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Acht Tage nach diesem Besuch schritt Fräulein Delius nach Geschäftsschluß auf das Nationalmuseum zu, wohin Hergotin sie bestellt hatte. In der Frühe war die alte Frau Ackermann einer Herzlähmung erlegen. Hanni begrüßte es, wenigstens für Stunden aus jener Traueratmosphäre erlöst zu werden, die über der Wohnung in der Pfandhausgasse lag. Die nun völlig vereinsamte Tochter der Verstorbenen gebärdete sich wie eine Unzurechnungsfähige.
Alexander Hergotin kam Hanni elegant und unternehmungslustig entgegen. Er küßte ihr artig die Hand und sagte:
»Prachtvoller Abend trotz dem Sauwetter. Das machen Sie, Fräulein Delius. Wie wäre es mit einer Ananasbowle im Odeonkasino? Gehorsamster Vorschlag.«
»Nanu, wollen Sie etwas feiern?«
»Erraten. Ich sage es ja – ein helles Köpfchen. Und da wir sozusagen Kollegen sind, bleibt nichts anderes übrig, als daß Sie ja sagen und mitfeiern. Oder sind Sie etwa nicht angezogen? Das behaupten die Frauen nämlich immer in solchen Fällen.«
»Es geht an«, lächelte sie. Dann wurde sie unvermittelt ernst. »Die alte Frau Ackermann ist heute morgen gestorben.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich. Die arme Frieda tut mir leid.«
»Das Mädchen kann einem leid tun, da haben Sie recht«, erwiderte er zweideutig.
»Offen gestanden, ich kann heute nicht fröhlich sein mit dem Bewußtsein, daß Sie über dem armen Scheithauer vielleicht die Schlinge zusammengezogen haben, Herr Hergotin«, sagte Hanni bedrückt.
»Nu machen Sie aber 'nen Punkt, Fräulein Delius! Für so taktlos dürfen Sie mich nicht halten. Ihren Doktor habe ich anständig herausgepaukt, sonst würde ich es nicht wagen, Sie einzuladen. Ich weiß doch, wie Sie zu ihm stehen.«
»Nichts wissen Sie«, entgegnete Hanni zornig und gedachte jener beschämenden Fahrt an den Bahnhof in Wasserburg. Die letzten acht Tage waren in dumpfer Verzweiflung verflossen. Sie hatte sich geschworen, nie mehr nach Altenbuch zu fahren und den Karren laufen zu lassen, wie er wollte. Mochte Hergotin allein zusehen, wie er weiterkam. Sie für ihre Person war entschlossen, keinen Finger mehr zu rühren. Trotz und verletzter Frauenstolz machten sie ungerecht gegen Markus. Zuweilen ertappte sie sich sogar bei Gedanken an Tobias Steguweit. Aber es kam nie so weit, daß sie ihm schrieb. – – – Und jetzt trat dieser Hergotin plötzlich auf den Plan und jonglierte mit neuen Hoffnungen! Unsicher, wie sie sich dazu stellen sollte, fuhr sie fort:
»Also in Gottes Namen; lassen Sie Ihre Bowle vom Stapel. Aber nun spannen Sie mich nicht länger auf die Folter.«
»Heißen Dank. Sobald wir im Trockenen sitzen, erzähle ich Ihnen alles.« Er winkte ein Auto herbei.
Während der kurzen Fahrt erkundigte sich Hanni:
»Wo steckten Sie denn die ganze Zeit? Wir haben uns eine volle Woche nicht gesehen.«
»Werden Sie bei der Bowle erfahren. Aber nun zu Ihrer Reise. Was haben Sie in Altenbuch ausgerichtet? Gibt es Neues?«
»Wenig.«
»Hm, das ist nicht viel.«
»Kunststück bei Ihren Drohungen. Ich habe also lediglich auf den Busch geklopft und erfahren, daß Scheithauer um die bewußte Zeit tatsächlich in Cuxhaven war. Über den Zweck dieser Reise wollte er nichts aussagen; er ließ nur so viel durchblicken, daß seine damalige Anwesenheit in Cuxhaven mit jemand zusammenhinge, über den er nicht gern spräche. Außerdem blieb er fest dabei, die Bekanntschaft der Ackermann erst in seinem Sprechzimmer gemacht zu haben.«
»Sie haben ein bißchen viel gefragt, liebes Fräulein. Zum Glück ist Doktor Scheithauer ein harmloser Mensch.«
Hanni wurde ärgerlich.
»Hätten Sie mir freie Hand gelassen und mir das Bild mitgegeben, dann wüßten wir jetzt, woran wir sind. Ich hätte ihm seine Photographie hingehalten und eine Erklärung gefordert.«
»Regen Sie sich nicht auf, Fräulein Delius. Die Geschichte ist auch so ziemlich geklärt. Das werden Sie in Bälde erfahren.«
In diesem Augenblick hielt das Auto vor dem Odeonkasino. Hergotin half Fräulein Delius aus dem Wagen. Sie stiegen die Treppe empor und nahmen in einer der hübschen Nischen Platz. Hergotin gab dem Kellner seine Wünsche an. Grüne Tischlämpchen verbreiteten mildes Licht. Von der Decke, wo das Orchester saß, wehte einschmeichelnde Musik.
»Gemütlich, nicht wahr? Nehmen Sie Aprikosentorte oder Baumkuchen, Fräulein Delius? So, und nun will ich loslegen. Erinnern Sie sich noch jenes Daumenabdruckes auf dem Bilde? Ich habe ihn mit den Daumenabdrücken Doktor Scheithauers verglichen. Es war nicht schwer, sich diese unauffällig zu verschaffen.«
»Und?«, fragte Hanni gespannt.
»Die beiden Abdrücke sind nicht identisch.«
»Wollen Sie damit sagen, daß jener Klecks und die Widmung nicht von Scheithauer stammen?«
»Stimmt, das will ich behaupten. Auch die Schrift ist nicht die des Doktors. Warum haben Sie mir das nicht eher gesagt, Fräulein Delius?«
»Weil es mir nicht aufgefallen ist. Wir haben auf der Reise immer die Schreibmaschine benützt.«
»Aber Sie erzählten doch von seinem Manuskript?«
»Das war stenographiert.«
»Sie sind entschuldigt, Fräulein Delius.«
»Wer hat den Namen Markus' auf dem Bilde mißbraucht?«
»Ich möchte das zunächst noch verschweigen, Fräulein Delius. Vielleicht kommen Sie selbst darauf. Sehen wir überhaupt einmal von der Widmung ab, hinsichtlich deren feststeht, daß sie von einem anderen als Markus Scheithauer geschrieben wurde. Zur Photographie selber. Hier bestehen zwei Möglichkeiten. Entweder handelt es sich bei der dargestellten Person wirklich um Doktor Scheithauer – oder um einen anderen. Solche Ähnlichkeit kommt nämlich manchmal vor. Im ersteren Fall dürfte mit des Doktors Bild Mißbrauch getrieben worden sein; denn er wird nicht seine Photos hergeben, die Widmung aber durch einen Zweiten schreiben lassen. In beiden Fällen steht Ihr Freund gerechtfertigt da. Sehen Sie das ein?«
Sie nickte. Irgendein drosselndes Gefühl, das ihr bis zu dieser Minute den Atem benommen hatte, fiel ab. Sie dachte angestrengt nach und sagte nach einer kleinen Pause:
»Nehmen wir den zweiten Fall. Ein Unbekannter sieht dem Doktor so verblüffend ähnlich, daß sogar ich mich täuschen lasse. Ist das nicht reichlich unwahrscheinlich?«
»Ich betonte schon: Es gibt solche Fälle von absoluter Ähnlichkeit. Allerdings nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen.«
»Dann müßte aber Scheithauers Doppelgänger den Doktor persönlich kennen. Sonst ließe sich ja die Widmung nicht erklären.«
»Sie sind sehr scharfsinnig, Fräulein Delius. Es ist, wie Sie vermuten. Der Doppelgänger kennt Doktor Scheithauer.«
»Sie wissen alles und sagen mir nichts«, schmollte Hanni.
»›Wissen‹ ist zuviel behauptet. Ich habe allerdings so meine Kombinationen. Die Bestätigung hoffe ich erst von der Ackermann zu erhalten. Trösten Sie sich; Sie werden dabei sein, wenn die Frieda beichtet.«
»Sie haben Frieda also im Verdacht, daß sie –?«
»Ich bin sogar überzeugt, daß es die Kleine faustdick hinter den Ohren hat.«
»Und wie sind Sie auf Ihre Vermutungen gekommen? Ich meine vor allem jene Doppelgängergeschichte.«
»Durch Nachdenken, durch Fleiß und durch die Anwendung bewährter Methoden. Auf den in Romanen so beliebten ›Zufall‹ darf sich unsereiner nicht verlassen. Ich bin nach Wasserburg gefahren, habe mir Scheithauer angesehen und nach und nach das ganze Haus durchstöbert. Auf dem Dachboden endlich habe ich das gefunden –« Er entnahm seiner Brusttasche eine vergilbte, alte Photographie und legte sie vor Hanni hin.
»Sie waren in Altenbuch?«, staunte diese.
»Wo denn sonst, liebes Fräulein? Von der Studierstube aus sind solche Fälle nicht zu lösen. Ich habe mich für einen Kunstmaler ausgegeben, der auf der Suche nach reizvollen Motiven ist. Ein abgenützter Trick, auf den die Leute aber immer wieder hereinfallen. Womit über die Familie Scheithauer nichts Abträgliches gesagt sein soll. Biedere Leute, sehr biedere Leute! Also ich quartierte mich auf dem Scheithauer-Hof ein, suchte am Tage und bei Nacht wie ein Haftelmacher und fand endlich dieses Bild auf dem Speicher. Es lag in einem vergessenen Album in einer Bücherkiste. Wenn ich nicht irre, enthält diese Photographie den Schlüssel zu dem ganzen Rätsel. Betrachten Sie sie einmal. Was sehen Sie?«
»Eine junge Frau, die auf einem Stuhl sitzt und in jedem Arm ein Wickelkind hält. Leider ist das Bild so vergilbt, daß man die Gesichter kaum mehr unterscheiden kann.«
»Mehr finden Sie nicht heraus?«
Hanni schüttelte ihren hübschen, blonden Wuschelkopf.
»Geben Sie, bitte. Wir wollen einmal mit meinen Augen betrachten. Die junge Frau, vermutlich die Mutter, hat Simpelfransen und Schinkenärmel. Mode um 1890. Dies bestätigt auch der Firmenstempel am unteren Rand des Bildes: Ignaz Neubauer, Photograph, Wasserburg, 1892. Das Bild ist viele Jahre in Feuchtigkeit und Sonnenhitze gelegen. Darum das verblaßte Aussehen. Weiter! Sie sagten: ›in jedem Arm ein Wickelkind‹. Das ist nicht präzise genug. Gerade auf solche Kleinigkeiten kommt es oft an. Ist es nicht auffällig, daß die beiden Säuglinge bis auf die Wickelbänder gleich gekleidet sind, und daß es überhaupt zwei Säuglinge sind?«
»Wollen Sie mit diesen Wickelkindern Scheithauers Unschuld beweisen?«, spottete Hanni.
»Das will ich allerdings. Passen Sie mal auf. Durch die Jahreszahl 1892, die des Doktors Geburtsjahr entspricht, stutzig gemacht, forschte ich weiter. Ich war bei jenem Photographen, besser gesagt bei dessen Sohn; ferner bei dem Pfarrer, zu dessen Gemeinde Altenbuch gehört. Dieser mußte mir die alten Kirchenbücher und das Sterberegister vorsuchen. Ich bin außerdem in allen möglichen Wirtshäusern gesessen, habe mit Gott und der Welt geplaudert, habe Karten gespielt und unheimliche Mengen Bier konsumiert. Als Resultat dieser, wie Sie zugeben werden, anstrengenden und vielseitigen Bemühungen kann ich Ihnen nun folgendes berichten:
Das Bild, das Sie in Händen halten, stellt Scheithauers Mutter dar mit den im Jahre 1892 geborenen Zwillingen Markus und Michael. Nun gucken Sie, was? Oder wußten Sie, daß Doktor Scheithauer einen Bruder hat?«
»Nein, das wußte ich nicht.«
»Glaube ich gerne. Die Familie Scheithauer vermeidet es nämlich, von diesem Michael zu sprechen. Das muß ein fürchterlicher Schlingel sein, ein Leichtfuß und Tunichtgut. Seit dem Krieg war er verschollen. Im Sommer 1926 tauchte er für ein paar Tage in Altenbuch auf, verschwand wieder und schiffte sich bald darauf nach Amerika ein. Die Schiffsliste des Hapagdampfers ›Schleswig‹ nennt als sein Reiseziel Neuyork.«
Der Detektiv trank einen Schluck Bowle und zündete sich eine Zigarette an. Dann fuhr er fort:
»Das alles in Erfahrung zu bringen war nicht gerade so einfach, wie es sich hier anhört. Nun begreifen Sie, warum ich vorhin mich rühmte, fleißig gewesen zu sein.«
»Ich erkenne Ihre Tüchtigkeit neidlos an, lieber Kollege, aber ich verstehe nicht recht, was diese umständlichen Nachforschungen mit unserer eigentlichen Aufgabe zu tun haben.«
Hergotin lächelte überlegen.
»Sehr viel sogar. Ich brauche Ihnen nur zu verraten, daß es sich bei Markus und Michael um ein-eiige Zwillinge handelt.«
»Das ist mir zu hoch. Sie werden immer verzwickter. Was sind –«
»Darf ich Sie unterbrechen? Eine kurze Frage zuvor. Wann ist das Begräbnis von Frau Ackermann?«
»Übermorgen.«
»So will ich dieser Frieda bis nach der Beerdigung Schonfrist geben, aber keine Stunde länger. Doktor Scheithauer wird uns sonst noch wirklich tiefsinnig. Ich habe den Mann lange genug beobachtet; es ist höchste Zeit, daß man ihn seinem Irrwahn entreißt. Ich werde Sie nachher für übermorgen noch eingehend instruieren, Fräulein Delius, damit Sie für die Auseinandersetzung mit der Ackermann gerüstet sind.«
Hanni sah ihn ratlos an und sagte:
»Sie sind mir noch immer eine Erklärung schuldig –«
»Ach so, wegen der Zwillinge. Wissen Sie, was, Fräulein Delius? Sie lesen dieses Thema am besten in irgendeinem Konversationslexikon nach. Es hält uns zu lange auf. Übrigens werde ich dieses Kapitel übermorgen im Beisein der Ackermann ausführlich erörtern.«
»Sie sind manchmal unausstehlich, Herr Hergotin«, erwiderte Hanni ärgerlich.
»Sagen Sie ruhig Hergotin, Fräulein Delius. Es gibt Namen, die das ›Herr‹ nicht vertragen«, schmunzelte der Detektiv.