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XIII

Mr. Goldwyn kam von seiner morgendlichen Ausfahrt zurück. Er steuerte seinen großen, schönen Wagen selber. In angeregter Stimmung bog er von der Via Sistina in die Via Francisco Crispi ein. Von dem schlanken Campanile der Kirche SS. Trinità de' Monti schlug es zehn Uhr.

Marion dürfte jetzt beim Frühstück sitzen, kalkulierte Goldwyn und war sehr glücklich. Der gestrige Hochzeitstag war ohne störenden Zwischenfall verlaufen, das Wetter war zufriedenstellend, eine junge, schöne Frau erwartete ihn; konnte man mehr vom Leben verlangen? Bald, vielleicht schon in wenigen Tagen, würde er mit Marion nach Korfu oder Heluan gehen. Denn Marion hatte nun einmal eine Abneigung gegen Rom. Das war auch der Grund, warum er, seine Frau und die Gräfin Kukuli sogleich nach jener Aussprache Rom verlassen hatten und nach Neapel übergesiedelt waren. In der Zwischenzeit hatte Flapper die Wege für die Trauung geebnet und eine fürstlich möblierte Villa gemietet, damit das neuvermählte Paar sogleich sein eigenes Heim habe.

An all das dachte Mr. Goldwyn, als er an der Rückseite des weitläufigen Komplexes der »Villa Malta« entlangfuhr, um den Wagen nach der Garage zu bringen. Das schmiedeeiserne Einfahrtstor, das in den dichten, alten Park führte, stand bereits offen. Der Amerikaner beschrieb eine steile Linkskurve, überquerte die Fahrbahn und ließ das Auto geräuschlos in den Park rollen.

Da ereignete sich ein Unglück.

Der vordere, linke Kotflügel erfaßte einen Mann, der soeben aus einem von Oleandergebüsch überwucherten Seitenweg trat und wahrscheinlich das Nahen des Wagens überhört hatte. Der Unbekannte tat einen kurzen Schrei und wurde zur Seite geschleudert.

Mr. Goldwyn erinnerte sich blitzschnell, daß er vergessen habe, das Hupenzeichen zu geben. Aber wer konnte ahnen, daß aus dem fast nie begangenen Weg plötzlich ein Fremder treten würde! Damn', das ist eine nette Bescherung! fuhr es ihm durch den Kopf. Er zog die Bremsen und sprang tödlich erschrocken aus dem Auto. Der Fremde lag wie leblos unter einer breitästigen Zeder. Über seine Stirne und die geschlossenen Augen floß ein wenig Blut, das aus einer kleinen Wunde am Vorderhaupt zu kommen schien. Wahrscheinlich war der Mann mit voller Wucht an den Stamm des Zedernbaumes geschleudert worden.

Cyrus Goldwyn bemühte sich um die Wiederbelebung des Ohnmächtigen und grübelte: Wo habe ich dieses Gesicht schon gesehen? Erst als der Verunglückte die Augen aufschlug – sanft-graue, jetzt verwirrt und ratlos im Kreise wandernde Augen –, dämmerte dem Amerikaner eine Ahnung, woher ihm dieser Mann bekannt sei. Aber er war seiner Sache noch nicht sicher.

»Haben Sie Schmerzen?«

Der Fremde schien sich zu besinnen. Dann mühten sich seine weißen Lippen vergeblich ab, Worte zu formen.

»Ich muß Sie jetzt für kurze Zeit allein lassen, um Hilfe zu holen«, sagte der Yankee.

Der Verunglückte gab keine Antwort.

Mr. Goldwyn schob ihm seine zusammengeballte Sportmütze ins Genick und eilte ins Haus. Im Souterrain stieß er auf den Chauffeur.

»Hören Sie, Smith, ich hatte vorhin das Pech, einen Menschen zu überfahren. Der Mann liegt gleich bei der Einfahrt unter der großen Zeder. Holen Sie Verbandszeug und dann vorwärts. Ich komme sofort nach.« Sodann begab sich Goldwyn in sein Arbeitszimmer, um die Kognakflasche zu holen. Dabei kam ihm ein neuer Gedanke. Er riß hastig ein Fach seines Schreibtisches auf und entnahm ihm einen Stoß Blätter, die mit sauberer Maschinenschrift bedeckt waren. Auf die erste Seite waren zwei kleine Photos geklebt. Ein Blick auf das eine der Bilder behob sogleich jeden Zweifel. Der Mann unter der Zeder war jener Dr. Scheithauer, der frühere Gatte Marions! Ein verteufelt unangenehmer Zufall.

Mit gehetzter Eile wollte der Amerikaner die Notizen seines Sekretärs wieder in die Schublade zurücklegen, aber diese hatte sich in ihrem Holzrahmen festgeklemmt und war weder vor- noch rückwärts zu schieben. Um die Papiere nicht offen herumliegen lassen zu müssen, stopfte Goldwyn das Manuskript kurzerhand in seine Manteltasche und rannte in den Park zurück.

Was ist zu tun?, überlegte er während des Laufens. Sollte man Scheithauer in die Villa schaffen? Das ging wohl nicht mit Rücksicht auf Marion. In das nächste Hospital? Das war vermutlich das beste.

Der Chauffeur hatte Markus inzwischen verbunden und in den Wagen gesetzt.

»Schlimm?« forschte der Amerikaner.

»Ich glaube nicht, Mr. Goldwyn«, erwiderte Smith ehrerbietig. »Die Stirnwunde ist unbedeutend, aber der Mann hat eine Gehirnerschütterung, wie mir scheint. Hoffentlich ist die Schädelkapsel nicht verletzt.«

Während Goldwyn dem Kranken etwas Kognak einflößte, fragte er: »Wo wohnen Sie, mein Herr?«

Markus entgegnete mit sichtlicher Anstrengung:

»Beim Bahnhof. Im Hotel ›Onorevoli‹.«

»Ich denke, wir bringen Sie in ein Krankenhaus?«

»Nicht ins Krankenhaus«, flüsterte Markus.

»Gut, dann werden wir Sie in Ihr Hotel bringen«, entschied der andere und nahm neben Scheithauer Platz, der bleich und apathisch in seiner Ecke lehnte. »Los, Smith! Wenn wir angekommen sind, besorgen Sie sofort einen Arzt.«

»Sehr wohl, Mr. Goldwyn.«

Der Wagen schnurrte davon. Während der Fahrt überlegte der Amerikaner, welcher Umstand diesen Scheithauer wohl in seinen Park geführt haben mochte. Er betrachtete unauffällig das Gesicht seines Nachbarn und versuchte sich vor Augen zu halten, daß dieser Mensch ein verabscheuungswürdiger Verbrecher sei. Aber seltsamerweise gelang es ihm nicht, Widerwillen gegen dieses gramvolle, von Binden umrahmte Antlitz zu empfinden. Als das Auto endlich vor dem kleinen Hotel stoppte, sagte Goldwyn freundlich:

»Geben Sie mir Ihren Arm, Herr. Ich werde Sie stützen. Hoffentlich können Sie das Stückchen über die Straße gehen?«

Markus nickte.

Sie schritten langsam durch den Hoteleingang. Der Portier kam neugierig aus seiner Loge.

»Dem Herrn ist übel geworden«, erklärte Mr. Goldwyn. »Er wohnt doch hier, wie?«

»Gewiß. Zimmer 45. Zweite Etage.«

Zum Glück besaß das kleine Hotel einen Lift. Ein wenig später lag Markus in seinem Bett, und der Portier bemühte sich, ihm die Kleider auszuziehen. Dann erschien Fräulein Delius in der Tür. Der Portier hatte sie verständigt. Sie starrte Markus mit großen, erschrockenen Augen an, ohne ein Wort hervorzubringen. Schließlich wanderten ihre Blicke fragend zu dem Amerikaner, den sie sogleich wiedererkannte, obwohl er heute nicht den feierlichen, schwarzen Frack trug. Ihr schwante dunkles Unheil, dessen Tragweite sie nicht übersehen konnte, und ihre Knie zitterten heftig.

Mr. Goldwyn verbeugte sich korrekt und nannte seinen Namen.

»Ich hatte das Unglück, diesen Herrn zu überfahren«, erläuterte er. »Aber ich hoffe zuversichtlich, daß die Sache nicht allzu schlimm ist. Das Fräulein ist wohl eine Verwandte?«

»Nein. Ich bin nur die Stenotypistin von Herrn Doktor Scheithauer. Ich heiße Delius. Man hat mich vom Packen weggerufen. Ich wollte heute nach München zurückreisen.«

In diesem Augenblick betrat der von Smith herbeigeholte Arzt das Zimmer. Als er sich flüchtig informiert hatte, sagte er:

»Die Herrschaften haben vielleicht die Güte, auf dem Gang zu warten, bis ich mit meiner Untersuchung zu Ende bin?«

»Wir können auch in mein Zimmer gehen«, schlug Hanni vor.

Hier setzte ihr der Amerikaner auseinander, wie sich der Unfall zugetragen hatte, Er schloß mit der Versicherung, daß ihm das Ganze ungemein leid tue und daß er selbstverständlich alle Kosten zu tragen bereit sei.

»Wie kam Doktor Scheithauer überhaupt in Ihren Park?« meinte Hanni sinnend. »Er erwähnte beim Frühstück nur, daß er einen kleinen Spaziergang beabsichtige und in Bälde wieder zurückkomme, da er mich an die Bahn begleiten wolle.«

»Diese Frage habe ich mir auch schon vorgelegt. Ich glaube allerdings, eine Erklärung für Sie bereit zu haben. Meine Gattin war nämlich –«

»– die frühere Frau Doktor Scheithauers«, ergänzte Hanni.

»Woher wissen Sie?« fragte Goldwyn betroffen.

»Wir sahen Sie gestern die Paulskirche verlassen, und Scheithauer erklärte mir die Zusammenhänge.«

»Ach so. Nun, dann werden Sie begreifen, daß ich den Herrn unmöglich in meine Villa bringen lassen konnte.«

Hanni nickte.

»Sie haben recht getan, Herr Goldwyn, den beiden die Peinlichkeit eines Wiedersehens zu ersparen.« Plötzlich durchzuckte sie ein Einfall. Vielleicht konnte dieser Mann das Rätsel lösen, über das sie viele Stunden vergeblich nachgegrübelt hatte. Sie sah den Amerikaner fest an:

»Eine Frage, Herr Goldwyn. Ist Ihnen bekannt, warum Doktor Scheithauer zu drei Monaten Gefängnis verurteilt worden ist?«

»Allerdings. Aber ich weiß nicht, ob ich im Interesse Ihres Chefs handle, wenn ich Ihnen das verrate«, erwiderte er peinlich berührt.

»Sprechen Sie getrost. Ich frage nicht aus Neugier, sondern – sagen wir – aus Teilnahme. Ich kenne Doktor Scheithauer erst seit einigen Wochen, aber ich habe noch keinen Menschen getroffen, dem ich ein Verbrechen oder auch nur eine unehrenhafte Handlung so wenig zutraue wie ihm«, versicherte Hanni mit Wärme.

»Ich bezweifle es nicht, aber leider sprachen damals die Umstände gegen ihn«, entgegnete der Amerikaner höflich und hegte eine Sekunde lang den Verdacht, Fräulein Delius könne Scheithauers Geliebte sein. Dann ließ er diesen Verdacht fallen. Das Gesicht des jungen Mädchens war von einer so wohltuenden Offenheit, daß ein Zweifel nicht erlaubt war. Hatte nicht er selbst einmal an Scheithauers Schuld gezweifelt?

»Man hat Scheithauer unrecht getan, Herr Goldwyn. Ich kann es nicht beweisen, aber ich fühle es. Es gibt keinen anständigeren Menschen als meinen Chef. Wollen Sie mir jetzt mitteilen –?«

Goldwyn zauderte. Das Delikt war ein wenig heikel für die Ohren einer jungen Dame. Da fiel ihm Flappers Bericht ein, den er zufällig in der Manteltasche trug. Er sagte:

»Ich habe Notizen bei mir, die den Gang der damaligen Verhandlung wiedergeben. Es ist ein reiner Zufall, daß ich sie in der Tasche habe. Wenn Ihnen damit gedient ist? Ich bitte natürlich um Diskretion. Bei Gelegenheit können Sie mir die Blätter zurückgeben.«

»Ich verspreche es.«

»Ich gebe zu, daß man in dieser Sache geteilter Meinung sein kann, Fräulein Delius. Aber bilden Sie sich selbst ein Urteil.« Er überreichte ihr das Manuskript.

Es klopfte, und der Arzt kam. Es war ein kleiner, lebhafter Herr.

»Die Wunde an sich ist geringfügig«, erklärte er. »Mehr Sorge macht mir die noch immer andauernde Benommenheit des Patienten. Ich vermute, daß sie von der Zerreißung einer Gehirnarterie herrührt. Hoffentlich handelt es sich um keinen Knochensplitter. Die Behandlung ist sehr einfach. Eisbeutel, Ruhe und Fernhalten aller Reize. Bei Schlaflosigkeit käme Bromural in Frage.«

»Wie lang kann die Geschichte dauern?« seufzte der Amerikaner bedrückt.

Der Arzt zuckte die Schulter.

»Acht, vierzehn Tage, wenn keine Komplikation eintritt. Wer pflegt den Kollegen?«

»Ich«, erwiderte Fräulein Delius mit raschem Entschluß. »Vorausgesetzt, daß der Kranke damit einverstanden ist. Ich hatte zwar im Sinne, heute abzureisen, halte es aber unter diesen Umständen für meine Pflicht, einen hilflosen Landsmann nicht im Stich zu lassen. Sobald die Gefahr behoben ist, kehre ich nach München zurück.«

»Sie müssen unbedingt eine Krankenschwester dazunehmen«, riet der Arzt. »Vierundzwanzig Stunden sind lang, liebes Fräulein.«

»Das Besorgen der Schwester überlassen Sie mir«, warf der Amerikaner ein. »Überhaupt bitte ich, in jeder Hinsicht über mich zu verfügen.«

Dann verabschiedeten sich die beiden Herren. Hanni war allein. Sie erkannte voll Beschämung, daß dieses Hinausschieben der Trennung ihr wie ein großes Glück erschien. Sie trat ans Fenster und überflog die Notizen, die ihr Goldwyn gegeben hatte. Während sie las, wurde ihr Gesicht immer ernster. Herr Gott, das war ja eine fürchterliche Sache! Weil eine unbekannte kleine Verkäuferin so und so aussagte und hinterher einen Eid darauf leistete, wanderte ein völlig unbescholtener Mann ins Gefängnis! Wäre Scheithauer dieser Ackermann zuvorgekommen, und hätte er sie wegen Beleidigung und Hausfriedensbruch angezeigt, dann wäre die Ackermann die eidesunwürdige Angeklagte gewesen. Wie verdreht doch die Welt war!

Erregt zündete sich Hanni eine Zigarette an, um ihre Nerven zu beruhigen. Sie zweifelte keine Sekunde an des geliebten Mannes Unschuld. Der Ärmste war für sie das Opfer eines entsetzlichen Justizirrtums. Beweisen? Nein, beweisen konnte sie das nicht. Leider. Dann schweiften ihre Gedanken zu Frau Marion. Es war nur zu klar, daß diese Scheithauer nie geliebt hatte. Eine Frau, die liebt, verläßt den Mann nicht in seiner schwersten Stunde.

Durch die Wand drang dünnes Stöhnen.

»Ich komme sofort, Herr Doktor«, rief Hanni und versperrte die Blätter in ihrem Koffer.


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