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XXV

Eine Stunde, nachdem Frieda Ackermann von dem Begräbnis ihrer Mutter nach Hause gekommen war, klingelte es. Als Frieda öffnete, stand ein distinguiert gekleideter, schlanker Herr vor der Tür, der ein gepflegtes, schwarzes Schnurrbärtchen trug.

»Fräulein Ackermann, nicht wahr?« erkundigte sich der Unbekannte mit leichter Verbeugung.

»Sie wünschen?« Das maskenhaft starre, vom vielen Weinen gerötete Gesicht der jungen Verkäuferin verriet keine Bewegung. Das Mädchen hielt den Detektiv für einen Beamten des Begräbnisvereins oder für einen Reisenden.

»Kann ich Sie einige Minuten sprechen, mein Fräulein? Es ist dringend.«

»Bitte«, entgegnete sie widerwillig und geleitete den unerwünschten Besuch in das Wohnzimmer. Hier roch es nach verbranntem Wachs und welken Blumen.

»Mein Name ist Hergotin. Ich habe Ihnen etwas zurückzugeben, möchte das aber in Gegenwart von Fräulein Delius besorgen. Sie gestatten doch?« begann der Detektiv freundlich und rief den Namen Hannis in den Korridor. Dann erst setzte er sich.

Frieda Ackermann war plötzlich von Mißtrauen erfüllt. Sie ahnte, daß mit diesem fast zu freundlichen Herrn eine Gefahr die Wohnung betreten hatte. Was konnte der Fremde nur von ihr wollen? Sie sagte erbittert:

»Reden Sie endlich. Was gibt es denn?«

»Einen kleinen Moment noch. Ach, da ist ja Fräulein Delius! Darf ich vorschlagen, daß wir Platz nehmen? So. Also, Fräulein Ackermann, ich habe Ihnen etwas zurückzugeben, wie ich schon sagte. Hier!« Dabei zog er jenes Bild aus der Tasche, das er der Verkäuferin entwendet hatte. »Das ist doch Ihr Eigentum, nicht?«

Friedas Antlitz wurde weiß wie Kalk. Tödliche Angst umklammerte ihr Herz. Mit verschwimmenden Blicken stierte sie das Bild an, das sie seit einer Woche vermißte und nirgends hatte finden können. Dann hob sie den Kopf und betrachtete gehässig Fräulein Delius, die sie für die Diebin hielt. Sie öffnete den Mund und schloß ihn. Jedes unüberlegte Wort konnte ihr den Hals brechen.

»Sie tun Fräulein Delius unrecht«, sagte der Detektiv, der Friedas Gedanken erriet. »Sie hat mit dem Verschwinden des Bildes nichts zu tun. Ich bin der Schuldige.«

»Mit welchem Recht überfallen Sie mich in meinen vier Wänden und legen mir unverständliche Fragen vor?« schrie die Ackermann zornig. Ihr blasses Gesicht rötete sich flüchtig.

»Ich bin von der Polizei«, erläuterte Hergotin sanft.

Frieda schluckte. Ihr Kehlkopf stieg hilflos auf und nieder. Was sie seit vielen Monaten befürchtet hatte, traf jetzt ein. Das Unheil nahm seinen Lauf. Es galt, sich zu wehren. Verzweifelt angelte sie nach einem Entschluß.

»Sie haben meine Frage noch immer nicht beantwortet«, fuhr der Detektiv hartnäckig fort. »Sie erkennen diese Photographie selbstverständlich als Ihr Eigentum an, Fräulein Ackermann?«

»Nichts erkenne ich an«, fauchte diese. »Und jetzt machen Sie ein Ende mit diesem Theater. Ich habe vorhin meine Mutter begraben. Wenn Sie noch einen Funken Gefühl haben, entfernen Sie sich.«

Hanni sah stumm zu Boden. Dieses Verhör war nicht nach ihrem Geschmack, wenn sie sich auch der Notwendigkeit desselben nicht verschließen konnte.

»Ich gebe zu, daß Sie in einer bemitleidenswerten Lage sind, Fräulein Ackermann«, erwiderte Hergotin schonend. »Aber ich muß meine Pflicht tun. Ich kann also Ihrem Wunsche leider nicht entsprechen. Wenn Sie vernünftig sind, ist meine Mission rasch erledigt. Vor allem geben Sie das Leugnen auf. Es verzögert die Aussprache, ohne Ihnen zu nützen. Was wollen Sie? Fräulein Delius hat dieses Bild in Ihren Händen gesehen. Ich selber habe es aus Ihrem Bett geholt. Wir beschwören unsere Behauptungen. Was soll also Ihr Leugnen, das Bild nicht zu kennen? Ein offenes Geständnis ist das einzige, was Ihre Lage erleichtern kann. Folgen Sie mir.«

»Wessen beschuldigen Sie mich?«, stieß Frieda hervor.

»Einen Meineid geschworen zu haben. Sie haben im Scheithauer-Prozeß unter Eid ausgesagt, daß Sie den Angeklagten zum erstenmal in seinem Sprechzimmer gesehen hätten. Die Widmung auf dieser Photographie beweist aber, daß Ihnen Scheithauer bereits ein Jahr vorher sein Bild verehrt hat. Können Sie uns diesen Widerspruch erklären?«, fragte Hergotin scharf.

Das Mädchen blieb stumm. Sie begriff, daß ihr letztes Heil im Schweigen lag. Ein halb gequältes, halb höhnisches Lächeln entstellte ihre Züge. Endlich sagte sie heiser:

»Warten wir ab, wem die Richter mehr glauben. Sind wir jetzt fertig?«

Der Detektiv schloß für einen Moment die Augen. Er verwünschte im stillen die Verstocktheit dieser Person, an der alle Angriffe abprallten. Er beschloß, seine Taktik zu ändern. Er spielte seinen zweiten und letzten Trumpf aus, und dieser mußte zum Ziele führen. Er entgegnete mit gemachter Gleichgültigkeit:

»Sie türmen? Auch gut. Wir werden ja sehen, wie der Hase läuft. Etwas anderes. Ich will Ihnen jetzt eine kleine anthropologische Vorlesung halten. Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten? Haben Sie schon von ein-eiigen Zwillingen gehört, Fräulein Ackermann?«

Diese machte ein abweisendes, trotziges Gesicht und blieb die Antwort schuldig.

Hergotin redete unbeirrt weiter:

»Ein-eiige Zwillinge sind, weil sie aus ein und derselben Eizelle durch Teilung in ganz frühen Stadien hervorgehen, immer gleichen Geschlechts und weisen bis in das späte Alter eine verblüffende Ähnlichkeit auf. Solche Zwillinge haben dasselbe Gesicht, dieselbe Gestalt, ja sogar die gleiche Augenfarbe, kurz, sie sind nicht oder nur äußerst schwer voneinander zu unterscheiden. Nur in einer Hinsicht sind sie verschieden, nämlich in den Fingerabdrücken. Denn es hat niemals zwei Menschen mit denselben Fingerabdrücken gegeben. Sie folgen mir doch, Fräulein Ackermann?«

»Was soll dieser Unsinn?«, spottete diese.

»Das werden Sie sofort sehen, liebes Fräulein. Dr. Markus Scheithauer hat nämlich einen Zwillingsbruder, namens Michael. Auf die beiden trifft das vorhin Gesagte zu. Dämmert Ihnen jetzt, worauf ich hinaus will?« Hergotin räusperte sich und deutete auf das auf dem Tische liegende Bild. Dann sagte er mit erhobener Stimme:

»Sie sind in einem großen Irrtum befangen, Fräulein Ackermann. Sie halten diesen Herrn für Markus Scheithauer, während es tatsächlich Michael ist! Nicht Markus, sondern Michael hat Ihnen in Cuxhaven seine Photographie geschenkt und sich dann so unschön benommen. Warum er sich Ihnen gegenüber für seinen Bruder ausgab, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Vielleicht aus Leichtsinn, aus Prahlerei, was weiß ich. Ein Luftikus ist dieser Michael von jeher schon gewesen. Nun aber den Beweis. Von dem Fingerabdruckverfahren werden Sie gehört haben? Wenn Sie die Rückseite dieses Bildes betrachten, erkennen Sie, daß uns der Schreiber der Widmung wider Willen seinen Daumenabdruck hinterlassen hat. Ein Vergleich mit dem von Markus Scheithauer ergab völlige Verschiedenheit. Folglich hat Markus weder diese Widmung geschrieben, noch hat er Sie vor jener Affäre im Sprechzimmer überhaupt gekannt. Begreifen Sie, was das heißt?«, schloß er eindringlich.

In der jungen Verkäuferin ging eine sichtliche Wandlung vor. Sie erwachte gleichsam aus tiefer Erstarrung. Schweißperlen traten auf ihre Stirne. Sie richtete ihre großen, dunklen Augen auf Hergotin und preßte hervor:

»Sprechen Sie die Wahrheit?« Wie abgehackt fielen die Silben von ihren weißen Lippen.

»So wahr mir Gott helfe«, nickte Hergotin ernst.

»Dann … Großer Gott, dann habe ich mich an dem Falschen gerächt! Dann habe ich einen Unschuldigen ins Zuchthaus gebracht«, stieß Frieda Ackermann fast schreiend hervor und fiel wimmernd in sich zusammen. Sie war ohnmächtig geworden.

Während sich Hanni um die Bewußtlose bemühte, meinte Hergotin:

»Das Mädel ist nicht schlecht, nur mißleitet von ihrem blinden Haß. Die Erkenntnis, daß ein Schuldloser leiden mußte, hat sie vollkommen umgekrempelt. Das ist ein gutes Zeichen. Ich will sehen, was ich für das arme Ding tun kann.«

»Machen Sie es gnädig, Hergotin.«

Inzwischen kehrte Frieda langsam ins Bewußtsein zurück. Der Tod ihrer Mutter und des Detektivs Erklärung waren zuviel für ihre Nerven gewesen.

Hanni trocknete ihr die feuchte Stirn und sagte freundlich:

»Ich will nicht, daß Sie schlecht über mich denken, Fräulein Ackermann. Ich hatte mir vorgenommen, Markus Scheithauer zu helfen; daher rührt alles. Ich habe ihn gern und konnte nicht mit ansehen, wie er langsam zugrunde ging. Ich habe nie an seiner Unschuld gezweifelt.«

»Hand aufs Herz?« fragte Hergotin mit gutmütigem Spott und drohte mit dem Finger.

»Sie haben recht, es gab eine Zeit, wo auch ich nicht ganz sicher war«, bekannte Hanni und errötete.

Frieda Ackermann sagte:

»Um mich an dem vermeintlichen Urheber meines Unglücks zu rächen, habe ich damals in der Verhandlung einen falschen Eid geschworen. Ich bereue es. Verzeihen Sie mir, Fräulein Delius. Ich muß zurückgreifen auf die Zeit, wo ich in Cuxhaven die größte Enttäuschung meines Lebens erlitt. Sie wissen bereits davon. Der Mann, der mich betrog, nannte sich Markus Scheithauer und gab sich als Arzt aus. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht wollte er sich vor mir ein Ansehen geben, und es fiel ihm in der Eile nichts Besseres ein. Er konnte nicht voraussehen, daß ich je im Leben auf seinen Bruder stoßen würde. Ich hatte keinen Grund, an seinen Angaben zu zweifeln, um so mehr, als seine Wäsche mit M. S. gezeichnet war. Als er mich verlassen hatte, verging ein furchtbares Jahr. Eines Tages, als ich in München durch die Prinzregentenstraße schlenderte, las ich zufällig den Namen Dr. Markus Scheithauer auf einem Schild. Ich war wie betäubt und zweifelte nicht, daß ich den Treulosen gefunden hatte. Ich ging in das Wartezimmer, schützte irgendeine harmlose Krankheit vor und kam als letzte Patientin daran. Sinnlos vor Erregung überschüttete ich Doktor Scheithauer mit Vorwürfen; denn im Wartezimmer hatte ich zu allem Überfluß noch erfahren, daß er verheiratet war und in glänzenden Verhältnissen lebte. Daß er mich mit kühlem Spott behandelte, mich nicht zu kennen vorgab und mich ein hysterisches Frauenzimmer nannte, schlug dem Faß den Boden aus. Wahnsinnig vor Schmerz beleidigte ich ihn, spie ihm ins Gesicht und bin mit den Nägeln über ihn hergefallen. Wie ich wieder auf die Straße gekommen bin, weiß ich nicht. Als ich ruhiger geworden war, flüsterte mir eine teuflische Stimme ins Ohr: Räche dich doch! Stürze ihn ins Unglück! Ich wurde schwach und gab nach. Ich lief zum Staatsanwalt und erstattete Anzeige. Das Weitere wissen Sie«, schloß sie tonlos.

»Ist Ihnen denn nie aufgefallen, daß Scheithauer auch in der Verhandlung noch steif und fest dabei blieb, Sie nicht zu kennen?«, fragte Hergotin.

»Ich schob das seiner Erbärmlichkeit zu. Hatte er mir doch in Cuxhaven die Ehe versprochen. Ich machte mir diese seine Aussage sofort zu eigen; denn nun konnte mir niemand rachsüchtige Beweggründe unterschieben.«

»Würden Sie dieses Bekenntnis vor dem damaligen Untersuchungsrichter wiederholen, Fräulein Ackermann?«

»Ja. Denn ich bin bereit, meine Schuld zu büßen«, erwiderte sie mit fester Stimme. »Ich bin nicht ganz so verworfen, wie Sie denken werden. Manchmal war ich daran, alles zu gestehen. Aber dann nahm ich jenes Bild zur Hand und schöpfte aus dem Haß neue Kraft.«

»Sie haben das Bild einmal zerrissen«, sagte Hergotin.

»Ja, in der ersten Verzweiflung. Später bewahrte ich es auf, um die Züge dessen, der mich unglücklich gemacht hat, nie zu vergessen.«

»Haben Sie sich ein wenig erholt, Fräulein Ackermann?«

»Ich bin bereit. Wir können gehen, wenn es Ihnen recht ist«, sagte sie tapfer, obwohl sie wußte, daß sie nicht mehr in diese Wohnung zurückkehren würde.

Hanni ging erschüttert in ihr Zimmer, nachdem sie dem Mädchen zum Abschied die Hand gereicht hatte. Das Rätsel um Scheithauer war jetzt gelöst. Markus stand gerechtfertigt da. Die Folgen waren unübersehbar. Ihr Herz pochte vor Glück. Sie überlegte. Zunächst mußte Justizrat Hultschiner verständigt werden, damit er das Wiederaufnahmeverfahren mit allen Mitteln betreibe. Dann kam Markus daran. Wie gingen doch die Züge? Sie kramte nach dem Kursbuch.

Schwindlig vor Freude mußte sie sich auf das alte, wackelige Sofa setzen.


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