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Seit jenem Unglück im Park der Villa Malta war über eine Woche vergangen.
Fräulein Delius hatte Markus mit Hilfe einer Schwester gepflegt. Die Stirnwunde schloß sich, und die Benommenheit ließ nach. Aber zeitweilige Kopfschmerzen erinnerten noch immer an jenen Unfall. Der Arzt hielt deshalb eine Röntgenaufnahme für angezeigt. Die ersten Tage war Hanni fast nicht ins Bett gekommen. In dieser Zeit hatte der Kranke phantasiert und unruhige Traumbilder gehabt. Die Spukgestalten von Marion und der Ackermann traten an sein Bett, und Markus ging mit eingebildeten Waffen auf sie los. Hanni, die öfters Zeugin solcher Wutausbrüche war, gewann immer mehr die Überzeugung, daß Markus unschuldig sei und jene beiden Frauen tödlich hasse.
Mit dem schönen Wetter schien es endgültig vorbei zu sein. Es regnete tagelang in einer Weise, wie es nur in Rom regnen kann. Dieser Witterungsumschlag drückte auf die Stimmung des Genesenden, der zwischen trostloser Apathie und jäher Gereiztheit hin und her pendelte.
Mr. Goldwyn hatte sich im Hotel »Onorevoli« nicht mehr sehen lassen, aber er sandte in regelmäßigen Abständen Blumen und briefliche Erkundigungen nach Marks Befinden. Beides mußte Hanni vor Scheithauer geheimhalten, da er von dem Gatten seiner früheren Frau nichts wissen wollte. Der unverhoffte Anblick Marions vor der Paulskirche und der Autounfall hatten Markus um viele Wochen in der seelischen Wiedergesundung zurückgeworfen.
Augenblicklich saß Hanni am Fenster des mit überholter Vornehmheit eingerichteten Hotelzimmers und starrte in den Regen. Ihr Herz war schwer. Wohin sollte diese Liebe führen, die auf keine Erwiderung stieß? War es zu ertragen, daß man Tag für Tag mit einem Manne zusammen war, der für einen nichts als freundliche Kälte übrig hatte? Es war kein Wunder, wenn man langsam unsicher wurde und sich selbst verlor.
Scheithauer lag auf einer Ottomane, hatte eine Kompresse auf der Stirn und blinzelte ziellos in die mattgraue Helligkeit. Es klopfte.
Es war das Zimmermädchen, das Hanni in den Korridor hinausbat. Es seien wieder so viele, schöne Blumen gekommen, und der Chauffeur des Amerikaners warte unten. Er habe einen Brief, den er nur persönlich übergeben dürfe. »Es ist recht«, erwiderte Hanni. »Ich komme sofort.«
Unten im Vestibül trat ihr Smith ehrerbietig entgegen: »Mr. Goldwyn schickt Ihnen hier einen Brief, den ich nur in Ihre Hände legen darf. Außerdem läßt mein Herr fragen, wie es geht?«
»Sagen Sie, unverändert. Sollen Sie auf Antwort warten?«
»Nein.« Der Mann schlug die Absätze zusammen und entfernte sich.
Hanni ordnete an, daß die Blumen, um die das halbe Hotelpersonal staunend versammelt war, in ihr Zimmer gebracht würden, da der Kranke den scharfen Geruch nicht vertrüge. Dann ging sie wieder nach oben.
»Herr Goldwyn schickt diesen Brief«, wendete sie sich an Markus.
»Ich will von dem Menschen nichts wissen«, rief dieser zornig. »Schmeißen Sie das Zeug in den Ofen.«
»Meinetwegen; aber gestatten Sie wenigstens, daß ich den Brief vorher lese.«
»Bitte, wenn es Ihnen Vergnügen macht«, erwiderte Markus spitzig.
Hanni schlitzte den Umschlag auf. Das erste, was herausfiel, war ein Scheck, der auf eine lächerlich hohe Summe lautete. Dann kam ein Kärtchen nach. »Der Unterzeichnete bittet Sie, inliegenden Betrag als kleine Entschädigung für die Unannehmlichkeiten der letzten Tage entgegenzunehmen. Mit den Wünschen baldiger Besserung, ergebenst Cyrus Goldwyn«, las Hanni vor.
Scheithauer fuhr wütend in die Höhe.
»Wie kommt der Kerl dazu, mir ein Almosen anzubieten? Den Betrag will ich gar nicht wissen. Sofort schicken Sie das Geld zurück, Fräulein Delius. Fügen Sie bei: ich bäte endlich um Ruhe, sonst um nichts.« Schon der Gedanke, daß das Geld von dem Manne der Verhaßten kam, trieb ihm das Blut in die Wangen.
»Wie Sie meinen.«
Im stillen dachte sie allerdings, daß es Wahnsinn sei, eine solche Summe einfach zurückzuweisen. Sie war ein praktisches Mädchen. Warum etwas wegwerfen, worauf man wohlbegründeten Anspruch hatte. Aber schließlich mußte Scheithauer am besten wissen, ob er sich den Luxus einer schönen Geste gestatten durfte. Trotz dieser Erwägungen konnte sie der Handlungsweise Marks eine gewisse Hochachtung nicht versagen. Wiederum ein Beweis dafür, wie sauber dieser Mensch innerlich war.
Durch Hannis kühle Sachlichkeit erbittert, fragte Scheithauer:
»Haben Sie vielleicht noch eine Unannehmlichkeit in petto, Fräulein Delius? Heraus damit; es geht jetzt in einem hin.«
»Ich wüßte nicht was«, erwiderte sie, und Mitleid erfüllte ihr Herz.
Markus stützte den Kopf in die Fäuste. Das Bedürfnis, sich einem andern mitzuteilen, wurde übermächtig in ihm. Er stöhnte:
»Wie kommt es, daß Gott seinen Zorn gerade an mir ausläßt? Bin ich soviel schlechter als die andern? Manchmal dünkt es mich wie ein Wunder, daß ich noch nicht verrückt bin!« Die letzte Vergangenheit zog an ihm vorüber: die Aufregung der Verhandlung, die schmachvollen Tage im Gefängnis, der Verlust seiner Frau, das Wiedersehen vor der Paulskirche und nun dieser Unfall mit dem Auto. Heiße Nadeln stachen in sein Gehirn. Ein grenzenloser Ekel vor dem Leben überkam ihn.
»Nun, haben Sie darauf keine Antwort?« fragte er gereizt, da Hanni noch immer schwieg.
»Gott mißt niemand mehr Leid zu, als der Mensch tragen kann – würde mein Vater sagen. Und mein Vater ist ein kluger Mann, der das Leben kennt, Herr Doktor.«
Scheithauer lachte höhnisch.
»Redensarten, liebes Fräulein. Wenn Ihr Vater in meinen Schuhen stäke, würde er bestimmt anders sprechen. Oder gibt es vielleicht überhaupt keinen Gott? Sind wir nur die Spielbälle planloser Zufälligkeiten? Den Guten geht es schlecht, den Schlechten gut; wo bleibt da die berühmte Gerechtigkeit? Ich will mich gewiß nicht überheben. Aber ich hoffte bisher immer, ein leidlich anständiger Mensch zu sein. Womit habe ich dann soviel Unglück verdient? Antworten Sie, Fräulein Delius«, rief Markus in tiefster Gewissensnot.
»Vielleicht sind wir auf der Welt, um geläutert zu werden«, sagte sie unsicher und dem fremden Leid ganz hingegeben.
Er lachte schrill.
»Das haben Sie ausgezeichnet gesagt, Fräulein Delius. Sie haben Ihren Beruf verfehlt. Sie hätten Predigerin werden müssen.« Ein dumpfer Haß gegen dieses junge, unbekümmerte Geschöpf befiel ihn. Das Böse, das in jedem Menschen schlummert, trieb an die Oberfläche und gab ihm Worte ein, deren er sich später schämte. Eine dunkle Stimme in seinem Innern zwang ihn zu sagen:
»Soll ich Ihnen mitteilen, warum man mich zu jenen drei Monaten verurteilt hat?«
»Ich weiß es bereits«, entgegnete sie tonlos und senkte den Kopf.
»Sie wissen es?« stammelte er bestürzt. »Und dennoch ertragen Sie meine Nähe? Fliehen mich nicht wie einen Aussätzigen?«
»Nein. Denn ich halte Sie für unschuldig«, sagte sie ruhig.
»Sie können sich irren, Fräulein Delius!«
»Ich irre mich nicht. So etwas fühlt man.«
»Ich danke Ihnen«, flüsterte er unhörbar und drückte ihre Hand. Dann dachte er nach. Woher hatte die Delius dieses Wissen um die näheren Umstände? Aus der Zeitung, von einem Bekannten? Es war gleichgültig. Er wurde weich wie kaum zuvor. Da war ein junges Menschenkind im gleichen Zimmer und glaubte an seine Unschuld; war das nicht herrlich? Er betrachtete das ein wenig blasse Gesicht Hannis mit einer Art scheuer Andacht. Wie klar diese Züge waren, wie blau die Augen! Wer dieses Gesicht ansah, mußte fromm werden wie der Pastor Delius. Das waren Marks Gedanken. Die sündigen Wünsche, die damals in Florenz sein Blut verbrannt hatten, schwiegen.
Dämmerung kroch durch die Scheiben. Ein Rokokoührchen tickte unverdrossen mit silberner Stimme. Fräulein Delius, die dieses lähmende Schweigen nicht länger zu ertragen vermochte, forschte:
»Was trieb Sie damals eigentlich in den Park von Goldwyns Villa?«
Markus schrak empor und besann sich. Nach langen Minuten kam die verstörte Antwort:
»Ich weiß es nicht mehr. Ist das nicht sonderbar, Fräulein Delius?«
»Vielleicht hängt das mit Ihrer Gehirnerschütterung zusammen?«
Markus zermarterte nochmals sein Gehirn, um Klarheit zu schaffen, was er bei dem Amerikaner gewollt habe. Vergeblich. Jener Vormittag war wie ausgelöscht in ihm. Plötzlich sprang er auf und rief mit ratlosem Gesicht:
»Denken Sie nur, es ist mir schon einmal so gegangen! In Florenz. Es handelte sich da um eine Nacht, über die ich mir später keine Rechenschaft mehr ablegen konnte. Ist das nicht furchtbar?«
»Solche Fälle von Erinnerungslosigkeit kommen vor. Aber das ist noch kein Grund zur Besorgnis«, tröstete Hanni.
»Ich möchte jetzt schlafen«, sagte er ungeduldig. Seine Nerven waren wie schmerzhafte Fäden, an denen eine brutale Hand zog.
Als Hanni das Zimmer verlassen hatte, warf er sich auf die Ottomane und suchte verzweifelt nach einer Lösung dieser unheimlichen Geschichte.
Die Nacht verging darüber.
*
In der Frühe erhob sich Markus mit grauem, übernächtigem Gesicht. Sein Kopf schmerzte, seine Glieder waren wie zerschlagen. Während der Nacht hatte sich ein Gedanke in ihm festgesetzt, der so grauenvoll war, daß man ihn nicht zu Ende; denken durfte. Beim Frühstück war Markus schweigsamer denn je und wußte nicht, was er aß.
»Haben Sie wieder Kopfweh?« fragte Fräulein Delius besorgt.
Er bejahte unfreundlich und machte eine abweisende Miene.
Hanni, die derlei Stimmungsumschwünge gewöhnt war, ließ sich dadurch nicht aus der Fassung bringen. »Es ist Zeit, daß die Geschichte endlich geröntgt wird. Dann wissen wir wenigstens, ob es sich um einen Knochensplitter handelt oder nicht. Der Professor hat gesagt, um neun Uhr sollen wir in der Klinik sein.«
»Ich werde allein hingehen, Fräulein Delius.«
»Wie Sie meinen. Aber dann nehmen Sie wenigstens einen Wagen. Darauf muß ich unter allen Umständen bestehen.«
»Ich werde einen Wagen nehmen.«
Eine halbe Stunde später verließ Markus das Hotel. Er dachte nicht daran, sich den Anordnungen Hannis zu fügen. Er hatte nicht einmal die Absicht, sich durchleuchten zu lassen. Wie nebensächlich das alles war! Gemessen an der furchtbaren Erkenntnis der verflossenen Nacht. Die geschäftige Betriebsamkeit dieser guten Delius ging ihm nachgerade auf die Nerven. Er war froh, endlich allein zu sein.
Mit kleinen, unsicheren Schritten ging Markus die Via Venti Settembre entlang. Er stieß Leute an und merkte es nicht. An einer Straßenkreuzung geriet er fast unter ein Auto, dessen Lenker wütend schimpfte. Es focht ihn nicht an. Sein Hemd war feucht und klebte am Körper. Fieberschauer rannen über seinen Rücken und strahlten in die Schenkel aus. Sein Hirn schmerzte, seine Ohren dröhnten. Manchmal schwankten die Häuserfronten, an denen er sich forttastete.
Markus kam durch unbekannte Straßenzüge, geriet in verworrene Gassen, taumelte über einen großen, freien Platz und überquerte endlich den Tiber. Ein schmutziges, finsteres Viertel öffnete sich. Aus Hauseingängen, die mit Bastmatten oder fettigen Tuchfetzen verschlossen waren, strömten wilde Gerüche. Schmutzige Weiber und verwahrloste Kinder glotzten ihm nach. In dunklen Ecken lungerten verdächtige Burschen. Er war in Trastevere, dem Viertel der Armut. Von da geriet er in die Anlagen des Gianicolo, die wegen des schlechten Wetters nur von wenigen Fußgängern belebt waren.
Markus ging mit gesenktem Kopfe. Er sah nicht, er hörte nicht, er grübelte nur. Als er nach langer Wanderung endlich aufblickte, stand er auf einem freien, runden Platz, der von Säulen eingefaßt war. Eine Kirche wuchs in den Himmel. Sankt Peter. Markus trocknete seine Stirn, nahm den Hut in die Hand und stieg viele Stufen empor. Aus breit klaffenden Türen floß Weihrauchduft und Kühle. Markus schlich auf den Zehenspitzen in den gewaltigen Raum Michelangelos. In einer Nische, wo Zwielicht die Umrisse aller Gegenstände verlöschte, ließ er sich nieder. Irgendwoher aus dem ungeheuren Rachen des Domes flatterten undeutliche Responsorien an sein Ohr. Die halb verwehten Töne waren der einzige Laut in dieser erdrückenden Stille.
Nicht das Bedürfnis zu beten, hatte Markus hierher getrieben, sondern der Wunsch, sich zu sammeln. Er wollte zu Ende denken, was ihm eine Nacht lang den Schlaf geraubt hatte. Sein gemütlicher Zustand bereitete ihm Sorge, ernsthafte Sorge. Hier stimmte etwas nicht. Dieses Schwanken zwischen Apathie und Reizbarkeit, dieses Zerstreut- und Tiefsinnigsein konnte zur Not noch als Folge der schweren Schicksalsschläge gedeutet werden. Aber da waren noch andere Symptome, die nicht in das Bild einer schlichten Nervenzerrüttung paßten. Warum hingen dichte Schleier über den Vorgängen jener Florentiner Nacht und über den Beweggründen, die ihn in den Park der Villa Malta geführt hatten? Warum litt er an Erinnerungslosigkeit? Warum neigte er, der friedfertigste Mensch unter der Sonne, plötzlich zu unverständlichen, brutalen Triebhandlungen? Hatte er nicht in München die Ackermann ermorden und in Florenz Fräulein Delius wie ein Wegelagerer überfallen wollen? War er in seinen Delirien nicht auf Marion mit dem Messer losgegangen? Immer Gewalt, immer die Frauen.
Durch ein Kirchenfenster floß rubinrot die Sonne. In einer Ampel glühte das Ewige Licht. Mosaik leuchtete in bunten Farben, Markus griff in seinen Kragen, der ihm zu eng wurde. Seine Augen hatten einen gequälten Glanz. Die Riesenpfeiler der Kirche schienen auf ihn zuzukommen. Engel mit fratzenhaften Köpfen rauschten von der Decke nieder …
Ich fange an, wahnsinnig zu werden, dachte Markus und war von dieser Erkenntnis vernichtet. Das Schreckgespenst jener Krankheit tauchte vor ihm auf, die die Psychiater Dementia praecox nennen. Alle Symptome, die er an sich selbst entdeckte, sprachen dafür.
Ein leeres, sinnloses Lächeln irrte um seinen Mund. Seine Zähne schlugen wie im Schüttelfrost aufeinander. Mit unmenschlicher Kraft bemühte er sich, Ordnung in die wirre Flucht seiner Gedanken zu bringen! Weiter! Wenn es so war, wenn er an jener fürchterlichen Krankheit litt, die mit läppischer Verblödung endete, dann fand auch die Skandalgeschichte mit der Ackermann plötzlich ihre Erklärung! Er war schuldig an dem Mädchen geworden! Unbewußt allerdings, im Dämmerzustand, in einem vorübergehenden Anfall geistiger Trübung. Warum auch sollte ein fremdes, unbescholtenes Mädchen das Blaue vom Himmel herunterlügen? Und wurde seine Diagnose nicht durch die Tatsache gestützt, daß seine Mutter an einem »Gemütsleiden« gestorben war, wie der Vater zu erzählen pflegte? Es lag also in der Familie.
Abgründe drohten ihn zu verschlingen. Wildes Schluchzen saß in seiner Kehle, und er durfte es nicht laut werden lassen. Mit einer verzweifelten Gebärde stieß er den Stuhl zurück und floh aus der Kirche.
Ein alter Bettler, der auf den Kirchenstufen hockte, erschrak vor Scheithauers Aussehen und vergaß, sein Sprüchlein aufzusagen.
*
Als Scheithauer endlich ins Hotel zurückkam, wartete Fräulein Delius bereits auf ihn. Ihre Miene drückte ängstliche Sorge aus. Markus ging mit ihr nach oben und stürzte hastig ein Glas Wasser hinunter. Außer einem rasch gemurmelten Gruß war kein Wort über seine Lippen gekommen.
»Nun? Was haben sie in der Klinik gesagt? Hat man einen Knochensplitter festgestellt?« forschte sie.
Markus würgte an einem eingebildeten Bissen. Seine Stimmbänder gehorchten nicht. Endlich stieß er hervor:
»Ich bin gar nicht in der Klinik gewesen.«
Hanni fand nicht gleich eine Erwiderung, so bestürzt war sie über Scheithauers verstörtes Aussehen und die sonderbare Antwort.
»Für mich geht es jetzt um Wichtigeres als um das bißchen Kopfweh, Fräulein Delius. Aber lassen wir das. Etwas anderes. Ich fühle mich jetzt so, daß ich Ihre Dienste nicht länger in Anspruch nehmen möchte. Sie haben viel Gutes an mir getan, und ich sage Ihnen herzlichen Dank dafür.«
Himmel, was hat nun das wieder zu bedeuten? überlegte Hanni. Warum will er mich so Knall auf Fall weghaben?
»Wenn Sie einen der direkten Züge benützen, können Sie in vierundzwanzig Stunden in München sein«, sagte Markus und wagte Fräulein Delius nicht anzusehen.
»Gut, ich werde abreisen, wenn Ihnen meine Gegenwart so sehr zuwider ist«, entgegnete Hanni leise. »Aber vorher bitte ich um eine Erklärung, was Sie zu diesem überraschenden Entschluß veranlaßt hat.«
»Ich sagte es schon. Meine Gesundheit –«
»Sie waren nie kränker als jetzt«, fiel ihm Hanni ins Wort. »Trotzdem werde ich Ihrem Wunsche entsprechen. Aber als guter Kamerad, der ich Ihnen bisher war, habe ich das Recht, die Wahrheit zu erfahren.«
Markus zerbrach einen Bleistift zwischen den Fingern. Feine Schweißperlen bedeckten seine Stirn. Er bat mit letzter Tapferkeit:
»Dringen Sie nicht in mich, Fräulein Delius. Lassen Sie es genug der Qual sein. Wenn ich sage, Sie müssen gehen, dann habe ich meine Gründe.«
»Es ist immer billig, sich hinter unsichtbare Gründe zu verschanzen«, sagte Hanni trotzig. »Ich gehe schon.«
»Nicht so, Fräulein Delius«, erwiderte Markus, und sein Herz zuckte vor Hilflosigkeit. »Sie halten mich für undankbar; das ertrage ich nicht. Gut denn, Sie sollen alles wissen. Es ist rasch gesagt: ich kann für Ihre Sicherheit nicht mehr garantieren, Fräulein Delius. Nun wissen Sie es.«
Hanni begriff nicht.
»Was soll das heißen? Sicherheit? Ich verstehe Sie nicht.«
»Ich leide an Bewußtseinstrübungen. An Zuständen, in denen ich meinen Mitmenschen gefährlich werde, ohne es zu wissen. Es könnte Ihnen wie jener Ackermann ergehen. Begreifen Sie mich jetzt?«
»Was Sie sagen, ist verrückt!« stieß Hanni hervor.
»Verrückt – ist der richtige Ausdruck, Fräulein Delius. Ich beginne tatsächlich verrückt zu werden. Die ersten Spuren habe ich schon entdeckt.« Und er berichtete ihr von den qualvollen Erwägungen der letzten Stunden. Er schloß: »Die Ackermann hat also nicht gelogen. Die Richter haben nur insofern geirrt, als sie mich ins Gefängnis anstatt ins Irrenhaus steckten.«
Hanni preßte die Hände an die Schläfen. Ihr war ganz dumm zumute. Der Fall mit diesem Scheithauer wurde ja immer toller. Nun ging der Mensch her und bezichtigte sich selber der unglaublichsten Dinge! Was natürlich glatter Unsinn war.
Markus hing wie ein gebrochener, alter Mann auf seinem Stuhl und hatte die Augen eines gehetzten Tieres, das keinen Ausweg mehr sieht. Hanni rückte ihren Stuhl ganz nahe an den seinen und tröstete mit ihrer hellen, jungen Stimme:
»Nun hören Sie mal vernünftig zu. Was Sie da sagen, kann mich nicht überzeugen. Ich bin zwar nur ein Laie, aber ganz auf den Kopf gefallen bin ich deshalb noch nicht. Wenn man mit jemand viele Wochen lang zusammen ist, kennt man ihn schließlich ein wenig. Das lasse ich mir nicht ausreden. Ich gebe zu, daß Sie hochgradig nervös und aus dem Gleis geworfen sind. Das ist nach den vielen Aufregungen auch gar kein Wunder. Aber geistesgestört? Das ist Quatsch. Verzeihen Sie den harten Ausdruck.«
»Das verstehen Sie nicht, Fräulein Delius. Sie sind keine Medizinerin«, widersprach Markus verbissen.
»Gegen sich selbst begutachtende Ärzte hege ich ein gelindes Mißtrauen. Gegen sich selbst ist nämlich kein Mensch objektiv genug.«
Sie redete in die Luft. Markus hörte ihr gepeinigt zu, aber seine Diagnose war nicht zu erschüttern. Endlich riß Hanni die Geduld.
»Ihnen ist nicht beizukommen. Sie sind unbelehrbar wie eine hysterische, alte Jungfer. Überschlafen Sie die Geschichte, und morgen werden Sie selbst darüber lachen.« Damit verließ sie das Zimmer.
Markus starrte ihr mit toten Augen nach.
*
Professor Volpi, einer der bedeutendsten Irrenärzte Roms, hörte Fräulein Delius höflich an, ohne sie zu unterbrechen. Dann sagte er, seine Brille putzend:
»Schade, daß Sie den Patienten nicht mitbringen konnten, Signorina. Eine sichere Diagnose ist so natürlich nicht zu stellen. Aber wenn Ihnen mit meiner unverbindlichen Meinung gedient ist? Ja? Dann sollen Sie sie haben. Nach Ihrer Schilderung dürfte es sich um Neurasthenie handeln. Erschütterungen von solchem Ausmaß und in solcher Häufung werfen selbst einen Riesen um. Die beiden Fälle von Erinnerungslosigkeit lassen sich vielleicht durch übermäßigen Alkoholgenuß und durch Schockwirkung erklären. Brutale Triebhandlungen und Mordpläne? Damit ist nicht viel anzufangen, liebes Fräulein. Möglicherweise belegt der Kranke mit diesen Bezeichnungen ganz harmlose Dinge, wie sie jedem Gesunden passieren können. Das nachträgliche Schuldbewußtsein im Falle Ackermann dürfte künstlich konstruiert sein, gewissermaßen als Ausfluß der vorausgegangenen Krankheitsfurcht. Kurzum, eine geistige Störung halte ich nicht für erwiesen. Mein Hauptargument aber ist das: solange jemand glaubt, daß er geisteskrank ist, ist er bestimmt nicht verrückt. Die wirklichen Narren halten sich nämlich für geistig gesund.«
»Sie beruhigen mich sehr, Herr Professor«, sagte Hanni beglückt. »Was ließe sich nun dagegen tun?«
»Vor allem würde ich einen Ortswechsel vorschlagen. Unsere Temperaturen sind nichts für Leute mit labilen Nerven. Ferner würde ich zu körperlicher Beschäftigung raten, am besten im Freien. Neue Aufregungen müßten unter allen Umständen ferngehalten werden. Am wichtigsten aber wäre es, dem Patienten den Beweis zu liefern, daß er sich täuscht. Wenn es gelänge, aus dem Gebäude seines Irrwahns einen Pfeiler herauszureißen, stürzte dieses von selbst ein. Sie haben mir von jenem Skandal erzählt, der zu Doktor Scheithauers Verurteilung geführt hat. Sie haben mir auch gesagt, daß Sie den Herrn für unschuldig halten. Gut, beweisen Sie seine Unschuld, machen Sie ihn selbst daran glauben, und er wird alle anderen Wahngebilde mit einem Schlag fallen lassen.«
»Das wird, fürchte ich, sehr schwer sein«, seufzte Hanni.
»Es muß zum mindesten versucht werden, Signorina.«
»So will ich es versuchen«, sagte sie tapfer, obwohl ihr die Art ihres Vorgehens keineswegs klar war.
Der alte Herr lächelte über ihren Eifer.
»Nicht Sie, Detektive müßten das machen. Mit Geld ist viel zu erreichen.«
»Ich habe kein Geld«, gestand Hanni schamvoll. »Darum muß ich es selbst versuchen.«
Professor Volpi betrachtete sinnend ihr Gesicht. Dann meinte er freundlich: »Sie haben recht, Signorina. Vielleicht gelingt es Ihnen sogar besser als einem bezahlten Fremden. Weil Sie jung sind und weil Sie lieben. Mit Liebe geht alles.«
Hanni schlug die Augen nieder. Der alte Mann hatte in ihr Herz gesehen.
Auf dem Heimweg sang dieses »mit Liebe« noch lange in ihren Ohren. Dann riß sie sich zusammen und überlegte, was zu tun war. Ihr Verstand sagte ihr, daß man bei der Ackermann einhaken müsse, um die Wahrheit zu ergründen. Ihr Entschluß, für den Geliebten zu handeln, stand fest. Zunächst mußte sie nach München fahren und die Verbindung mit Frieda Ackermann aufnehmen. Alles weitere würde sich dann schon ergeben.
War es nicht das Schicksal aller Frauen, sich für den Mann zu opfern?
*
»Italien ist nichts für Sie«, erklärte Hanni kategorisch. Die Unterredung mit dem Professor hatte sie Markus verschwiegen.
»Vielleicht haben Sie recht, Fräulein Delius«, murmelte Scheithauer mit abwesendem Gesicht.
»Fahren wir heim; wir kommen gerade recht für den deutschen Winter.«
»Ja, fahren wir heim«, sagte Scheithauer freudlos. Sein Geld ging mit Riesenschritten zur Neige.
»Bei uns in der Uckermark sind jetzt die Seen zugefroren. Man läuft Schlittschuhe oder fährt mit den Skiern. In Hammelspring ist jetzt mächtig viel los«, plauderte sie, um ihn abzulenken. »Haben Sie schon ein Reiseziel?«
Markus besann sich eine Weile. München war nichts. Am liebsten hätte er sich in eine einsame Höhle verkrochen, um dort den Tod zu erwarten.
»Ich werde zu meinem Vater gehen«, entschied er schließlich. »Mein Vater hat ein kleines Gut in der Nähe von Wasserburg. Unser Hof ist jetzt sicher ganz eingeschneit.«
»Ein vortrefflicher Gedanke«, lobte Hanni. »Machen Sie sich nur recht viel Bewegung, das wird Ihren Nerven gut tun. Daß Sie mir nicht immer hinter dem Ofen hocken!«
»Ich werde meinem Vater helfen, Bäume zu fällen«, erwiderte er gehorsam und glaubte, die schwere, klingende Axt schon in der Hand zu schwingen. Manchmal kam es vor, daß ein fallender Stamm einen Menschen erschlug. Er riß sich langsam von dem Bilde los. »Wir haben nämlich einen sehr schönen Wald. Lauter alte Buchen und Eichen. Es ist wert, ihn zu sehen, Fräulein Delius.«
»Vielleicht besuche ich Sie einmal. Ich habe nämlich vor, in München zu bleiben.« Mehr verriet sie nicht von ihrem Plane.
»So«, sagte er.
»Hm, das klingt nicht eben einladend. Wenn es Ihnen sehr unangenehm ist, komme ich natürlich nicht«, spottete sie und verspürte ein Würgen in der Kehle. Ihr Herz dürstete nach einem guten Wort.
»Verzeihen Sie, Fräulein Delius. Ich bin so schwerfällig. Natürlich sollen Sie kommen. Sie wissen doch, daß ich alles Vertrauen der Welt zu Ihnen habe.« Er griff nach ihrer Hand und drückte sie.
Hanni erschauerte unter dem Druck dieser breiten, großen Finger und war bereit, bei dem ersten heißen Wort in seine Arme zu stürzen. So sehr hatte die Leidenschaft alle Scham in ihr vernichtet. Herr Gott, war das schwer, einen Menschen zu lieben und es ihm nicht zeigen zu dürfen! Aber die Sekunden verstrichen, ohne daß dieses Wort kam. Da erinnerte sie sich, daß sie die Tochter des Pastors Delius war und entzog Markus ihre Hand.
Dieser stöhnte: »Warum ist das Leben eigentlich so schwer, Fräulein Delius?«
»Wir alle leiden am Leben, nicht nur Sie«, erwiderte Hanni schroff und ging rasch aus dem Zimmer.
Markus sah ihr mit ertrinkenden Augen nach. Er hatte das größte Wunder, das sich in einer Frau vollziehen konnte, nicht begriffen.
*
Fräulein Delius schrieb am Abend an Mr. Goldwyn. Sie teilte ihm kurz mit, daß sie versuchen wolle, den Beweis für Scheithauers Unschuld zu erbringen, und daß sie zu diesem Zweck morgen nach München abreise, wo die Belastungszeugin wohne. Die geliehenen Notizen sende sie anbei mit bestem Dank zurück; sie habe Abschriften davon genommen. Was den Scheck beträfe, so ließe Doktor Scheithauer für den guten Willen danken, sähe sich aber außerstande, dieses Geschenk anzunehmen.
Hanni verschloß das Kuvert und gab es als Wertsache auf. –
Es erreichte den Amerikaner zu einer Zeit, wo er gerade das Packen seiner vielen Koffer überwachte.