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Als Markus Scheithauer in Venedig ankam, hatte sich die Sonne hinter Wolken versteckt. Unter Assistenz des resoluten Fräulein Delius entfloh er einer Horde brüllender Anreißer und rettete sich, ein wenig benommen, auf einen jener flinken, kleinen Vaporetti, die mit heiserem Getute den Canal Grande entlangeilen. Fräulein Delius hatte in Bozen einen Baedeker erstanden und bemühte sich, an Hand desselben ihrem Begleiter die einzelnen Gebäude zu erklären. Aber dieser hatte für die zierliche Gotik der Cà d'Oro und die glänzende Barockkunst des Palazzo Pesaro nicht viel übrig. Für ihn waren das alte, mehr oder minder verfallene Häuser, zwischen denen ein schmutziges, übelriechendes Wasser floß, von schreienden Kerlen, komischen Kähnen und heulenden Motorbooten bevölkert. Er machte aus seiner Enttäuschung kein Hehl.
Fräulein Delius klappte das Buch zu und sagte entschuldigend: »Sie müssen Geduld haben, bis die Sonne kommt, Herr Doktor. Dann macht die Stadt gleich einen anderen Eindruck. Wir haben die denkbar ungünstigste Beleuchtung erwischt.«
»Es scheint so«, meinte Markus verdrossen. Er hatte sich Venedig malerischer, farbenprächtiger, märchenhafter vorgestellt, und es dünkte ihm mit einem Male zweifelhaft, ob diese zerbröckelnde, von einem bleigrauen Himmel überwölbte Stadt der geeignete Ort war, um Kummer und Leid zu vergessen. Selbst die Rialtobrücke und der Palazzo Grimani vermochten ihm nicht die erforderliche Hochachtung zu entlocken. Wohin man blickte – Wasser und Stein. Kein Baum, kein Strauch, nicht einmal eine armselige Blume.
»Hören Sie mal, liebes Fräulein, Ihr Venedig ist eine trostlose Angelegenheit. Zwischen diesen grauen Steinkästen komme ich mir wie eingesargt vor«, nörgelte er.
Fräulein Delius schwieg. Schließlich war es nicht ihre Schuld, wenn Scheithauer ausgerechnet im November nach Italien fuhr. Immerhin, er wurde wenigstens nicht grob. Sie dachte an Generalkonsul Tulpenträger und Frau Bankier Reichenbach, die Rekorde in schlechter Laune aufgestellt hatten. Gegen diese zwei Herrschaften war ihr neuer Chef Gold. Sie konnte sich über ihn nicht beklagen. Er war höflich, taktvoll und hetzte sie nicht zwecklos herum. Nur ein bißchen sehr einsilbig und gedrückt war der Mann; aber das ging sie nichts an.
Als sie endlich am Molo ausstiegen, brach die Sonne aus den Wolken und vergoldete den Löwen von San Marco. Fröhlich schimmerten die Steinplatten der Piazetta, und der Dogenpalast erglühte in sanftem Rot.
»Was sagen Sie nun?« fragte Fräulein Delius lächelnd.
»Verzeihen Sie. Ich war vorhin ungezogen; aber Sie müssen das meiner Nervosität zugute halten«, erwiderte Markus reuevoll.
Während seine Begleiterin nach dem Hotel Danieli Ausschau hielt, das ihnen empfohlen worden war, pürschten sich zwei mit verschlissener Eleganz gekleidete Burschen an Markus heran, rollten die Augen und verschwendeten ekstatische Handbewegungen. Es stellte sich heraus, daß der eine Markus zum Besuch einer Glasfabrik, der andere zum Besuch eines zweifelhaften Hauses animieren wollte. Um die beiden loszuwerden, zog Markus seine Börse und gab jedem ein Lirestück. Inzwischen kam Hanni zurück und befreite Markus aus seiner Bedrängnis, indem sie den Burschen ein paar energische Ausdrücke an den Kopf warf.
Das Hotel, für das sich Fräulein Delius entschieden hatte, lag an der Riva degli Schiavoni. Hanni gab dem Manager in fließendem Italienisch ihre Wünsche kund, worauf sie zwei auf das Wasser hinausgehende, saubere Zimmer bekamen. Während sich Markus wusch, konnte er nicht umhin, anzuerkennen, daß er mit diesem Fräulein Delius keine schlechte Erwerbung gemacht habe. Vater hatte recht gehabt. Was hätte er allein in Italien anfangen sollen? Wenn man sich ein bißchen mitteilen konnte, war eine Reise doppelt so schön.
Nach dem Essen fragte Hanni:
»Was machen wir nun? Venedig genießen? Hungern Sie nach Kunst?«
»Hm, mit Maß und Ziel.«
»Darf ich das Archäologische Museum vorschlagen?« neckte sie.
»Machen Sie es gnädig, Fräulein Delius.«
»Schön, dann statten wir zuerst einmal Ihrem Namenspatron einen Besuch ab«, entschied sie.
»Wohnt der gute Mann weit weg?«
»Ganz in der Nähe.«
»Einverstanden. Ich bin ein höflicher Mensch.«
Sie besichtigten also die Basilika di San Marco, dann den Hof des Palazzo Ducale, und schließlich fütterten sie die asthmatischen Tauben auf der Piazza. Als sie das letzte Körnchen verstreut hatten, schlug es vom Torre dell' Orologio drei Uhr. Sie berieten. Hanni meinte, man könne noch das berühmte Reiterstandbild des Colleoni besuchen oder durch die Merceria nach dem Rialto bummeln.
»Ich bin ein einfacher Mann, Fräulein Delius«, scherzte Markus. »Was tue ich mit Seide und Spitzen?«
»Man könnte übrigens auch nach dem Lido hinüberfahren. Im Sommer ist der Lido eine ganz große Sache. Wie er sich im November präsentiert, weiß ich nicht.«
»Gut, sagen wir Lido.«
Hanni studierte ihren kleinen Taschenfahrplan.
»In acht Minuten geht ein Dampfer; wenn wir uns beeilen, erreichen wir ihn noch.«
Der Himmel war blau. Die Wolken hatten sich verzogen. Das Marmorpflaster der Piazza schimmerte wie weißer Zucker. Hübsche Kinder trippelten an der Hand ihrer Bonnen. Ein alter Bettler hob einen Brisagostummel auf. Auf dem Slawonierkai promenierten operettenhafte Offiziere mit malerisch nach hinten geschwungenen Umhangzipfeln. Die Dampferglocke bimmelte.
Kaum hatten sie das Schiff betreten, so rauschte es davon. Schwarze Gondeln, hochgeschnäbelt, glitten auf der Lagune dahin. Die öffentlichen Gärten zogen vorüber. Ein leiser Wind strich um die Schläfen. Und was die Hauptsache war: Sonne schien.
Markus stand am Bug und lehnte sich an das Ankergewinde. Er hatte das Gefühl, als entflöhe er mit diesem schönen, tapferen Schiff der Vergangenheit. Salzig schmeckte die Luft. Die Isola di San Giorgio wurde immer kleiner …
Mit heißen Augen starrte Markus auf die flache Nehrung, die sich im Osten aus den Wellen hob und Lido hieß. Er schwelgte in der Einbildung, der einzige Mensch auf Gottes Erde zu sein und wie Kolumbus eine unbekannte Küste anzusteuern. Alles, was schwer und bedrückend war, glitt wie ein lästiger Mantel von seinen Schultern. Zum ersten Male seit vielen Wochen fand er das Leben wieder schön.
Plötzlich trat Fräulein Delius neben ihn und schwenkte zwei Billette in der Hand.
»Denken Sie, diese Brüder haben mich beschummelt. Beim Wechseln haben sie mir ein falsches Fünf-Lirestück aufgehängt«, sagte sie entrüstet.
Markus kehrte langsam von der unbekannten Küste zurück. Es war wohl immer das Los der Menschen, daß sie einen schönen Traum nicht zu Ende träumen durften. Er sagte sehr sanft:
»Das macht nichts, Fräulein Delius. Wir haben ja noch mehr Fünf-Lirestücke.« Dabei betrachtete er versonnen das Haar des Mädchens, das goldblond und keck unter einer schwarzen Mütze hervorquoll.
Hanni Delius verstand ihn nicht.
*
»Da man heute sowieso nichts Rechtes anfangen kann, schlage ich unsere Schreibmaschine vor«, sagte Fräulein Delius und nippte an ihrem Espresso.
Dr. Scheithauer starrte mit verdüstertem Gesicht in den Regen, der an den Scheiben des Café Quadri in hundert Bächlein herniederfloß.
»Ich bin heute nicht in der Stimmung. Es eilt auch gar nicht«, wehrte er verdrießlich ab.
Unter den Arkaden der Prokurazien lustwandelte die vornehme Welt. Kostbare Frauen trugen noch kostbarere Pelze zur Schau. Es war ein Korso der Eleganz und Schönheit, der da draußen vor den Fenstern vorüberstrich.
»Wovon handelt Ihr Buch eigentlich, Herr Doktor?«
»Irgendein medizinisches Problem in neuer Beleuchtung.«
»Huch, das ist mir zu hoch«, lächelte sie in komischem Entsetzen.
»Sie haben recht, Fräulein Delius; es sollte verboten werden, wissenschaftliche Bücher zu schreiben, die doch niemand liest. Ein Boxer oder ein Droschkenkutscher, der nach Paris fährt, sind wichtiger für die Menschheit als Röntgen oder Sauerbruch.«
»Warum so bitter?«
»Ich habe Erfahrungen hinter mir. Die Menschen sind es gar nicht wert, daß man sich ihretwegen in geistige Unkosten stürzt.«
Sie sah ihn nachdenklich an.
»Wenn es so wäre, wie Sie sagen, müßte man sich am nächsten Baum aufhängen«, widersprach sie.
»Müßte man. Aber man tut es nicht. Wir sind bekanntlich zu feige, aus unseren Erkenntnissen die letzten Folgerungen zu ziehen«, sagte Scheithauer sarkastisch.
»Ich glaube, Ihnen fehlt wieder einmal die Sonne, Herr Doktor«, meinte sie sorgenvoll. Das konnte ja nett werden, wenn der Mann sich so weiter entwickelte.
Markus schwieg. Ekel lag um seinen Mund. Das schlechte Wetter, das nun schon seit einigen Tagen hier herrschte, beeinflußte seine Stimmung auf das ungünstigste.
Fräulein Delius zerknickte ein Streichholz und grübelte: was mag er nur Schweres erlebt haben? Warum spricht er nie von seiner Frau? Warum schreibt er ihr nie eine Ansichtskarte? Was ist das für eine komische Ehe? Und was hat die ausgestorbene Wohnung in München zu bedeuten? Unauffällig betrachtete sie sein Gesicht. Sie fand, daß es nicht unmöglich sei, dieses Gesicht zu lieben, in dem sanftgraue, schwermütige Augen standen. Sie verglich Scheithauer mit Tobias Steguweit … Unsinn! Wohin verlor sie sich. Sie schüttelte die dummen Gedanken ab, konnte aber nicht verhindern, daß eine leichte Spur von Mitleid zurückblieb.
»Wissen Sie, wie mir Venedig bei Regen vorkommt?« begann Markus. »Wie eine eitle, alte Frau, die ihre Schminke vergessen hat.«
»Ein liebloses Urteil«, lachte Hanni. »Wir sollten südlicher gehen.«
»Wohin?«
»Vielleicht nach Florenz.«
»Schön, fahren wir nach Florenz, Fräulein Delius.«