Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzehntes Kapitel.
Über die Wahrscheinlichkeit.

§ 1. Wahrscheinlichkeit ist der Anschein von Übereinstimmung auf Grund unzuverlässiger Beweismittel. – Wie die Demonstration das Aufzeigen der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von zwei Ideen ist mit Hilfe eines oder mehrer Beweismittel, die eine beständige, unveränderliche und sichtbare Verbindung miteinander haben, so ist die Wahrscheinlichkeit nichts als der Anschein solch einer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit Hilfe von Beweismitteln, deren Verbindung nicht beständig und unveränderlich ist oder wenigstens nicht als solche erkannt wird, das aber doch meistens ist oder zu sein scheint, und genügt, um den Verstand zu bestimmen, den Satz eher für wahr oder falsch als für das Gegenteil zu halten. Zum Beispiel: Bei ihrer Demonstration erkennt jemand die gewisse unveränderliche Verbindung der Gleichheit, die zwischen den drei Winkeln eines Dreiecks und den vermittelnden Winkeln besteht, die benutzt werden, um deren Gleichheit mit zwei rechten zu zeigen, und so wird mit Hilfe einer intuitiven Erkenntnis der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der vermittelnden Ideen bei jedem Schritte des Weitergehens die ganze Reihe mit einer Augenscheinlichkeit in Zusammenhang gebracht, The whole series is continued with an evidence. In diesem Beispiel hat die Reihe freilich nur das eine Mittelglied der beiden Hilfswinkel. die deutlich die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung jener drei Winkel in der Gleichheit mit zwei rechten In der gleichen Größe besteht die »Übereinstimmung« der drei Winkel eines Dreiecks und zweier rechten. zeigt; und so gewinnt er Jemand, dem der Beweis des fraglichen Lehrsatzes vordemonstriert wird. das sichere Wissen, daß es sich so verhalte. Jemand anders aber, der sich niemals die Mühe gab, der Beweisführung zu folgen, stimmt, wenn er hört, daß ein Mathematiker, ein glaubwürdiger Mann, versichert, die drei Winkel eines Dreiecks seien gleich zwei rechten, dem bei, d. h. er läßt es als wahr gelten; in diesem Falle ist die Grundlage seines Beifalls die Wahrscheinlichkeit der Sache, indem der Beweis ein solcher ist, der meistens die Wahrheit mit sich führt, da der Mann, auf dessen Zeugnis hin er den Satz gelten läßt, nicht etwas seinem Wissen Widersprechendes oder darüber Hinausliegendes, namentlich in Sachen dieser Art, zu versichern pflegt, so daß, was diesem Satze, daß die drei Winkel eines Dreiecks gleich zwei rechten seien, seinen Beifall verschafft, was ihn bestimmt, die Übereinstimmung dieser Ideen ohne wirkliche Erkenntnis derselben anzunehmen, die gewöhnliche Wahrhaftigkeit dessen, der sie behauptet, in anderen Fällen oder seine vorausgesetzte Wahrhaftigkeit in diesem Falle ist.

§ 2. Sie dient als Ersatz für das mangelnde Wissen. – Da unser Wissen, wie gezeigt worden, sehr beschränkt ist, und wir nicht so glücklich sind in allen Dingen, die wir zu betrachten Anlaß haben, sichere Wahrheit zu finden, so sind die meisten Sätze, die wir denken, aus denen wir Schlüsse ziehen, über die wir reden, ja wonach wir handeln, derart, daß wir von ihrer Wahrheit nicht zweifellos überzeugt sein können; doch grenzen einige von ihnen so nahe an die Gewißheit, daß bei uns gar kein Zweifel an ihnen aufsteigt, wir ihnen vielmehr so fest zustimmen und dieser Zustimmung gemäß so entschlossen handeln, als wenn sie unfehlbar bewiesen wären und unser Wissen von ihnen vollkommen und sicher wäre. Weil es aber hierin Abstufungen giebt von der unmittelbaren Nachbarschaft der Gewißheit und des Beweises bis ganz hinab zur Ungewißheit und Unwahrscheinlichkeit, selbst bis zu den Grenzen der Unmöglichkeit, und ebenfalls Abstufungen des Beifalls von der vollen Überzeugung und Zuversicht ganz hinab zur Mutmaßung, zum Zweifel und Mißtrauen, so werde ich jetzt (nachdem ich meiner Meinung nach die Grenzen der menschlichen Erkenntnis und Gewißheit aufgefunden habe) zunächst dazu übergehen, die verschiedenen Stufen und Gründe der Wahrscheinlichkeit und des Beifalls oder Glaubens in Betracht zu ziehen.

§ 3. Indem wir ihretwegen Dinge als wahr betrachten, bevor wir wissen, daß sie es sind. – Wahrscheinlichkeit hat das, was vermutlich wahr sein wird, indem schon der Wortsinn (von probability) einen solchen Satz bezeichnet, für den es Gründe oder Beweise giebt, weshalb er als wahr gelten oder angenommen werden kann. Die Ausnahme, die der Geist dieser Art von Sätzen zu teil werden läßt, wird Glaube, Beifall oder Meinung genannt, und besteht darin, daß ein Satz als wahr zugegeben oder angenommen wird auf Gründe und Beweise hin, die uns thatsächlich bestimmen, ihn als wahr anzunehmen, ohne mit Sicherheit zu erkennen, daß er es sei. Und hierin liegt der Unterschied zwischen Wahrscheinlichkeit und Gewißheit, Glauben und Wissen, daß sich in allen Teilen des Wissens Anschauung findet; jede unmittelbare D. h. mit einer anderen unmittelbar verknüpfte. Idee, jeder Schritt hat seinen sichtbaren und gewissen Zusammenhang, was beim Glauben nicht der Fall ist. Was mich zum Glauben bestimmt, ist etwas der von mir geglaubten Sache Äußerliches, etwas, was nicht augenscheinlich beiderseits mit der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der in Betracht gezogenen Ideen verknüpft ist, und sie deshalb nicht offenbar beweist.

§ 4. Es giebt zwei Gründe der Wahrscheinlichkeit, Übereinstimmung mit unserer eigenen Erfahrung, oder das Zeugnis über die Erfahrung anderer.– Da nun die Wahrscheinlichkeit die Lücken in unserem Wissen ausfüllen, und uns führen soll, wo dieses versagt, so bezieht sie sich immer auf Sätze, wovon wir keine Gewißheit haben, sondern nur einige Anlässe, sie für wahr anzunehmen. Die Gründe hiefür sind kurz folgende beiden: Erstens die Übereinstimmung von etwas mit unserer eigenen Kenntnis, Beobachtung und Erfahrung. Zweitens das Zeugnis anderer, die sich auf ihre Beobachtung und Erfahrung berufen. Bei dem Zeugnis anderer kommt in Betracht: 1. die Anzahl, 2. die Redlichkeit, 3. die Befähigung der Zeugen; 4. die Angabe des Verfassers, wenn es sich um ein Zeugnis aus einem angeführten Buche handelt; 5. die Übereinstimmung unter den Teilen und Umständen des Berichts; 6. entgegenstehende Zeugnisse.

§ 5. Hiebei müssen alle Gründe für und wider geprüft werden, bevor wir zu einem Urteil kommen. – Da der Wahrscheinlichkeit die anschauliche Gewißheit fehlt, die den Verstand unfehlbar bestimmt und ein sicheres Wissen hervorbringt, so muß der Geist, wenn er vernünftig verfahren will, alle Gründe der Wahrscheinlichkeit prüfen und zusehen, ob sie für oder gegen einen Satz mehr oder weniger ergeben, bevor er demselben beistimmt oder seine Beistimmung verweigert, und muß nach einer gehörigen Erwägung des Ganzen ihn mit einem mehr oder weniger entschiedenen Urteil verwerfen oder annehmen, entsprechend dem Übergewicht der stärkeren Wahrscheinlichkeitsgründe auf der einen Seite oder der anderen. Zum Beispiel:

Wenn ich selbst einen Menschen auf dem Eise gehen sehe, so ist das mehr als Wahrscheinlichkeit, es ist Wissen; wenn mir aber jemand erzählt, daß er in England mitten in einem strengen Winter einen Menschen auf dem durch die Kälte festgewordenen Wasser habe gehen sehen, so steht das so sehr mit den gewöhnlich beobachteten Vorgängen im Einklang, daß ich wegen der Natur der Sache selbst geneigt bin, ihr Glauben zu schenken, wenn sich nicht der Erzählung dieser Thatsache ein offenbarer Verdachtsgrund anschließt. Wenn aber dieselbe Sache jemandem erzählt würde, der zwischen den Wendekreisen geboren wäre und vorher niemals so etwas gesehen oder gehört hätte, dann würde die ganze Wahrscheinlichkeit sich auf das Zeugnis gründen, und je nachdem die Erzähler zahlreicher wären, mehr Zutrauen verdienten und kein Interesse daran hätten die Unwahrheit zu reden, würde jene Thatsache wahrscheinlich mehr oder weniger Glauben finden. Obgleich bei jemandem, dessen Erfahrung immer eine ganz entgegengesetzte gewesen ist, und der nie von etwas Ähnlichem gehört hat, selbst ein Zeuge von fleckenlosestem Rufe kaum imstande sein wird, Glauben zu finden. So erging es einem holländischen Gesandten, der den König von Siam mit den Eigentümlichkeiten Hollands unterhielt, wonach dieser sich erkundigt hatte, und ihm unter andern Dingen erzählte, daß in seinem Lande bei kalter Witterung das Wasser mitunter so fest werde, daß die Menschen darauf gingen, und daß es einen Elefanten tragen würde, wenn sich einer dort befände. Darauf erwiderte ihm der König: »Bisher habe ich die seltsamen Dinge, die Ihr mir erzählt habt, geglaubt, weil ich Euch als einen verständigen und ehrlichen Mann betrachtete, jetzt aber bin ich dessen gewiß, daß Ihr lügt.«

§ 6. Weil sie großer Mannigfaltigkeit fähig sind. – Aus diesen Gründen beruht die Wahrscheinlichkeit irgend welches Satzes; und je nachdem die Gleichartigkeit unseres Wissens, die Sicherheit der Beobachtungen, die Häufigkeit und Beständigkeit der Erfahrung und die Anzahl und Glaubwürdigkeit der Zeugnisse mehr oder weniger mit ihm übereinstimmt oder nicht übereinstimmt, ist der Satz an sich selber mehr oder weniger wahrscheinlich. Ich räume ein, daß es noch einen anderen giebt, der zwar an und für sich kein rechter Grund der Wahrscheinlichkeit ist, gleichwohl aber oft als ein solcher gebraucht wird, wonach die Menschen gemeiniglich ihren Beifall regeln, und worauf sie ihren Glauben mehr als auf irgend etwas sonst festnageln, und der ist: die Meinung anderer, obgleich es nichts giebt, worauf sich zu verlassen gefährlicher wäre, und wodurch man wahrscheinlicher verleitet würde, weil es viel mehr Falschheit und Irrtum unter den Menschen giebt als Wahrheit und Erkenntnis. Und wenn die Meinungen und Überzeugungen anderer, die wir kennen und achten, ein Grund des Beifalls sind, so haben die Menschen Ursache, in Japan Heiden, in der Türkei Mohammedaner, in Spanien Papisten, in England Protestanten und in Schweden Lutheraner zu sein. Von diesem falschen Grunde des Beifalls, werde ich indessen an einem anderen Orte Gelegenheit finden, mehr zu reden.


 << zurück weiter >>