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Frau Marion rauschte hochmütig durch das Vestibül des Grand Hotels in St. Moritz. Verschiedene Damen bestaunten neidzerfressen ihren märchenhaften Chinchillamantel. Zwei Pagen stritten sich um die Ehre, die gläserne Windschutztür vor ihr aufzureißen. Denn über Mr. Goldwyns Reichtum waren ganze Sagen in Umlauf. Nicht jeder Sterbliche konnte sich wochenlang zwei komplette Appartements auf der Seeseite leisten.
Frau Marion schritt zu dem Schlitten, der vor dem breiten Portal ihrer harrte. Flapper, der junge Sekretär, öffnete ehrfurchtsvoll den Schlag, hüllte seine Gebieterin in Decken und nahm schließlich ihr gegenüber bescheiden Platz. Dann gab er dem Kutscher ein Zeichen, loszufahren. Es galt einen Ausflug ins Berninatal. Cyrus Goldwyn war vor etlichen Tagen Geschäfte halber nach Zürich gereist und wurde erst morgen abend zurückerwartet.
Mit melodischem Geklingel sauste der Schlitten den Hang hinunter und hielt auf den See zu. Sportlich gekleidete Gestalten besäumten den Weg. Bunte Sweater und Wollmützen leuchteten; blanke Augen und fröhliche Gesichter lächelten. Schnee stäubte. Sonne schien. Man sah Schlittschuhe, Skier, Skeletons und Bobsleighs. Kurz, man war mitten in der Saison. Zur Rechten starrte der Julier trotzig gen Himmel, etwas weiter weg schimmerte das schneeige Haupt des Piz de la Margna. Die Luft klirrte vor Kälte.
Frau Marion steckte ihr Näschen aus dem Pelz und erkundigte sich: »Haben Sie das Mittagessen im Berninahospiz bestellt?«
»Jawohl, Mrs. Goldwyn«, beeilte sich Joe Flapper zu erwidern und schrak aus seinen Gedanken empor, die sich mit seiner schönen Gebieterin beschäftigt hatten. Seine Stimme klang unfrei wie immer, wenn er mit Mrs. Goldwyn sprach.
»Danke. Ein prachtvoller Tag, Flapper.«
»Ein wunderbarer Tag, Mrs. Goldwyn.«
Marion kniff die Augen ein wenig zusammen und betrachtete unauffällig den jungen Sekretär. Dann eilten ihre Blicke anderswohin. Sie hatte eine Antipathie gegen verträumte Männer, die wie Wachspuppen eines Kleidergeschäftes wirkten.
Jetzt flitzte der Schlitten durch die dunklen Arvenwälder, die am Fuße des Piz Rosatsch lagen. Graugrüne Flechten hingen gleich Bärten von den Ästen. Durch die Baumwipfel glänzten weiße Berge. Ein kleiner zugefrorener Waldsee tauchte auf. Dann kam Pontresina in Sicht. Man fuhr am Berninabach entlang. Das Roseggtal sprang auf, floh vorüber. Der Himmel war blau, schwarzgrün die Wälder an den Hängen des Piz Languard, das übrige weiß.
Endlich näherte man sich den »Berninahäusern«.
Wie verstreutes Kinderspielzeug lagen die paar langgestreckten Hütten in der Einsamkeit dieses erhabenen Hochgebirgstales. Ein Fremder im Bergsteigerkostüm stand davor und beobachtete durch seinen Krimstecher die Diavolezzagruppe. Es war ein junger, schlanker Mensch mit einem gebräunten Gesicht. Als das Trappeln der Pferdehufe näher kam, sah er dem Schlitten entgegen. Plötzlich stutzte er.
Auch Marion war so betroffen, daß sie alle Farbe verlor. Denn der Fremde war entweder d'Esterels Geist oder ein Mann, der dem Vicomte zum Verwechseln ähnlich sah.
Nun zog der Fremde seine Wollmütze und ging auf das Gefährt zu. Es war tatsächlich d'Esterel. Marion faßte sich und ließ halten. Sie streckte d'Esterel die Hand entgegen und stammelte verwirrt:
»Ich denke, Sie sind tot, Vicomte?«
»Guten Tag, Frau Marion. Sie haben recht, wenn es programmäßig gegangen wäre, müßte ich jetzt eigentlich tot sein. Denn ein Sturz von der Engelsbrücke ist keine Kleinigkeit. Aber ich habe, soll man Gott sei Dank oder leider sagen, einen ziemlich harten Schädel. Deshalb bin ich mit einem Bruch der Schädeldecke und einer Rißwunde davongekommen. Vor acht Tagen haben sie mich aus dem Spital entlassen.« Der junge Franzose war gereifter, männlicher geworden in den letzten Wochen und hatte das Knabenhafte endgültig abgestreift.
»Und wie kommen Sie ausgerechnet hierher?«
»Ich bin Ihnen nachgereist, Frau Marion«, flüsterte d'Esterel so leise, daß ihn die andern nicht verstanden.
Marion wendete sich mit raschem Entschluß an Flapper:
»Sie können hier zu Mittag essen, Flapper. Ich fahre mit dem Herrn Vicomte allein nach dem Hospiz. Auf dem Rückweg nehme ich Sie wieder mit.«
Der Sekretär stieg aus und verneigte sich stumm. Er war gekränkt, er war unglücklich. Warum behandelte ihn diese Frau, für die er durch die Hölle zu gehen bereit war, wie einen lästigen Domestiken? Warum demütigte sie ihn vor diesem aufgeblasenen Vicomte? Langsam schritt er auf das kleine Wirtshaus zu. –
Im Weiterfahren sagte Marion:
»So, nun sind wir allein. Der Kutscher in seinem dicken Pelz versteht uns nicht. Erzählen Sie doch. Wir alle hielten Sie bis heute für tot. Wir sind nämlich am Tag nach dieser irreführenden Zeitungsmeldung aus Rom abgereist. Was hatten Sie überhaupt unter der Engelsbrücke zu suchen, lieber Vicomte?«
»Ich hatte die Absicht, ein bißchen Selbstmord zu begehen. Und zwar Ihretwegen, Frau Marion«, sagte d'Esterel ernst.
Sie zuckte zusammen. Sie empfand etwas wie Stolz, daß dieser junge Mensch für sie in den Tod zu gehen bereit gewesen war. Ihre Wangen röteten sich. d'Esterel berichtete, was sich in jenem Spielklub zugetragen, und wie er schließlich den Entschluß gefaßt hatte, seinem Leben ein Ende zu machen.
»Sie sind ein närrischer Junge, Vicomte«, versuchte Marion zu scherzen.
»Närrisch oder nicht, jedenfalls war ich bis über die Ohren in Sie verliebt, Frau Marion, und bin es heute noch. Ich bin Ihnen eigens ins Engadin nachgereist. Wenn uns vorhin nicht der Zufall zusammengeführt hätte, wäre ich morgen in St. Moritz erschienen.«
Marion schlug heuchlerisch die Augen nieder.
»Still, so etwas darf ich nicht einmal hören. Oder wissen Sie nicht, daß ich seit kurzem Mrs. Goldwyn bin?«
Er lachte. Spöttisch, grausam. Hatte er darum sein Schloß in der Normandie verkauft, hatte er darum viele Wochen lang Unsägliches erduldet, um jetzt mit einem lächerlichen Hinweis abgespeist zu werden? Was kümmerte ihn dieser vertrocknete Amerikaner. Er raunte heiser:
»Gewiß, weiß ich das. Aber Sie werden doch nicht behaupten wollen, liebe Marion, daß Sie diesen Goldwyn lieben?«
»Weshalb sollte ich meinen Gatten nicht lieben«, sagte sie mit dem unschuldigsten Gesicht von der Welt. »Cyrus ist gut zu mir, er vergöttert mich, er liest mir jeden Wunsch von den Augen ab. Ich glaube, Sie sind im Irrtum, Vicomte.«
»Sie sind eine vorzügliche Schauspielerin, Marion, aber mich täuschen Sie nicht. Ich weiß, daß ich Ihnen nicht gleichgültig bin. Und ich bin hierher gekommen, um mir meinen Tribut zu holen«, lächelte er brutal.
Sie warf ihm unter halb geschlossenen Lidern hervor einen Blick zu, der sein Blut stürmisch durch die Adern brausen ließ. Er warf alle Vernunft über Bord, bog mit raschem Griff ihren Kopf zur Seite und suchte ihren verlockenden Mund. Marion leistete ihm keinen Widerstand.
d'Esterels Augen leuchteten in stillem Triumph. Er wußte, daß dieser Kuß die erste Bresche in das Glück jenes Verhaßten gelegt hatte. Man hetzte einem Vicomte d'Esterel nicht ungestraft ungarische Abenteurer auf den Hals.
*
Der Engadinexpreß, in dem sich Mr. Cyrus Goldwyn befand, raste durch die rasch einbrechende Dämmerung. Bergün, Preda, Spinas eilten vorüber. Orangen leuchtete das Firmament. Über fußtiefen Schnee hoben sich die Pyramiden blaugrüner Koniferen. Der Zug jagte donnernd um die Kurven und Kehren des Albulagebirges. Von Zeit zu Zeit stürzte er sich in schwarzgähnende Tunnels, um unermüdlich und tapfer am andern Ende wieder zum Vorschein zu kommen.
Cyrus Goldwyn schaute auf die Uhr, nahm die karrierte Reisemütze ab und faltete seine Kniedecke zusammen. Er schloß den Lederkoffer zu und stellte ihn neben sich. Dann starrte er mit blinzelnden Augen nach der milchweißen Halbkugel des Deckenlichtes und dachte an seine Frau …
Es war ein wenig töricht gewesen, dieses schöne, junge Geschöpf alberner Geschäfte halber tagelang sich selbst zu überlassen! Hatte er nicht seine Agenten, seine Makler? Konnten sie nicht die Liquidation seiner Unternehmungen auch ohne ihn durchführen? Was konnte in vier langen Tagen nicht alles geschehen sein! Marion glich einem edlen Vollblut mit Launen und überschüssigen Kraftreserven. Sie war kokett und unberechenbar. Es gehörte ein ganzer Mann dazu, sie zu bändigen und ihre überschäumende Lebenskraft in geordnete Bahnen zu lenken. Und es gab Zeiten, wo Cyrus Goldwyn an sich zweifelte.
Er preßte die Lippen zusammen.
Was hatte der Arzt in Zürich gesagt? »Sie brauchen Ruhe, mildes Klima und strengste Diät. Keine Exzesse, bitte. Dann können Sie Ihr Leben um viele Jahre verlängern.« Goldwyn dachte nach. Seine Gesundheit hatte sich in den letzten Wochen zweifellos verschlimmert. Er fühlte sich müde und abgeschlagen. Der Zuckergehalt kletterte beängstigend in die Höhe. Kein Wunder. Er hatte sich von Marion zu allerhand Unsinn verleiten lassen, zu unverantwortlichen Drinks und Sektgelagen. Zum Teufel, das mußte aufhören! Er hatte geheiratet, um seinen Lebensabend in Ruhe zu genießen, nicht um sich zu ruinieren.
Der Zug hielt mit einem scharfen Ruck. Samaden. Durch die Fenster mahnten die todernsten, weißen Zinnen des Piz Palü wie die Mauern eines Friedhofs. Cyrus Goldwyn klapperte mit den Zähnen. Er wurde nicht gern an den Tod erinnert. Er klammerte sich an das Leben mit der ganzen Kraft eines alternden Mannes. Er liebte es, weil es einmalig und unwiederholbar war, und weil man es nicht kaufen konnte. Hinter dem Leben reckte sich etwas Unheimliches, Dunkles, über das niemand sicheren Bescheid wußte. Kein Tag durfte vergeudet werden, wenn man fünfundfünfzig Jahre war. Eine grenzenlose Sehnsucht nach seiner Frau befiel ihn plötzlich.
Wie gut, daß er einen Tag früher als beabsichtigt zurückkehrte! Flapper würde sein Telegramm aus Zürich an Marion weitergegeben haben. Nun würden beide am Bahnhof sein.
»St. Moritz«, rief der Schaffner. Türen flogen auf. Goldwyn griff nach seinem Koffer. Plötzlich stand Flapper, der Allgegenwärtige, vor ihm und nahm ihm den Koffer aus der Hand.
»Wo ist meine Frau?« forschte der Amerikaner halblaut.
Der Sekretär zögerte eine Sekunde. Jene Demütigung bei den »Berninahäusern« fiel ihm ein. Es war Zeit, sich zu rächen. Er sagte mit seinem sanftesten Gesicht:
»Die gnädige Frau ist von ihrer Schlittenfahrt nach dem Berninahospiz noch nicht zurück. Sie hat unterwegs einen Bekannten getroffen, der an meiner Stelle mit ihr weitergefahren ist. Gegen fünf Uhr telefonierte sie mich vom Hospiz aus an, ich solle nicht länger in den ›Berninahäusern‹ auf sie warten, sondern allein mit der Elektrischen zurückfahren. Als ich in St. Moritz eintraf, fand ich Ihr Telegramm vor, Mr. Goldwyn. Ich vermute, die gnädige Frau wird morgen früh mit dem Schlitten zurückkommen.«
Cyrus Goldwyn verspürte ein Brennen in der Kehle. Er hatte sich so sehr auf Marion gefreut, daß ihm diese Nachricht wie ein großes Unglück erschien. Er sagte gereizt:
»Warum haben Sie Mrs. Goldwyn mein Telegramm nicht telefoniert?«
»Es war unmöglich, eine Verbindung zu bekommen. Wahrscheinlich hat eine Lawine die Leitung zerstört.«
»So.« Das war alles, was Goldwyn erwiderte. Er war wie betäubt. Ein unangenehmes Gefühl beschlich ihn. Marion verbrachte den Abend in Gesellschaft eines andern in einem abgelegenen Hospiz! Er verfluchte die Geschäfte, die ihn vier Tage lang in Zürich festgehalten hatten.
Sie hatten den Bahnhof längst im Rücken. Unter dem grellen Schein der Bogenlampen funkelte der Schnee in tausend Farben. Plötzlich fragte Goldwyn gepeinigt:
»Kennen Sie zufällig den Herrn, den meine Frau unterwegs getroffen hat, Flapper?«
Endlich! dachte dieser.
»Gewiß. Es war der Vicomte d'Esterel.«
»Sind Sie verrückt geworden, Mensch?!« stieß der Amerikaner hervor und blieb stehen.
Der Sekretär berichtete, was er mitangehört hatte.
Mr. Goldwyn erwiderte kein Wort. Die Tatsache, daß sein damaliger Nebenbuhler noch am Leben war und jetzt bei Marion weilte, benahm ihm fast den Verstand. Eifersucht versengte sein Herz. Er kam in dieser Nacht nicht ins Bett, sondern durchmaß stundenlang das Geviert seines Zimmers, bis ihn der Schlaf im Stehen überwältigte.
*
Als Frau Marion am nächsten Morgen mit strahlendem Gesicht zurückkehrte, trat ihr Cyrus Goldwyn grau und übernächtig entgegen.
»Ich bin um einen Tag zu früh heimgekommen, wie?« sagte er höhnisch. »Hast du dich wenigstens gut amüsiert, meine Liebe?«
Marion erfaßte blitzschnell die Situation. Sie entgegnete mit erkünstelter Ruhe:
»Ach so, du meinst d'Esterel? Man wird dir erzählt haben, daß ich ihn unterwegs getroffen habe? Nun, du kannst dir denken, daß wir uns viel zu sagen hatten. Es steht nicht alle Tage einer von den Toten auf. Wir kamen ins Plaudern. Als wir aufbrechen wollten, war es zu spät zur Heimfahrt. Wir wären mitten in die Dunkelheit hineingekommen. Unser Engadiner-Kutscher riet uns selbst davon ab.«
»Wenn du auf deinen Ruf hieltest, hättest du die Rückfahrt trotzdem riskieren müssen«, sagte er scharf.
»Du bist auf den Vicomte eifersüchtig? Wie lächerlich!«
Goldwyns Schläfenadern schwollen an.
»Gestatte, daß ich dein Benehmen unverantwortlich finde«, keuchte er. »Man bleibt mit einem bekannten jungen Mann nicht eine Nacht lang unter demselben Dache, wenn man Wert darauf legt, für eine anständige Frau zu gelten.« Seine Stimme schnappte über vor Erregung. Es war dies der erste Streit in ihrer Ehe. Bisher hatte Goldwyn immer nachgegeben. Aber in diesem Falle, wo sie an seine empfindlichste Stelle rührte, war er entschlossen, sein Recht zu wahren.
»Schrei mich nicht so an, ja? Ich weiß selbst, was ich zu tun und zu lassen habe. Bilde dir ja nicht ein, ich werde meine Jugend an deiner Seite vertrauern. Ich bin kein Geschöpf, das sich von einem eifersüchtigen, alten Manne gängeln läßt. Schlage dir solche Gedanken ein für allemal aus dem Kopf, wenn wir Freunde bleiben sollen«, fauchte sie zornig.
Cyrus Goldwyn biß die Zähne zusammen. Jugend! Das war es. Dieses Wort hatte ihn mehr als alles andere verwundet. d'Esterel war jung, Marion war jung, nur er selbst war ein welker, alter Mann, über den die anderen hinwegschritten. Irgend etwas, das er für ewig und unzerstörbar gehalten hatte, zersprang in dieser Minute. Er schritt wortlos aus dem Zimmer und hatte einen gramvollen, einsamen Mund.