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XII

Römische Schlendertage!

Eine Fülle neuer Eindrücke betäubte Markus in wohltätiger Weise. Jenes Zwischenfalls in der Florentiner Pension war nicht mehr gedacht worden. Die Leidenschaft, die Markus einen Tag lang für seine Begleiterin empfunden hatte, brannte herunter wie eine Flamme, der man die Luft entzieht. Es war eine Aufwallung gewesen, die ebenso schnell verschwand, wie sie gekommen war. Markus machte den Eindruck eines stillen, freundlichen Mönches, der alles Unbotmäßige in sich niedergekämpft hat und wunschlos geworden ist. Er war nicht mehr reizbar oder aufbrausend und verblüffte Fräulein Delius nicht mehr durch melancholische oder pessimistische Anwandlungen. Er begann, die Vergangenheit langsam zu vergessen.

Hanni Delius stand dieser Metamorphose nicht ganz sicher gegenüber. Die Tatsache, daß sich Markus ihren Anordnungen widerspruchslos fügte, bereitete ihr keine ungemischte Freude. Sie fand dieses Verhalten schlafmützig und fällte mit der Unbedingtheit ihrer dreiundzwanzig Jahre das Urteil: Scheithauer ist ein gutes, harmloses Schaf. Zuweilen allerdings, wenn sie an Markus Augen einen jener versonnenen, in sich gekehrten Blicke erhaschte, revidierte sie dieses lieblose Urteil und empfand Bedauern mit einem Manne, der zweifellos an einer unsichtbaren, schweren Bürde trug.

Markus und Hanni füllten die römischen Tage damit, daß sie die Sehenswürdigkeiten der Ewigen Stadt besichtigten, Spaziergänge machten und Ausflüge nach Ostia Mare oder in die nahen Albanerberge unternahmen. Am Abend oder an regnerischen Tagen diktierte Markus sein Manuskript in die kleine Reiseschreibmaschine. So verrann eine Woche, und die zweite brach an. – – –

Augenblicklich saßen sie in den schönen Anlagen vor den Thermen des Diokletian und starrten ziellos in das Grün der Palmen. Wenn die Sonne schien, ließ es sich noch immer ganz gut im Freien aushalten. Nun zog Markus seine Uhr.

»Es ist elf Uhr vorüber, Fräulein Delius. Wollen wir vor dem Essen noch ein bißchen bummeln? Vielleicht Läden betrachten?«

Hanni war es recht. Während Markus seinen Überzieher zuknöpfte, sagte er: »Ist es nicht wunderbar, daß man hier im Freien sitzt, während bei uns daheim tiefer Schnee liegt?«

»Wenn die Kerls nur bessere Zigaretten hätten«, klagte Fräulein Delius. »Das Land wäre zu ertragen, obgleich einem der waschzuberblaue Himmel allmählich auf die Nerven geht.«

»O weh, Fräulein Delius; das klingt nicht eben begeistert.«

»Stimmt; wir haben die Rollen getauscht, Herr Doktor. Wissen Sie noch, wie Sie Venedig eine Idealistenfalle nannten? Heute möchten Sie am liebsten römischer Bürger werden, während ich mich nach unserm Norden sehne, der weniger operettenhaft, dafür aber ehrlicher ist. In vierzehn Tagen feiert man bei uns Weihnachten. Wenn ich daran denke, kriege ich Heimweh. Manchmal bin ich daran, loszuheulen wie ein Schloßhund.«

Markus blieb erschrocken stehen.

»Heimweh haben Sie? Daß Sie schwermütig sein können, ist mir neu an Ihnen.«

»Sie halten Sentimentalität wohl für ein bayerisches Reservatrecht?« entgegnete Hanni ärgerlich.

»Durchaus nicht, Fräulein Delius. Aber ich habe Sie immer für eine sehr energische, junge Dame gehalten, zu der solche Regungen eigentlich nicht passen.«

»Das bißchen Selbstbewußtsein ist nur Tünche. Damit die andern nicht Schindluder mit mir treiben. Im Grunde genommen bin ich wie Butter.«

»Nun übertreiben Sie.«

»Fällt mir nicht ein.«

Sie schritten jetzt unter den Kolonnaden der Piazza dell' Esedra und bogen in die Via Nazionale ein. Vor einem Schmuckladen blieb Scheithauer stehen und studierte eifrig die ausgestellten Sachen.

»Seit wann interessieren Sie sich für Juwelen?« spottete Hanni.

»Ich möchte Ihnen eine kleine Freude machen, Fräulein Delius«, sagte Markus ernsthaft. »Sie haben es um mich verdient. Wie wäre es mit diesem Anhänger?«

»Anhänger trägt man nicht mehr«, belehrte sie ihn. »Und überhaupt – wollen Sie mich beleidigen?«

»Warum sollte ich Sie beleidigen wollen, Fräulein Delius?«

»Weil Sie einer fremden, jungen Dame ein Geschenk machen wollen«, erwiderte sie und machte ein scheinheiliges Gesicht.

»Sie sind mir nicht mehr fremd, Fräulein Delius«, sagte er eifrig. »Sie sind mir wie ein guter Kamerad. Was finge ich ohne Sie an? Nein, so dürfen Sie die Geschichte nicht auffassen.«

Sie lächelte spitzbübisch.

»Ja, wenn Sie meinen –«

Sie betraten also den Laden, und Markus wählte für seine Begleiterin ein dünnes Platinkettchen, das man als Armreif tragen konnte. Hanni empfand große Freude darüber; wenn sie es sich auch nach außen hin nicht gerade merken ließ. Als sie an der Amerikanischen Kirche vorüber wollten, sahen sie sich durch einen kleinen Auflauf daran gehindert. Festlich gekleidete Menschen schritten aus dem Portal, das von Neugierigen umlagert war. In einer Seitenstraße hielten mehrere Automobile.

Plötzlich sah Markus etwas, das ihm den Atem benahm.

Er sah Marion.

Es war kein Zweifel möglich. Seine Frau schritt am Arme eines feierlich blickenden, älteren Herrn aus der Kirche, überquerte den Gehsteig und stieg in eine dunkelglänzende, mit Orangenblüten gezierte Limousine. Marion trug einen kostbaren Spitzenschleier und ein Kleid aus weißer, atlasschimmernder Seide. Um ihren roten Mund schwebte ein sieghaftes Lächeln.

Markus selbst, der keine drei Meter von dem Paar entfernt war, blieb ungesehen, da er sofort nach dieser Entdeckung seinen Kopf hinter dem seines Vordermannes verbarg.

Eine Wagentür klappte zu. Die Limousine rollte geräuschlos von dannen. Die anderen folgten ihr. Die gaffende Menge verlief sich.

Markus griff nach seinem Herzen. Er mußte für einen Moment die Augen schließen und war leichenblaß.

»Die Straße ist frei; gehen wir«, drängte Fräulein Delius.

Markus versuchte gehorsam, einen Fuß zu heben. Es ging nicht. Die Plötzlichkeit dieser unvermuteten Begegnung hatte ihn um alle Fassung gebracht. Hanni sah ihm erstaunt ins Gesicht und erschrak.

»Was ist denn los? Ist Ihnen nicht wohl?« forschte sie.

Er nickte und ließ sich von ihr in eine Seitenstraße führen.

»Um Himmels willen, was ist denn? So reden Sie doch«, sagte sie ängstlich.

»Später. Warten Sie hier einen Augenblick. Ich bin gleich wieder da«, bat Markus, machte sich los und betrat durch eine Seitenpforte die Kirche. Ein alter Mann löschte am Altar Kerzen aus. Markus nahm sich zusammen und wendete sich an den Greis, der hier Sakristan zu sein schien:

»Können Sie mir sagen, was das für eine Hochzeit war?« Dabei deutete er auf die mit roten Tüchern ausgeschlagenen Betstühle.

»Nix Deutsch«, lächelte der alte Mann, aber er schien Marks Frage zu erraten. Denn er zog aus seinem schwarzen Rock eine weiße Karte und überreichte sie dem Fremden. »Ecco, una cartolina, signor.« Es war eines jener Einladungskärtchen, wie sie zu Trauungsfeierlichkeiten verschickt werden. Büttenpapier mit zierlichem Druck.

Markus gab dem Manne ein Trinkgeld und verließ die Kirche. Draußen trat er zu Fräulein Delius und ersuchte sie: »Lesen Sie mir das vor, bitte. Es ist Englisch.« Hanni las:

»Mister Cyrus Goldwyn und Frau Marion, geborene Baronesse von Hesterberg, geben sich die Ehre, Euer Hochwohlgeboren zu der am 9. Dezember vormittag ¾11 Uhr in der Paulskirche stattfindenden Trauung einzuladen. Gegeben zu Rom, ›Villa Malta‹, Piazza della Trinità.«

Hanni gab Marion das Kärtchen zurück. »Ich möchte wissen, was daran Aufregendes ist? Es soll schon mal einer geheiratet haben. Hat diese Trauung Sie so aus der Fassung gebracht?«

»Marion von Hesterberg ist meine Frau gewesen«, entfuhr es Markus.

Fräulein Delius starrte Dr. Scheithauer erschüttert an.

*

Eine Viertelstunde später saßen sie einander in ihrem Hotelzimmer gegenüber.

Hanni hatte den Kopf in die Hand gestützt und grübelte darüber nach, wie seltsam es sei, daß der Mann, mit dem sie nun viele Wochen auf der Tour war, sich als »Geschiedener« entpuppte. Das Rätsel dieser sonderbaren Ehe war nun gelöst. Sie war gespannt auf die Enthüllungen, die jetzt folgen mußten.

Marks Gesicht war noch immer sehr blaß. Er nagte an seiner Unterlippe und dachte: Marion hat sich rasch, sehr rasch getröstet! Wie steif und feierlich ihr neuer Gatte ausgesehen hatte! Vermutlich war er reich, das konnte man sich an den Fingern abzählen. Wie eng die Welt war! Um Frieden zu erringen, fuhr man nach Italien. Bereits in Rom stolperte man über Marion. War das Zufall? Bestimmung? Jedenfalls war die mühsam erkämpfte Ruhe dahin. Wie weit mußte man fliehen, um vor derlei Überraschungen sicher zu sein? Nach Indien? Auch Indien war keine Zuflucht. Schon auf dem ersten Dampfer konnte man der Ackermann begegnen. Grenzenlose Verzweiflung stürzte über Markus hin. Endlich erinnerte er sich, daß ihm gegenüber ein junges Mädchen saß, das auf eine Erklärung wartete. Wer a gesagt hatte, mußte auch b sagen. Vielleicht war es ganz gut so. Vielleicht war es das einzig Richtige, alles zu beichten, um neuen Zufällen zuvorzukommen. Er raffte sich auf und begann mit müder Stimme:

»Ich bin Ihnen ein Geständnis schuldig, Fräulein Delius, das eigentlich schon in München fällig gewesen wäre. Aber so egoistisch ist der Mensch; Sie werden mich sofort verstehen. Ich verschwieg Ihnen damals nämlich, daß die Scheidung meiner Ehe im Gange war. Vielleicht wären Sie mit einem alleinstehenden Herrn gar nicht nach Italien gefahren?«

Hanni schwieg. Ihre Finger spielten mit einem Troddelchen des Plüschsessels. Aus ihrer gewaltsam beherrschten Miene war keine Antwort herauszulesen. Markus fuhr, seinen ganzen Mut zusammennehmend, fort:

»Aber das ist noch nicht alles, Fräulein Delius. Ich bin als der schuldige Teil erklärt worden. Es fällt mir hart, das zu sagen, aber ich will Sie nicht weiterhin belügen.«

Hanni machte ein ungläubiges Gesicht.

»Sie – schuldig?«

»Ja, ich. Marion – Pardon – meine Frau wollte nicht länger an einen Mann gefesselt sein, der im Gefängnis gesessen ist«, erklärte Markus mit zuckenden Lippen.

Hanni starrte betroffen in Scheithauers Gesicht.

»Man hat mich unschuldig verurteilt, Fräulein Delius. Das schwöre ich Ihnen beim Andenken an meine selige Mutter. Ich kann Sie freilich nicht zwingen, es zu glauben«, stammelte er mit jäh einfallender Mutlosigkeit. »Es geht toll zu im Leben. Man bezichtigt einen Menschen, der keiner Fliege etwas zuleide tun kann, der abscheulichsten Dinge, man schwört ein bißchen, und schon ist eine Existenz vernichtet. Drei Monate. Kehrt marsch! Oh, das geht beim Gericht unheimlich rasch, liebes Fräulein.« Er lachte verbittert vor sich hin. Dann erhob er sich und trat zum Fenster.

Als er zurückkehrte, hatte er ein verschlossenes Kuvert in der Hand, worin ein Tausendmarkschein stak. Er sagte mit resigniertem Lächeln zu der regungslos Dasitzenden:

»Auf alle Fälle will ich Ihnen nicht länger zumuten, mit einem entlassenen Sträfling zusammen zu sein. Nehmen Sie, bitte. Es ist eine kleine Entschädigung für Ihren Schrecken und die anderen Ungelegenheiten, die ich Ihnen bereitet habe. Ich danke Ihnen herzlich für alle Freundlichkeit. Sie hatten es nicht leicht mit mir. Welchen Zug werden Sie benützen, Fräulein Delius?«

Hanni erwachte aus einem schlimmen Traum. Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Dieser stille, gütige Mensch – ein Zuchthäusler? Darum also sein gedrücktes Wesen all die Wochen her! Was mochte der Arme gelitten haben! Eine Welle von Mitleid flutete durch ihr Herz. Sie sprang erregt in die Höhe und rief:

»Ihre Richter waren Esel! Verzeihen Sie den schroffen Ausdruck. Aber da hört ja die Weltgeschichte auf. Sie – und ein Verbrechen! Das ist Irrsinn. Ein bißchen Menschenkenntnis traue ich mir schließlich auch zu. Was wollen Sie denn mit dem Kuvert? Geld? Nicht zu machen. Ich will nichts gehört haben.«

»Sie sind ein gutes Ding, Fräulein Delius«, sagte Markus gerührt. »Aber ich gebe Ihnen zu bedenken, daß Sie sich mit mir kompromittieren.«

»Was gehen mich die Leute an«, erwiderte sie und war bereit, Scheithauer nach dem Nordpol zu folgen.

Markus erinnerte sich seiner finanziellen Lage, die nicht rosig war. Konnte er es verantworten, sich noch länger den Luxus einer Reisebegleiterin zu leisten? Er bat:

»Vernünftig sein, Fräulein Delius. Es ist nicht nur wegen der Leute.«

»Sondern?«

»Ich benötige Sie nicht mehr«, sagte er so schonend wie möglich. »Bedenken Sie, meine Praxis ist vernichtet. Es ist bestimmt das beste, wir trennen uns jetzt.«

Er schickt mich weg, dachte sie, und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen.

»Schön, ich will mich nicht aufdrängen.«

»Wann gedenken Sie zu fahren, Fräulein Delius?«

»Morgen mittag«, entgegnete sie tapfer; aber das Weinen war ihr nahe.

In dieser Stunde wurde sie sich bewußt, daß sie Markus Scheithauer liebte.


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