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§ 1. Da unser Wissen beschränkt ist, haben wir noch etwas anderes nötig. – Da dem Menschen die Verstandesfähigkeiten nicht bloß zur Spekulation, sondern auch für seine Lebensführung gegeben sind, so würde er in große Verlegenheit geraten, wenn er zu seiner Leitung nichts weiter hätte, als was die Gewißheit wahrer Erkenntnis besitzt. Denn da dies, wie wir gesehen haben, sehr beschränkt und dürftig ist, so würde er sich häufig im tiefsten Dunkel befinden, und bei den meisten Handlungen seines Lebens völlig unschlüssig bleiben, wenn er nichts hätte, was ihn in Ermangelung klaren und sicheren Wissens leiten könnte. Wer nicht eher essen will, als bis ihm bewiesen worden, daß die Speise ihn ernähren werde – wer sich nicht eher rühren will, als bis er unfehlbar von dem Gelingen des Geschäftes, was er vorhat, überzeugt ist: der wird wenig mehr zu thun finden als stillzusitzen und umzukommen.
§ 2. Wie dieser Zwielichtszustand verwendet werden soll. – Wie Gott deshalb einige Dinge in das helle Tageslicht gestellt hat, wie er uns einiges sichere Wissen, wenn auch vergleichsweise auf wenige Dinge beschränkt, wahrscheinlich als eine Probe davon gegeben hat, wessen denkende Geschöpfe fähig sind, um in uns ein Verlangen und Streben nach einem bessern Zustande zu erwecken: so hat er uns für den größten Teil unserer Angelegenheiten nur das (wenn ich so sagen darf) Zwielicht der Wahrscheinlichkeit verliehen, vermutlich als dem Zustand der Mittelmäßigkeit und Prüfungszeit angemessen, in den es ihm gefallen hat uns hier zu versetzen; worin uns, um unserer Überzuversicht und Anmaßung Einhalt zu thun, unsere Kurzsichtigkeit und Zugänglichkeit für den Irrtum durch die alltägliche Erfahrung fühlbar gemacht würden, damit das Bewußtsein davon uns eine beständige Mahnung sei, diese Tage unserer Pilgerschaft mit Fleiß und Sorgfalt auf die Aufsuchung und Befolgung des Weges zu verwenden, der uns zu einem Zustand größerer Vollendung führen möchte; da es, auch wenn die Offenbarung in diesem Falle schwiege, höchst vernünftig wäre, zu denken, daß, je nachdem die Menschen die ihnen von Gott gegebenen Talente hier anwenden, sie am Schluß des Tages, wenn ihre Sonne untergehen und die Nacht ihren Mühen ein Ziel setzen wird, ihren Lohn empfangen werden.
§ 3. Das Wahrscheinlichkeitsurteil bildet einen Ersatz für das mangelnde Wissen. – Die von Gott dem Menschen als Ersatz bei dem Mangel klaren und sicheren Wissens, wo dieses nicht zu erlangen ist, verliehene Fähigkeit ist das Wahrscheinlichkeitsurteil (das Dafürhalten oder Erachten), worin der Verstand seine Ideen als übereinstimmend oder nicht übereinstimmend, oder, was dasselbe sagt, einen Satz als wahr oder falsch annimmt, ohne in den Beweismitteln eine demonstrative Ersichtlichkeit wahrzunehmen. Zuweilen bedient der Verstand sich dieser Urteilsweise aus Notwendigkeit, wo demonstrative Beweise und sicheres Wissen nicht zu haben sind, und zuweilen aus Trägheit, Ungeschick oder Eilfertigkeit, selbst wo demonstrative und sichere Beweise nicht fehlen. Die Menschen machen oft nicht vorsichtig Halt, um die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zweier Ideen zu prüfen, worüber sie Auskunft haben möchten oder bedürfen, sondern werfen, weil sie entweder zu der für eine lange Reihe von Schlüssen erforderlichen Aufmerksamkeit nicht fähig sind, oder keinen Verzug ertragen können; ihre Augen nur flüchtig auf die Beweise, oder lassen diese ganz links liegen, und entscheiden so, ohne die Demonstration zu vollenden, über die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von zwei Ideen gleichsam nach einem Blick auf sie aus der Ferne, indem sie die eine oder die andere als vorhanden annehmen, je nachdem, was ihnen auf einen so losen Überblick hin das Wahrscheinlichste zu sein dünkt. Diese Fähigkeit des Geistes heißt, wenn sie unmittelbar mit Bezug auf Dinge ausgeübt wird, »Dafürhalten« ( judgement), wenn mit Bezug auf in Worten überlieferte Wahrheiten, gewöhnlich »Beifall« oder »Dissens« (abweichende Ansicht); und da dies die häufigste Weise ist, wie der Geist zur Ausübung der gedachten Fähigkeit Gelegenheit findet, so werde ich unter diesen Ausdrücken als den in unserer Sprache am wenigsten der Zweideutigkeit ausgesetzten davon handeln.