den sie aus zwei oder drei zu Anfang aufgestellten allgemeinen Axiomen zogen, sondern von den klaren, deutlichen, vollständigen Ideen, womit ihre Gedanken es zu thun hatten, und davon, daß die Verhältnisse der Gleichheit und des Übermaßes zwischen einigen derselben klar genug waren, um sie intuitiv zu erkennen und damit ein Hilfsmittel zu ihrer Entdeckung auch zwischen anderen zu gewinnen, und zwar ohne den Beistand jener Axiome. Denn ich frage: kann ein junger Bursche nur kraft des Axioms, daß das Ganze größer ist als ein Teil, einsehen, daß sein ganzer Körper größer ist als sein kleiner Finger, und sich hievon nicht überzeugen, bevor er jenes Axiom gelernt hat? Oder kann eine Bauerndirne, wenn sie von jemandem, der ihr drei Schillinge schuldig war, einen empfangen hat, und gleichfalls einen von jemand anders, der ihr auch drei schuldig war, nicht wissen, daß die zu jeder von ihren Händen übrigbleibenden Schulden gleich sind? Kann sie das nicht wissen, sage ich, ohne die Überzeugung davon aus dem Axiom zu schöpfen, daß, wenn man Gleiches von Gleichem abzieht, die Reste gleich sind, ein Axiom, wovon sie vielleicht nie etwas gehört oder einen Gedanken gehabt hat? Ich bitte jedermann nach dem, was anderswo gesagt worden, zu erwägen, was die meisten Leute früher und klarer kennen lernen, das einzelne Beispiel oder das allgemeine Gesetz, und welches von beiden dem andern zum Dasein und zur Entstehung verhilft. Diese allgemeinen Gesetze bestehen nur in einer Vergleichung unserer mehr allgemeinen und abstrakten Ideen, die das Werk des Verstandes sind, der sie bildet und benennt, um seine Schlüsse leicht und schnell zustande zu bringen und seine wechselnden und vielfachen Beobachtungen in umfassende Ausdrücke und kurze Regeln zusammenziehen zu können. Allein das Wissen nahm im Geiste seinen Anfang mit Einzelheiten und ward auf diese begründet, obwohl hernach vielleicht hierauf nicht geachtet ward, weil es für den Geist (der stets nach Erweiterung seines Wissens strebt) natürlich ist, mit größter Aufmerksamkeit die allgemeinen Begriffe zu bewahren und von ihnen den geeigneten Gebrauch zu machen, der darin besteht, das Gedächtnis von der beschwerlichen Bürde der Einzelheiten zu entlasten. Denn ich bitte zu erwägen, wie viel gewisser es für ein Kind oder sonst jemand ist, daß sein Körper, der kleine Finger mit allem anderen, größer sei als sein kleiner Finger allein, nachdem man dem Körper den Namen »das Ganze« und dem kleinen Finger den Namen »der Teil« gegeben hat, als es ihm vorher hätte sein können? Oder welches neue Wissen in betreff seines Körpers diese beiden relativen Ausdrücke ihm geben können, das es ohne sie nicht haben könnte? Könnte es nicht wissen, daß sein Körper größer sei als sein kleiner Finger, wenn seine Sprache noch so unvollkommen wäre, daß sie keine solche relativen Ausdrücke wie »das Ganze« und »ein Teil« enthielte? Ferner frage ich: wenn es diese Namen erworben hat, inwiefern ist es dann für das Kind gewisser, daß sein Körper ein Ganzes und sein kleiner Finger ein Teil sei, als es ihm, bevor es diese Ausdrücke erlernte, gewiß war oder sein konnte, daß sein Körper größer sei als sein kleiner Finger? Es wäre für niemand unvernünftiger, zu bezweifeln oder zu leugnen, daß sein kleiner Finger ein Teil seines Körpers, als daß er weniger als sein Körper sei, und wer zweifeln kann, ob er weniger sei, der wird sicherlich auch zweifeln, ob er ein Teil sei; so daß das Axiom: »das Ganze ist größer als ein Teil,« zu dem Beweise, daß der kleine Finger weniger als der Körper sei, nur dann gebraucht werden kann, wenn es nutzlos ist, indem es dazu dienen soll, jemanden von einer Wahrheit zu überzeugen, die ihm schon bekannt ist. Denn wer nicht gewiß weiß, daß irgend ein Stoffstück mit einem anderen Stoffstücke verbunden größer ist als jedes dieser Stücke allein genommen, der wird niemals imstande sein, dies mit Hilfe der beiden relativen Ausdrücke »das Ganze« und »ein Teil« zu erkennen, möge man daraus ein Axiom bilden, wie man wolle.
§ 4. Es ist gefährlich, auf erborgte Prinzipien zu bauen. – Mag es sich aber in der Mathematik damit verhalten, wie es will: ob es klarer ist, daß, wenn man von einer zweizölligen schwarzen Linie einen Zoll, und von einer zweizölligen roten Linie einen Zoll abnimmt, die übrigbleibenden Teile beider Linien gleich lang sind, oder daß, wenn man Gleiches von Gleichem abzieht, die Reste gleich sind; welches von diesen beiden, sage ich, klarer und früher bekannt ist, das möge jeder selbst entscheiden, da es für meine gegenwärtige Aufgabe unwesentlich ist. Was mir hier obliegt, das ist zu untersuchen, ob es, falls es der geradeste Weg zur Erkenntnis wäre, mit allgemeinen Axiomen anzufangen und auf ihnen weiter zu bauen, gleichwohl eine sichere Methode sein würde, die Prinzipien, die in irgend einer anderen Wissenschaft festgestellt sind, als unbestreitbare Wahrheiten aufzufassen, sie so ohne Prüfung anzunehmen und sich an sie zu halten, ohne einen Zweifel an ihnen zu gestatten, weil die Mathematiker so glücklich oder so redlich gewesen sind, nur selbstverständliche und unleugbare zu gebrauchen. Wenn sie das wäre, dann weiß ich nicht, was nicht alles in der Moral als Wahrheit gelten, und in der Naturwissenschaft behauptet und bewiesen werden könnte.
Wenn der Grundsatz einiger Philosophen, daß alles Materie sei und es sonst nichts gebe, als gewiß und zweifellos angenommen würde, so ließe sich aus den Schriften derer, die ihn in unsern Tagen wieder belebt haben, leicht ersehen, zu welchen Konsequenzen uns das führen würde. Falls jemand mit Polemo die Welt, oder mit den Stoikern den Äther oder die Sonne, oder mit Anaximenes die Luft als Gott ansähe, was für eine Theologie, eine Religion und ein Kultus müßten sich notwendig daraus ergeben? Nichts kann so gefährlich sein wie Prinzipien, die so ohne Untersuchung oder Prüfung aufgegriffen werden, namentlich, wenn sie die Moral betreffen, also auf das Leben der Menschen von Einfluß sind, und allen ihren Handlungen die Richtung geben. Wer würde nicht mit Recht eine andere Lebensweise bei Aristipp erwarten, der das Glück in die sinnliche Lust setzte, wie bei Antisthenes, der die Tugend für genügend zum Glück erklärte? Und wer mit Plato die Seligkeit in die Erkenntnis Gottes setzt, dessen Gedanken werden sich zu anderen Betrachtungen erheben als die solcher Personen, die nicht über diesen Erdfleck und die vergänglichen Dinge, die aus ihm zu haben sind, hinausblicken. Wer es mit Archelaus als ein Prinzip aufstellt, daß die Begriffe von recht und unrecht, ehrenhaft und unehrenhaft nur durch Gesetze bestimmt werden, und es nicht von Natur sind, der wird für moralische Rechtschaffenheit und Verworfenheit andere Maßstäbe haben als diejenigen, die es als ausgemacht ansehen, daß wir Obliegenheiten haben, die allen menschlichen Satzungen voraufgehen.
§ 5. Nicht das ist der sichere Weg zur Wahrheit. – Wenn deshalb die für Prinzipien geltenden Sätze nicht gewiß sind (und wir müssen ein Mittel haben, das zu erkennen, damit wir imstande seien, sie von zweifelhaften zu unterscheiden), sondern nur durch unsere blinde Zustimmung für uns dazu gemacht werden, so sind wir der Irreleitung durch sie ausgesetzt, und anstatt zur Wahrheit geführt zu werden, werden wir durch Prinzipien nur in Mißgriffen und Irrtümern bestärkt.
§ 6. Sondern die Vergleichung klarer vollständiger Ideen unter feststehenden Namen. – Weil aber die Erkenntnis der Gewißheit von Prinzipien so gut wie die aller anderen Wahrheiten allein auf unserer Wahrnehmung der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung unserer Ideen beruht, so ist der rechte Weg zur Vervollkommnung unseres Wissens meiner Überzeugung nach nicht der, daß man blindlings und mit unbedingtem Glauben Prinzipien annimmt und verschlingt, sondern, wie ich meine, der, daß man klare, deutliche und vollständige Ideen, soweit solche zu haben sind, erwirbt und in seinem Bewußtsein befestigt, und ihnen geeignete unveränderliche Namen beilegt. Und so werden wir vielleicht ohne irgend welche sonstige Prinzipien bloß dadurch, daß wir solche Ideen betrachten und, indem wir sie miteinander vergleichen, ihre Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung und ihre verschiedenen Beziehungen und Verhältnisse auffinden, mehr wahre und klare Erkenntnis unter der Leitung dieser einen Regel gewinnen, als wenn wir Prinzipien aufgreifen und dadurch unser Denken der Verfügung anderer Leute unterstellen.
§ 7. Die wahre Methode, das Wissen zu fördern, ist durch Betrachtung unserer abstrakten Ideen. – Wir müssen deshalb, wenn wir den Ratschlägen der Vernunft folgen wollen, unsere Methoden der Untersuchung der Natur der Ideen, die wir prüfen, und der Wahrheit, wonach wir forschen, anpassen. Allgemeine und gewisse Wahrheiten haben ihre Grundlagen allein in den Verhältnissen und Beziehungen abstrakter Ideen. Eine scharfsinnige und methodische Anwendung unseres Denkens, um diese Beziehungen aufzufinden, ist der einzige Weg, um alles zu entdecken, was über sie mit Wahrheit und Gewißheit in allgemeine Sätze gebracht werden kann. Mit welchen Schritten wir in solchen vorwärts gehen müssen, das können wir in den Schulen der Mathematiker lernen, die von sehr einfachen und leichten Anfängen aus in sanften Abstufungen durch eine fortgesetzte Kette von Schlüssen zu der Entdeckung und dem Beweise von Wahrheiten emporsteigen, die beim ersten Anblick über die menschliche Fassungskraft hinaus zu liegen scheinen. Die Kunst, Beweismittel aufzufinden und die bewundernswürdigen Methoden, die sie erfunden haben, um die vermittelnden Ideen, wodurch die Gleichheit oder Ungleichheit von aufeinander unanwendbaren Quantitäten in demonstrativer Weise gezeigt wird, auszusondern und in Ordnung zu bringen, sind es, die sie soweit geführt, und so wunderbare und unerwartete Entdeckungen veranlaßt haben; ob jedoch nicht etwas dem Ähnliches mit der Zeit bezüglich anderer Ideen so gut wie der der Größe erfunden werden mag, will ich nicht entscheiden. So viel glaube ich behaupten zu dürfen, daß, wenn andere Ideen, die sowohl die reale wie die nominale Wesenheit ihrer Arten bilden, nach der bei den Mathematikern üblichen Methode verfolgt würden, sie unsere Gedanken weiter und mit größerer Augenscheinlichkeit und Klarheit fördern würden, als wir möglicherweise geneigt sind uns vorzustellen.
§ 8. Auch die Moral könnte dadurch klarer gemacht werden. – Dies gab mir die Zuversicht, oben (Kapitel III, §§ 18-20) die von mir gehegte Vermutung zu äußern, daß die Moral sich ebensogut müsse beweisen lassen wie die mathematischen Sätze. Denn da die Ideen, womit die Ethik es zu thun hat, sämtlich reale Wesenheiten sind, und solche, die meiner Ansicht nach in einer entdeckbaren Verbindung und Übereinstimmung miteinander stehen, so werden wir, soweit wir ihre Verhältnisse und Beziehungen auffinden können, ebensoweit zum Besitz gewisser sachlicher und allgemeiner Wahrheiten gelangen: und ich zweifle nicht, daß bei Anwendung einer richtigen Methode ein großer Teil der Moral sich mit solcher Klarheit entwickeln ließe, daß für einen nachdenkenden Menschen nicht mehr Grund zum Zweifel übrigbleiben würde, als er der Wahrheit mathematischer ihm demonstrierter Sätze gegenüber haben könnte.
§ 9. Unser Wissen von den Körpern läßt sich aber nur durch Erfahrung vervollkommnen. – Bei unserm Streben nach der Erkenntnis von Substanzen nötigt uns unser Mangel an Ideen, die sich für eine solche Verfahrungsart eigneten, zu einer ganz verschiedenen Methode. Wir kommen hier nicht wie bei der anderen (wo unsere abstrakten Ideen sowohl reale wie nominale Wesenheiten sind) durch die Betrachtung unserer Ideen und die Erwägung ihrer Verhältnisse und Beziehungen weiter; die helfen uns sehr wenig aus den an einem anderen Orte ausführlich dargelegten Gründen, wodurch es, denke ich, einleuchtend geworden ist, daß Substanzen nur sehr wenig Stoff für allgemeine Erkenntnisse darbieten, und die bloße Betrachtung ihrer abstrakten Ideen uns bei dem Forschen nach Wahrheit und Gewißheit nur sehr wenig weiter bringen wird. Was müssen wir denn thun, um unser Wissen von substantiellen Dingen zu verbessern? Hier müssen wir einen ganz entgegengesetzten Weg einschlagen; der Mangel von Ideen ihrer realen Wesenheiten verweist uns von unsern eigenen Gedanken auf die Dinge selbst hin, wie sie existieren. Die Erfahrung muß mich hier lehren, was ich von der Vernunft nicht lernen kann, und durch den Versuch allein kann ich mit Sicherheit erkennen, welche anderen Eigenschaften mit denen meiner komplexen Idee zusammen bestehen; z. B. ob der gelbe, schwere, schmelzbare Körper, den ich Gold nenne, dehnbar sei oder nicht; diese Erfahrung aber (wie immer sie auch bei dem einzelnen von mir untersuchten Körper ausfallen möge) giebt mir keine Gewißheit, daß es sich mit allen oder irgend welchen anderen gelben, schweren, schmelzbaren Körpern ebenso wie mit dem von mir untersuchten verhalte, weil sie sich nicht auf die eine oder die andere Weise aus meiner komplexen Idee ergiebt; die Notwendigkeit oder Unvereinbarkeit der Dehnbarkeit hat keinen sichtbaren Zusammenhang mit der Vereinigung von solch einer Farbe, Schwere und Schmelzbarkeit in irgend welchem Körper. Was ich hier von der nominalen Wesenheit des Goldes unter der Voraussetzung gesagt habe, daß sie in einem Körper von solch einer bestimmten Farbe, Schwere und Schmelzbarkeit bestehe, bleibt gültig, wenn dazu die Dehnbarkeit, Feuerbeständigkeit und Lösbarkeit in aqua regia hinzugefügt werden. Unsere Folgerungen aus diesen Ideen werden uns in der Entdeckung anderer Eigenschaften an den Stoffmassen, worin sie alle gefunden werden, nur wenig weiterführen; denn, da die andern Eigenschaften solcher Körper nicht von diesen, sondern von der unbekannten realen Wesenheit abhängen, worauf auch diese beruhen, so können wir nicht mit Hilfe dieser die übrigen entdecken; wir können nicht weiter gelangen, als wohin die einfachen Ideen unserer nominalen Wesenheit uns führen werden, und das ist wenig über sie selbst hinaus, so daß sie uns nur sehr spärlich zu irgend welchen gewissen allgemeinen und nützlichen Wahrheiten verhelfen werden. Denn, wenn ich durch den Versuch gefunden habe, daß das einzelne Stück (und alle anderen von derselben Farbe, Schwere und Schmelzbarkeit, die ich jemals dem Versuch unterworfen habe) dehnbar sei, so macht nun vielleicht auch diese Eigenschaft einen Teil meiner komplexen Idee, einen Teil meiner nominalen Wesenheit des Goldes aus; obgleich ich aber dadurch meine komplexe Idee, der ich den Namen Gold gebe, aus mehr einfachen Ideen als vorher bestehen lasse, so verhilft mir dies, weil die reale Wesenheit irgend einer Körperart darin nicht enthalten ist, doch nicht zu einem sicheren Wissen (ich sage Wissen; zu einer Vermutung kann es vielleicht führen) von den übrigen Eigenschaften jenes Körpers, sofern sie nicht einen sichtbaren Zusammenhang mit einigen oder allen den einfachen Ideen haben, die meine nominale Wesenheit ausmachen. Ich kann z. B. aus dieser komplexen Idee nicht mit Gewißheit erkennen, ob Gold feuerbeständig sei oder nicht, weil sich, wie vorhin, keine notwendige Verbindung oder Unvereinbarkeit zwischen der komplexen Idee eines gelben, schweren, schmelzbaren, dehnbaren Körpers – zwischen diesen, sage ich, und der Feuerbeständigkeit entdecken läßt, so daß ich sicher wissen könnte, daß in jedem Körper, worin diese sich fänden, ebenda auch die Feuerbeständigkeit gewiß vorhanden sei. Auch hier wieder muß ich, um Gewißheit zu erlangen, mich an die Erfahrung wenden; soweit, wie diese reicht, kann ich ein sicheres Wissen erlangen, aber nicht weiter.
§ 10. Das kann uns Nutzen bringen, aber keine Wissenschaft. – Ich leugne nicht, daß jemand, der an wohlbedachte und regelmäßige Versuche gewöhnt ist, in die Natur der Körper einen tieferen Einblick erlangen und über ihre noch unbekannten Eigenschaften richtigere Vermutungen hegen kann, als jemand, dem solche Versuche fremd sind; gleichwohl ist das, wie gesagt, nur ein Dafürhalten und Meinen, nicht Erkenntnis und Gewißheit. Diese Methode, unsere Kenntnis der Substanzen nur durch Beobachtung und Erfahrung zu gewinnen und zu verbessern – und das ist alles, wozu unsere schwachen Fähigkeiten in diesem Zustand von Mittelmäßigkeit, worin wir uns in dieser Welt befinden, gelangen können – läßt mich vermuten, daß es nicht möglich ist, aus der Naturkunde eine Wissenschaft zu machen. Wir sind, glaube ich, nur imstande, sehr wenig allgemeines Wissen von den Arten der Körper und ihren verschiedenen Eigenschaften zu erwerben. Versuche und Beobachtungen von Thatsachen mögen wir anstellen, woraus wir einen Gewinn an Behagen und Gesundheit ziehen, und dadurch unsern Vorrat nützlicher Dinge für dieses Leben vermehren können; hierüber hinaus aber, fürchte ich, reichen unsere Anlagen nicht, und können unsere Fähigkeiten, wie ich glaube, nicht fortschreiten.
§ 11. Wir sind für moralische Erkenntnis und natürliche Fortschritte befähigt. – Dies legt den Schluß nahe, daß es uns – da unsere Fähigkeiten in den innern Bau und die realen Wesenheiten der Körper nicht einzudringen vermögen, dagegen das Dasein Gottes und die Kenntnis unserer selbst uns deutlich genug offenbaren, um uns zu einer vollen und klaren Einsicht in unsere Pflicht und unser Hauptinteresse zu führen – als vernünftigen Wesen geziemt, unsere Fähigkeiten dazu anzuwenden, wozu sie am besten passen, und der Leitung der Natur dort zu folgen, wo sie uns den Weg anzudeuten scheint. Denn es ist vernünftig, zu schließen, daß unsere eigentliche Aufgabe in den Untersuchungen und in der Art von Erkenntnis liegt, die unseren natürlichen Fähigkeiten am angemessensten sind und unser Hauptinteresse betreffen, d. h. die Beschaffenheit unseres ewigen Zustandes. Daraus glaube ich folgern zu dürfen, daß die Moral die eigentliche Wissenschaft und Beschäftigung der Menschen im allgemeinen ist (die sowohl ein Interesse daran wie die Befähigung dazu haben, ihr summum bonum aufzufinden), wogegen die verschiedenen Künste, die es mit den verschiedenen Teilen der Natur zu thun haben, das Los und das besondere Talent einzelner Menschen sind zum gemeinsamen Nutzen für das menschliche Leben und für ihre eigene individuelle Subsistenz in dieser Welt. Wie folgenreich die Entdeckung eines natürlichen Körpers und seiner Eigenschaften für das menschliche Leben sein kann, dafür liefert der ganze große Kontinent von Amerika ein überzeugendes Beispiel; die Unkenntnis nützlicher Künste und der Mangel des größten Teils der Bequemlichkeiten des Lebens bei den Bewohnern eines Landes, was alle Arten natürlicher Güter im Überfluß darbot, läßt sich meiner Meinung nach ihrer Unkenntnis dessen zuschreiben, was in einem sehr gewöhnlichen gering geschätzten Steine enthalten war; ich meine in dem Eisenerz. Und eine wie große Meinung wir auch von unsern Anlagen oder Fortschritten in diesem Weltteil haben mögen, wo Wissen und Reichtum miteinander zu wetteifern scheinen, so wird es doch, glaube ich, für jeden, der ernstlich darüber nachdenken will, als zweifellos erscheinen, daß, wenn unter uns der Gebrauch des Eisens verloren ginge, wir unausbleiblich in wenigen Menschenaltern auf die Armut und Unwissenheit der alten wilden Amerikaner zurückgeführt sein würden, deren natürliche Begabung und Ausstattung in keiner Weise hinter denen der blühendsten und gebildetsten Nationen zurückstehen. So daß der, welcher zuerst den Gebrauch jenes geringgeschätzten Minerals bekannt machte, mit Recht als der Vater der Künste und der Urheber des Reichtums bezeichnet werden kann.
§ 12. Wir müssen uns jedoch vor Hypothesen und falschen Prinzipien hüten. – Man möge jedoch nicht deshalb von mir denken, daß ich das Studium der Natur geringschätzte oder davon abraten wollte. Ich räume gerne ein, daß die Betrachtung seiner Werke uns Gelegenheit giebt, deren Schöpfer zu bewundern, zu verehren und zu preisen, und daß sie bei richtiger Leitung für die Menschen nützlicher sein kann, als die Denkmäler exemplarischer Wohlthätigkeit, die von den Begründern von Hospitälern und Armenhäusern mit so großen Unkosten errichtet worden sind. Wer zuerst die Buchdruckerkunst erfand, den Gebrauch des Kompasses entdeckte, oder die Kraft und den rechten Gebrauch der Cinchona bekannt machte, der hat mehr für die Ausbreitung des Wissens, für die Anschaffung und Vermehrung nützlicher Waren gethan und mehr Menschen vor dem Tode bewahrt als die, welche Kollegien, Arbeitshäuser und Hospitäler bauten. Was ich sagen wollte, ist nur, daß wir uns nicht zu vorschnell der Meinung oder Erwartung des Wissens dort hingeben sollten, wo es nicht zu haben ist, oder auf Wegen, die nicht zu ihm führen werden; daß wir nicht zweifelhafte Systeme für vollendete Wissenschaften und nicht unverständliche Gedanken für wissenschaftliche Beweisführungen halten sollten. Bei der Erkenntnis der Körper müssen wir mit der Ährenlese aus einzelnen Versuchen, die wir gewinnen können, zufrieden sein, da wir nicht vermittelst einer Entdeckung ihrer realen Wesenheiten ganze Garben auf einmal ergreifen, und die Natur und die Eigenschaften ganzer Arten zusammen bündelweise fassen können. Wo unsere Forschung sich auf das Zusammenbestehen oder das Widerstreben dagegen bezieht, die wir nicht durch Betrachtung unserer Ideen entdecken können, da müssen uns Erfahrung, Beobachtung und Naturgeschichte, durch unsere Sinne und stückweise, Einsicht in die körperlichen Substanzen geben. Die Erkenntnis der Körper müssen wir durch unsere Sinne gewinnen, indem wir diese vorsichtig anwenden, um ihre Eigenschaften und Einwirkungen aufeinander zu bemerken; und was wir von abgesonderten D. h. körperlosen. Geistern (spirits) in dieser Welt zu erfahren hoffen, das müssen wir, denke ich, lediglich von der Offenbarung erwarten. Wer erwägt, wie wenig allgemeine Axiome, erborgte Prinzipien und beliebig aufgestellte Hypothesen das wahre Wissen gefördert haben, oder behilflich gewesen sind, den Forschungen vernünftiger Leute nach sachlicher Belehrung Genüge zu leisten; wie wenig, sage ich, das Ausgehen von dieser Seite her seit vielen Menschenaltern den Fortschritt zur Erkenntnis in der Naturwissenschaft gefördert hat, der wird denken, daß wir Ursache haben, denen dankbar zu sein, die in der jüngsten Vergangenheit einen anderen Kurs eingeschlagen, und für uns zwar nicht einen bequemeren Weg zu gelehrter Unwissenheit, wohl aber einen sicherern Weg zu nützlichen Kenntnissen gangbar gemacht haben.
§ 13. Der richtige Gebrauch von Hypothesen. – Nicht, daß wir nicht zur Erklärung irgend welcher Naturerscheinungen von dieser oder jener wahrscheinlichen Hypothese Gebrauch machen dürften; gut erdachte Hypothesen sind wenigstens große Hilfsmittel für das Gedächtnis und leiten uns oft zu neuen Entdeckungen. Aber ich meine, daß wir keine zu hastig aufgreifen sollen (wozu der Verstand, der immer zu den Ursachen der Dinge durchdringen, und Prinzipien haben möchte, wobei er sich beruhigen könnte, sehr geneigt ist), bis wir die Einzelheiten sehr genau untersucht, und den Gegenstand, den wir durch unsere Hypothesen erklären wollen, verschiedenen Versuchen unterworfen haben, um zu sehen, ob sie überall Stich halte, ob unsere Prinzipien uns ganz hindurch führen und nicht mit einer Naturerscheinung ebenso unvereinbar sind, wie sie zur Erklärung einer anderen geeignet erscheinen. So ist z. B. die zur Erklärung des prismatischen Farbenbildes aufgestellte Hypothese, daß das weiße Licht aus verschieden brechbaren und farbigen Strahlen zusammengesetzt sei, unvereinbar mit der Thatsache, daß sich nach einmaliger Lichtbrechung oder nach zweimaliger Brechung in parallelen Flächen niemals Farben zeigen; und die auf diese Hypothese zur Erklärung gewisser anderer Farbenerscheinungen weiter gebaute Interferenz-Theorie ist unvereinbar mit der Thatsache, daß die von dem einen und dem anderen Interferenzspiegel direkt in das Auge reflektierten Strahlen auf dessen Netzhaut, wo sie zwei nebeneinander stehende Bilder der Lichtquelle hervorbringen, völlig voneinander gesondert sind, also nicht miteinander interferieren können, gleichwohl aber die fragliche Farbenerscheinung sich auch so beobachten läßt, und noch besser in dem Fokus eines Fernrohrs, wohin überhaupt nur das von dem einen der beiden Spiegel reflektierte Licht gelangt. Oder wenigstens, daß wir uns davor hüten sollen, nicht durch den Namen »Prinzipien« getäuscht oder hintergangen zu werden, indem er uns bestimmt, das als eine unbestreitbare Wahrheit anzunehmen, was in der That bestenfalls nur eine sehr zweifelhafte Vermutung ist, wie die meisten (um nicht zu sagen alle) naturwissenschaftlichen Hypothesen.
§ 14. Klare und deutliche Ideen mit feststehenden Namen und die Auffindung solcher, die deren Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zeigen, sind die Wege zur Erweiterung unseres Wissens. – Mag es aber in der Naturwissenschaft Gewißheit geben oder nicht, so scheinen mir die Wege zur Erweiterung unseres Wissens, soweit sie uns möglich ist, kurz folgende beiden zu sein:
1. Der erste besteht darin, daß wir von den Dingen, wofür wir allgemeine oder specifische Namen haben, bestimmte Ideen erwerben und in unserem Bewußtsein festhalten; wenigstens von so vielen derselben, wie wir in Betracht ziehen wollen, um unsere Kenntnis von ihnen zu vervollkommnen oder Erörterungen über sie anzustellen. Und wenn es specifische Ideen von Substanzen sind, so sollten wir auch versuchen, sie so vollständig wie möglich zu machen, worunter ich verstehe, daß wir so viele einfache Ideen, deren Koexistenz beständig beobachtet worden, zusammenfügen sollten, wie zur vollständigen Bestimmung der Art erforderlich scheinen; und jede dieser einfachen Ideen, die die Bestandteile unserer komplexen bilden, sollte klar und deutlich in unserm Bewußtsein dastehen. Denn, da unser Wissen augenscheinlich nicht über unsere Ideen hinausreichen kann, so können wir, soweit diese unvollkommen, verworren oder dunkel sind, nicht erwarten, ein sicheres, vollkommenes oder klares Wissen zu haben.
2. Der andere besteht in der Kunst, die vermittelnden Ideen aufzufinden, die uns die Übereinstimmung oder den Widerstreit anderer Ideen zeigen, die sich nicht unmittelbar vergleichen lassen.
§ 15. Die Mathematik als Beispiel hiefür. – Daß diese beiden (und nicht das Vertrauen auf Axiome und das Ziehen von Folgerungen aus einigen allgemeinen Sätzen) die richtigen Methoden sind, unser Wissen von den Ideen anderer Modi als denen der Quantität zu vervollkommnen, davon wird die Betrachtung des mathematischen Wissens uns leicht überzeugen. Hier finden wir zunächst, daß, wer keine vollkommene und klare Idee von den Winkeln oder Figuren hat, über die er irgend etwas zu erfahren wünscht, eben deshalb zu irgend einer sie betreffenden Erkenntnis völlig außer stande ist. Angenommen, daß jemand keine vollkommen genaue Idee eines rechten Winkels, eines ungleichseitigen Dreiecks oder eines Trapezes habe, so ist nichts gewisser, als daß er vergeblich nach irgend einer auf diese bezüglichen Demonstration suchen wird. Ferner ist es einleuchtend, daß es nicht der Einfluß jener als mathematische Prinzipien angesehenen Axiome war, der die Meister in dieser Wissenschaft zu den wundervollen Entdeckungen geführt hat, die sie gemacht haben. Mag auch jemand mit guten Anlagen alle die Axiome, von denen in der Mathematik allgemein Gebrauch gemacht wird, noch so vollkommen kennen und deren Umfang und Folgen, so viel ihm beliebt, betrachten, so wird er doch, glaube ich, mit deren Beistand kaum jemals zu der Einsicht gelangen, daß das Quadrat der Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks den Quadraten der beiden andern Seiten gleich ist. Zu wissen, daß das Ganze der Gesamtheit seiner Teile gleich sei, und daß, wenn man Gleiches von Gleichem abziehe, die Reste gleich seien etc., das würde ihm, meine ich, zu dem Beweise jenes Satzes nicht verholfen haben, und jemand mag, denke ich, lange genug auf diese Axiome hinstarren, ohne jemals auch nur ein Jota mehr von mathematischen Wahrheiten zu erblicken. Diese sind durch eine andere Anwendungsweise des Denkens entdeckt, der Geist hatte andere Objekte, andere Gesichtspunkte vor sich, die von jenen Axiomen sehr verschieden waren, als er zuerst die Erkenntnis solcher mathematischen Wahrheiten erlangte, die Menschen, denen die herkömmlichen Axiome bekannt genug sind, während ihnen die Methode derer, die jene Beweise zuerst aufstellten, unbekannt ist, nie genug bewundern können. Und wer weiß, welche Methoden zur Erweiterung unserer Kenntnisse auf andern Gebieten der Wissenschaft später noch erfunden werden mögen, entsprechend der mathematischen Methode der Algebra, die so leicht die Ideen von Quantitäten auffindet, womit andere meßbar sind, deren Gleichheit oder Verhältnis wir auf andere Weise sehr schwer oder vielleicht niemals kennen lernen würden.