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XXIII

Es war Mittag vorüber, als Hanni auf den Scheithauer-Hof zuschritt. Ein Hund bellte, Gänse schnatterten. Hinter dem niederen, alten Bauernhaus floß der Himmel mit Äckern zusammen, von denen Februarsonne den letzten Schnee leckte.

Hanni hatte ihr Kommen nicht angezeigt, weil sie Markus überraschen wollte. Ihr Herz saß wie ein Stein in der Brust. Zweifel zermarterten sie. Wo lag die Wahrheit? War Markus ein Geistesgestörter? War er ein Lügner? Ein Schuldloser? Nichts war zu entscheiden, solange sie ihm nicht Auge in Auge gegenüberstand.

Hanni verspürte Kopfweh. Vielleicht von der langen Fahrt in dem Lokalbähnchen, vielleicht von den fruchtlosen Grübeleien. Zum erstenmal, seit sie Markus kannte, stiegen ihr Zweifel auf. Daran war jenes Photo schuld. Auch die vielen Wochen, die zwischen der Trennung und heute lagen, hatten dazu mit beigetragen. Eindrücke, die sie für unauslöschlich gehalten hatte, waren jämmerlich verblaßt. Manchmal hatte sie Mühe, sich Einzelheiten jener Reise überhaupt ins Gedächtnis zurückzurufen.

Irgendwo, in unsichtbarer Nähe, rauschte ein Fluß. Die Straße, die von der Bahnstation nach Altenbuch führte, verdiente diesen Namen kaum und war entmutigend einsam. Hanni bewunderte die Menschen, die sich in dieser Weltentlegenheit freiwillig begruben. Während sie langsam über den Hof schritt, trat Adam Scheithauer in Hemdärmeln unter die Haustür und beschattete die Augen mit der Hand. Eine Dame, die sich in seinen Hof verirrte, war ein Ereignis. Plötzlich stutzte er, ein Zucken lief über sein gefälteltes Bauerngesicht. Er hatte Fräulein Delius erkannt. Er streckte ihr seine große, harte Hand freudig entgegen.

»Grüß Gott, Fräuleinchen! Das ist aber schön, daß Sie uns besuchen. Vielen Dank, daß Sie mir den Markus wohlbehalten zurückgeschickt haben.«

»Wie geht's ihm denn, Vater Scheithauer?«

»Was soll man sagen. Er schafft seine Arbeit hier auf dem Hof wie nur einer, aber ohne Freude. Und Arbeit ohne Freude schlägt nicht an. Der Bub wird mit jedem Tag stiller. Er kann nicht verwinden, daß man ihn so behandelt hat. Mit Ihnen darf ich ja ruhig darüber reden. Markus hat Ihnen alles erzählt, nicht wahr?«

Sie nickte.

»Sie haben viel Nachsicht mit ihm gehabt, Fräulein Delius. Sie sind ein gutes Mädchen. So, nun aber rein ins Haus. Sie haben ja ganz feuchte Schuhe. Ein warmes Zimmer wird Ihnen gut tun. Warum haben Sie denn nicht geschrieben? Markus hätte den Hansl eingespannt. Meine Anna hätte sich ein bisserl richten können.«

»Ich habe mich erst gestern abend entschlossen«, entschuldigte sich Hanni.

Nun waren sie in der gemütlichen, sauberen Stube, wo der grüne Kachelofen krachte. Die beiden Schwestern bekamen Fräulein Delius vorgestellt und boten ihr ein wenig schüchtern die Hand. Markus, der an einer Schrotflinte geputzt hatte, erhob sich und wartete, bis die Begrüßung der anderen vorbei war. Ungläubiges Staunen war in seinen Augen, die Hanni nicht losließen.

»Willkommen, Fräulein Delius«, war alles, was er hervorbrachte. Seine Stimme klang unsicher.

Hanni war erschüttert von seinem hageren, traurigen Gesicht. In dieser Sekunde verstummten alle Zweifel in ihr. Ein Mann, der so aussah, war kein Lügner. Scham preßte ihr die Kehle zusammen.

Man lud Fräulein Delius zum Kaffee ein. Liese schleppte einen riesigen Gugelhupf heran. Hanni erhielt eine der schönen, goldgeränderten Tassen und mußte sich neben den alten Scheithauer auf das Ledersofa setzen. Später tauten die Schwestern auf und zeigten dem Besuch die Sehenswürdigkeiten eines Einödhofes. Mit bescheidenem Stolz priesen sie die Legfähigkeit der neuen Mallorcahühner. Markus ging versonnen hinterdrein. Als es zu dunkeln begann, erklärte Hanni, sie müsse jetzt aufbrechen, um den Zug nicht zu versäumen.

»Diesmal wird die Geschichte aber anders gemacht, Fräulein Delius«, sagte Adam Scheithauer. »Markus, du bringst sie an die Bahn.«

»Versteht sich, Vater.« –

Eine Viertelstunde später saßen die beiden in einer alten, schwerfälligen Lederkutsche, und Markus kommandierte: »Hüh, Hansl, hüh!«

Hannis Herz klopfte. Endlich waren sie allein. Endlich konnte sie die Fragen stellen, die ihr auf der Seele brannten. Sie begann mit zaghafter Stimme:

»Wie geht es Ihnen, Herr Doktor?«

»Es ist alles beim alten«, erwiderte er ausweichend, und die Falten um seinen Mund vertieften sich.

Hanni starrte ratlos vor sich hin. So kam sie nicht weiter. Sie raffte ihren ganzen Mut zusammen und sagte plötzlich:

»Waren Sie schon in Cuxhaven?« Sie beobachtete Markus scharf von der Seite und glaubte zu bemerken, daß er zusammenzuckte.

»Ja, Fräulein Delius. Eine muntere Stadt. Warum fragen Sie?«

»Weil man mir von dort eine Stellung angeboten hat«, log sie. »Ist es schon lange her, daß Sie dort waren?«

»Es mögen so anderthalb Jahre her sein«, entgegnete er nach einigem Besinnen.

Hannis Herz gefror. Die Dämmerung, die das Inntal erfüllte, kroch in ihr Gehirn weiter. Nach einer Weile sagte sie mit schwerer Zunge:

»Was hatten Sie in Cuxhaven eigentlich zu suchen? Eine Ferienreise?«

Markus drehte den Kopf, so daß er ihr voll ins Gesicht sah, und antwortete:

»Das möchte ich verschweigen, Fräulein Delius. Es gibt Dinge, über die man nicht gern redet.«

Ihr Argwohn war so wach wie noch nie. Sie lächelte krampfhaft:

»Huh! Handelt es sich um ein Verbrechen?«

»Um ein Verbrechen natürlich nicht. Die Sache ist sogar ziemlich belanglos. Aber ich möchte, wie gesagt, nicht darüber reden«, erwiderte er zurückhaltend.

Hannis Nerven waren zum Reißen gespannt. Jetzt oder nie mußte die Entscheidung fallen. Sie entschloß sich, einen brüsken Vorstoß zu wagen. Es war nicht die Zeit, sentimentale Rücksichten zu nehmen.

»Wo haben Sie die Ackermann eigentlich zum erstenmal gesehen, Herr Doktor?« fragte sie und belauerte sein Gesicht.

Markus erinnerte sich des Briefes von Hultschiner und entgegnete ohne Verwunderung:

»Sagte ich es Ihnen noch nicht? Es war damals, als sie mir in meinem Sprechzimmer jene Szene machte.« Sein Antlitz blieb gleichmütig und unbewegt.

»Hm, das wäre also vor einem halben Jahr etwa gewesen?«

»Es können auch sieben Monate her sein«, bestätigte er mit harmloser Miene. »Aber warum fragen Sie das alles, Fräulein Delius?«

Sie überhörte seine letzten Worte. Sie überlegte, daß sie nun so klug war wie zuvor. Hier gab es ein Geheimnis, das sich vielleicht nie würde enträtseln lassen, wenn nicht ein gütiger Zufall zu Hilfe kam. Ihr Vertrauen zu Markus wurde auf eine fürchterliche Probe gestellt. Sie fühlte, wie Mutlosigkeit an ihr hinaufkroch und ihr jede Entschlußkraft aus den Adern sog. Könnte man doch sterben, dachte sie und spielte mit der Vorstellung, daß der alte Gaul plötzlich davonrase und den Abhang hinuntergaloppiere. Es war besser, rasch zu sterben, als an einer unerwiderten und vielleicht beschämenden Liebe langsam zugrunde zu gehen. Sie fror und klapperte mit den Zähnen.

Markus half ihr, die herabgerutschte Decke wieder über die Knie zu breiten und wiederholte seine letzte Frage.

Hanni kehrte aus tiefster Versunkenheit zurück. Sie sagte mit zuckenden Lippen:

»Ich bin seltsam heute, wie? Möglicherweise habe ich mir in den Kopf gesetzt, Ihre Unschuld ans Licht zu bringen.«

Markus schwieg gequält. Er ließ die Zügel locker. Der alte Gaul wedelte erstaunt mit den Ohren und machte sich diese Freiheit zunutze. Das Schweigen wollte kein Ende nehmen. Da raffte sich Markus auf:

»Für diesen Glauben danke ich Ihnen, Fräulein Hanni. Daß er in die Irre geht, ist nicht Ihre Schuld.«

»Sie halten also immer noch an der verdrehten Ansicht fest, daß Sie krank sind?«, rief Hanni ärgerlich.

Er preßte die Lippen zusammen, nahm die Zügel straffer und griff nach der Peitsche. Was hätte er antworten sollen?

Jähes Mitleid stürzte über Hanni hin. Alle Liebe, die sie für Markus im Herzen trug, flammte auf und vernichtete Scham, Herkommen und Vernunft in ihr. Sie sagte fast unhörbar:

»Warum machen Sie es mir so schwer, Markus?«

Er fand nicht gleich die richtigen Worte.

»Ich habe viel über uns nachgedacht, Hanni. Sie sind wahrscheinlich die einzige Frau auf der Welt, die zu mir gepaßt hätte. Aber Sie dürfen Ihr junges Leben nicht an mein verpfuschtes ketten. Ich hätte Sie früher finden müssen; vielleicht wäre alles anders gekommen«, stöhnte er.

Hanni saß mit grauem Gesicht neben ihm. Scham versengte ihr Herz. Sie hatte sich umsonst erniedrigt. Die Schlacht war verloren. Ein wütender Schmerz tobte in ihrer Brust.

Farbige Lichter tauchten auf. Der Wagen rasselte über eine Brücke. Dann fuhren sie durch düstere, alte Gassen zum Bahnhof. Der Zug war noch nicht eingelaufen. Markus machte Miene, Hanni an den Perron zu begleiten.

Sie schüttelte den Kopf.

»Richten Sie schöne Grüße an Ihre Familie aus. Ich lasse für alles danken«, sagte sie mit vertrockneter Stimme.

Markus nickte und bot ihr die Hand zum Abschied.

Eine Mauer stand plötzlich zwischen ihnen. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen.


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