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Hanni war soeben aus dem Geschäft heimgekommen. Sie drehte das Licht auf und legte ihren Mantel ab. Dabei überlegte sie, was das seltsame Benehmen Friedas zu bedeuten habe. Diese war nämlich seit heute morgen wie ausgewechselt. Sie grüßte kaum, war nicht, wie sonst, während der Mittagspause zu ihr in den oberen Stock gekommen und hatte am Abend nicht auf sie gewartet. Wie sollte man sich dieses Verhalten erklären? Hanni war sich weder eines Verstoßes noch einer Unvorsichtigkeit bewußt.
Zum Kuckuck, so kam man nicht weiter. Es schien, als wolle ihr Unterfangen, mit soviel Glück und Opferbereitschaft begonnen, jetzt ergebnislos im Sande verlaufen. Das durfte nicht sein. Um Marks willen. Ihre letzte Hoffnung war der Amerikaner. Warum war der versprochene Detektiv noch nicht erschienen? Sollte sich Goldwyn die Sache anders überlegt haben?
Niedergeschlagen betrat Hanni den Korridor, um sich ein Glas frisches Wasser aus der Küche zu holen. Um die alte Frau Ackermann, deren Herzleiden sich in besorgniserregender Weise verschlimmert hatte, nicht zu stören, ging Hanni auf den Fußspitzen. Überdies war der Boden noch mit einem weichen Läufer belegt. Vor der Küche, deren Türe offen stand, zögerte Hanni. Denn ihr bot sich ein sonderbares Bild.
Frieda Ackermann, die mit dem Rücken gegen die offene Tür saß, starrte versunken in ihren Schoß, wie ein gegenüberhängender, großer Spiegel verriet. Das Gesicht des jungen Mädchens war von einem Ausdruck so tödlichen Hasses verzerrt, daß Hanni erstaunt zurückprallte. Als Fräulein Delius die Schwelle überschritt, fuhr die Ackermann erschrocken zusammen und suchte eine Photographie zu verbergen, die sie bisher in Händen gehalten hatte. Aber doch nicht rasch genug, daß Hanni nicht noch einen flüchtigen Blick hätte daraufwerfen können.
Jetzt war die Reihe, erschrocken zu sein, an letzterer. Denn das Bild stellte niemand anders dar als Markus Scheithauer. Eine Täuschung war nicht gut möglich, obwohl die Ertappte Hanni das Photo nur einen Herzschlag lang dargeboten hatte. Ein dunkler, schräger Strich lief über das Bild. Es sah aus, als habe jemand dasselbe mit einem dicken Bleistift durchgestrichen.
Hanni murmelte verwirrt einen Gruß und ging an die Wasserleitung. Während sie den Hahn aufdrehte, stürmten tolle Vermutungen auf sie ein. Stellte jenes Bild wirklich Markus dar? Und wenn, wie kam es in den Besitz der Ackermann? Warum hatte diese es so voller Haß angestarrt?
Man konnte den Mut verlieren, so undurchsichtig, so voller Schwierigkeiten war alles!
Sie war im Begriffe, die Küche zu verlassen, als die Ackermann, die sich am Gasherd zu schaffen machte, plötzlich sagte:
»Es wird gut sein, wenn Sie sich für den Ersten um ein anderes Zimmer umsehen.«
»Wieso?«
»Wir erhalten Besuch; wir brauchen das Zimmer selbst«, erklärte sie unfreundlich.
Hanni fühlte sofort, daß das eine Lüge war. Das Mädchen wollte sie forthaben.
»Was habe ich Ihnen getan, daß Sie so ganz anders gegen mich sind, Fräulein Frieda?«
»Nichts«, erwiderte diese schroff und kehrte Hanni den Rücken.
Hanni schritt nachdenklich nach ihrem Zimmer. Der ganze Tag war ihr verdorben. Sie beschloß, auszugehen, und kleidete sich um. Während sie die Schuhe wechselte, mußte sie immerfort denken: Was ist denn bloß in diese Frieda gefahren? Was soll nun wieder diese unverständliche Kündigung? Das mit dem Besuch war ja nur ein Vorwand. Sie sperrte ihr Zimmer zu und verließ das Haus.
Wenn Hanni auswärts zu Abend aß, bevorzugte sie ein altmodisches, kleines Restaurant, in dem ein alter Kellner bediente und die wenigen Gäste flüsternd nach ihren Wünschen fragte. Hanni setzte sich an eines der freien Tischchen und winkte. Der alte Kellner kam und überreichte ihr die Speisekarte.
»Sie sollten heute Lendenschnitten à la hongroise nehmen, mein Fräulein«, riet er geheimnisvoll.
»Schön, nehmen wir Lendenschnitten.«
Hanni begann gerade zu essen, als sich ein jüngerer, gutgekleideter Herr an ihren Tisch setzte, nachdem er sehr höflich um Erlaubnis gebeten hatte. Hanni nickte verwundert, denn es waren noch eine Menge anderer Tische frei. Ein Reisender vielleicht, dachte sie und zerbrach sich nicht weiter den Kopf. Während sie sich mit dem tadellosen Hunger der Jugend ihren Speisen widmete, bestellte der fremde Herr ein Glas Bier und blätterte angeregt in einem Notizbuch. Als der Kellner gegangen war, begann er ohne jeden Übergang:
»Die Lendenschnitten scheinen delikat zu sein. Schade, daß ich schon gegessen habe. Was macht unsere gemeinsame Freundin Ackermann?«
Hanni ließ verblüfft die Gabel sinken und zog die Brauen in die Höhe. Saß sie einem Verrückten gegenüber?
»Essen Sie ruhig weiter, Fräulein Delius. Nur kein Aufsehen, wenn ich bitten darf«, beschwichtigte der Unbekannte gemütlich.
»Ich kenne Sie ja gar nicht«, stotterte Hanni.
»Mein Name ist Hergotin. Alexander Hergotin. Ich komme im Auftrag Mr. Goldwyns. Ich habe diese Art der Annäherung gewählt, weil sie die am wenigsten auffällige ist.«
»Ah, Sie sind der Detektiv?«
»Pst, nicht so laut. Ich komme, um Sie in der Geschichte mit der Ackermann zu unterstützen. Detektiv klingt lieblos und anmaßend. Sagen wir Helfer.«
»Verzeihen Sie, Herr Hergotin«, entgegnete Hanni unsicher und empfand stürmische Dankbarkeit gegen Mr. Goldwyn, der sie nicht im Stiche ließ.
»Wenn Sie gegessen haben, möchte ich Sie ersuchen, mir alles zu erzählen, was Sie in dieser Angelegenheit wissen. Mr. Goldwyn hat mich mit recht ansehnlichen Vollmachten ausgestattet, so daß wir nicht zu knausern brauchen. Wir haben sozusagen Pleinpouvoir. Das macht diesen verzwickten Fall von vornherein sympathisch«, lächelte Hergotin.
Hanni konnte vor Erregung nicht weiteressen und winkte dem Kellner, abzuräumen. Dann erstattete sie gewissenhaft Bericht, manchmal von einer Zwischenfrage des Detektivs unterbrochen. Als sie mit den Beobachtungen des heutigen Tages ihre Erzählung beschloß, scherzte Hergotin:
»Alle Wetter, Sie haben ja ein fabelhaftes Gedächtnis. Sie referieren wie ein Ministerialrat. Vergönnen Sie einem alten Kriminalisten, daß er Ihnen dieses Kompliment macht. Aber nun Spaß beiseite. Sie sagten, diese Frieda sei seit heute morgen wie ausgewechselt. Haben Sie eine Erklärung hierfür?«
»Nicht die mindeste.«
»Dann muß das Mädel von irgendeiner Seite gewarnt sein. Jedenfalls werde ich der Sache nachgehen. Ebenso wichtig ist mir das Photo. Sind Sie sicher, daß es Doktor Scheithauer darstellt?«
»Jawohl«, sagte Hanni fest.
»Dieses Bild müssen wir haben. Ich will nicht behaupten, daß es der Schlüssel zu dem ganzen Rätsel ist, aber belangvoll ist es auf alle Fälle. Haben Sie eine Ahnung, wo die Ackermann dieses Bild verwahrt?«
Hanni dachte nach.
»Ich glaube, sie wird es in ihrem Zimmer aufheben. Aber ich möchte es nicht beschwören.«
»Bitte, beschreiben Sie mir die Wohnung der beiden Frauen, Fräulein Delius.«
Sie tat es. Er nickte befriedigt. Dann zog er seine Uhr.
»Was, schon zehn Uhr! Ich habe Sie lange aufgehalten, Fräulein Delius. Es war mir ein Vergnügen. Ich hoffe, daß wir gute Kollegen werden. Ich bin jetzt so ziemlich im Bild. Auch mit der Psychologie Scheithauers. Gute Nacht, und angenehme Ruhe.« Er empfahl sich, nachdem noch ausgemacht worden war, daß sie sich am nächsten Tag um die gleiche Zeit hier treffen wollten. – – –
Vierundzwanzig Stunden später saßen sich die beiden abermals gegenüber, Hanni voll gespannter Erwartung und Unruhe, der Detektiv selbstsicher und lächelnd.
»Wir haben bereits den ersten Erfolg zu verzeichnen, Fräulein Delius. Hier ist die bewußte Photographie.« Er zog seine Brieftasche und entnahm ihr das Bild, das Hanni gestern in den Händen der Ackermann gesehen hatte. Der dunkle, schräge Strich entpuppte sich in der Nähe als ein Riß, der mit Klebstoff sorgfältig repariert war.
Hanni fragte betroffen:
»Wie sind Sie zu dem Ding gekommen? Sind Sie ein Zauberkünstler? Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Ackermann Ihnen das Bild freiwillig überlassen hat.«
»Ich habe es gemaust, wie man so sagt«, lächelte Hergotin. »Es war nicht ganz einfach, aber es glückte. Es wäre noch rascher gegangen, wenn diese Frieda sich abgewöhnen wollte, solche Dinge zwischen Bettlade und Matratze aufzuheben. Das komplizierte das Suchen ungemein.«
»Wie wußten Sie denn, daß es sich um das richtige Bild handelt? Kennen Sie Doktor Scheithauer zufällig?«
»Nein. Aber Mr. Goldwyn stellte mir eine recht gute Momentaufnahme des Genannten zur Verfügung, so daß es nicht schwer war, die beiden Bilder zu identifizieren. So, und nun wollen wir dieses Photo einmal genau betrachten. Wie finden Sie die Ähnlichkeit?«
»Gut. Nur ist Scheithauer auf dem Bilde etwas voller, als ich ihn in Erinnerung habe. Vielleicht auch weniger schwermütig. Aber das wird wohl mit dem Kummer der letzten Monate zusammenhängen.«
»Sie halten also diesen Herrn, den das Photo vorstellt, unbedingt für Doktor Scheithauer?«
»Unbedingt.«
»Freut mich. Und jetzt besehen wir uns einmal die Kehrseite. Was steht da?«
Hanni las gehorsam vor: »Meiner lieben kleinen Frieda zur Erinnerung an die Cuxhavener Tage. Sommer 1926. Markus.« Diese Widmung war mit Tinte geschrieben.
Hanni wurde blaß. Die Schriftzüge verschwammen vor ihren Augen. Wilde Zweifel fielen über sie her. Spielte Markus vielleicht eine Doppelrolle? Hatte die Ackermann ihren Cuxhavener Liebhaber nicht einen Schurken genannt? Wie, wenn Markus tatsächlich ein Schurke war, der nicht nur die Ackermann verführt hatte, sondern auch sie selbst, ja die ganze Welt mit der Maske des »Unglücklichen« betrog? Denn Frieda konnte mit ihrer leidenschaftlichen Anklage wohl keinen andern gemeint haben. Herr Gott, dieser Gedanke war nicht zu ertragen …
Dann rief sie alle Eindrücke, die sie von Scheithauer in wochenlangem Zusammensein empfangen hatte, sich ins Gedächtnis zurück und dachte: das kann nicht sein; so verworfen, so arglistig ist kein Mensch, daß er Tag für Tag ein geborgtes Gesicht, geborgte Gefühle zur Schau trägt, ohne einmal aus der Rolle zu fallen.
Sie wurde ruhiger. Sie beschloß, Markus noch einmal ins Auge zu blicken und von Mund zu Mund zu sprechen. Das würde alles klären.
»Sie sind so still, Fräulein Delhis; was ist denn los?«
»Nichts; ich überlegte nur etwas«, sagte sie und erwachte.
»Dann will ich Ihnen darlegen, was ich aus diesem Bild alles herauslese. Hören Sie zu. Vor allem der Riß. Eine Photographie, die auf so feste Pappe aufgezogen ist, zerreißt man nicht zufällig, sondern absichtlich. Warum? Nun, vielleicht aus Wut, aus Haß, jedenfalls in einer momentanen Erregung. Später hat es die Ackermann gereut, und sie hat das Bild wieder zusammengeklebt. Dieser Mühe unterzog sie sich nicht grundlos. Sie haben mir gestern erzählt, daß Frieda das Bild voll glühenden Hasses angestarrt habe. Es wäre denkbar, daß ihr Scheithauers Konterfei nur dazu dient, diesen Haß wachzuhalten.«
»Gestatten Sie einen Einwand, Herr Hergotin. In der Verhandlung wurde meines Wissens doch geklärt, daß die beiden einander nie zuvor gesehen hatten?«
»Hochachtung! Sie haben ein helles Köpfchen, Fräulein Delius. Hier klafft in der Tat ein krasser Widerspruch. Aber setzen wir uns darüber zunächst einmal hinweg. Mag es sich nun um eine Lüge oder um einen Irrtum handeln, wir werden schon noch dahinterkommen. Weiter, was ist das?«
»Ein Tintenklecks.«
»Hier ist dem Schreiber Tinte aus der Feder getropft. Als er den Löscher zu Hilfe nahm, ist sein Daumen in die Flüssigkeit geraten und hat in der Ecke einen ziemlich brauchbaren Abdruck hinterlassen.«
»Was soll uns das nützen?« sagte Hanni ungeduldig.
»Vielleicht nichts, vielleicht sehr viel. Ich wollte Ihnen jedenfalls zeigen, wie der Fachmann solche Dokumente zergliedert.« Hergotins hohe Stirn war in nachdenkliche Runzeln aufgespalten. Sein energisches, verbindliches Gesicht hatte einen abwesenden Ausdruck. »Das wäre alles. Haben Sie noch eine Frage, Fräulein Delius?« Er versorgte die Photographie wieder in seiner Brieftasche.
»Ja. Die Ackermann wird den Verlust natürlich bemerken und mich im Verdacht haben. Wie soll ich mich in diesem Falle verhalten?«
»Heucheln Sie Unbefangenheit. Lassen Sie Ihre Schubladen und so weiter ruhig offen; denn Frieda wird das Bild sicher bei Ihnen suchen. Im übrigen kann sie nicht mißtrauischer werden, als sie schon ist. Das beweist die Kündigung. Was meine Pläne betrifft, so will ich Ihnen nur so viel verraten, daß ich den Schwerpunkt meiner Nachforschungen von jetzt ab in eine andere Richtung verlegen werde. Sobald ich klarer sehe, erhalten Sie Bescheid.«
Nach einer kleinen Pause tat Hanni einen tiefen Atemzug und sagte entschlossen:
»Morgen ist Sonntag. Ich werde diesen freien Tag dazu benützen, nach Altenbuch zu fahren.«
Hergotin machte ein verdrießliches Gesicht.
»Das ist mir gar nicht recht, Fräulein Delius. Muß das sein?«
»Das muß sein!«
»Dann versprechen Sie mir wenigstens das eine: Seien Sie vorsichtig. Reden Sie um Himmels willen nicht von mir oder von dem Bild. Ich wünsche, daß der Doktor völlig unbefangen bleibt. Andernfalls kann ich für gar nichts einstehen. Wenn Sie mir den Mann kopfscheu machen, würde ich mich zu meinem Bedauern gezwungen sehen, meinen Auftrag an Mr. Goldwyn zurückzugeben.«
»Ich verspreche Ihnen, vorsichtig zu sein. Es ist eine rein persönliche Angelegenheit, die mich nach Altenbuch treibt.«
Hergotin wiegte den Kopf:
»Lassen Sie Ihren Verstand nicht mit Ihrem Gefühl durchgehen; mehr sage ich nicht.« Es klang wie eine sehr dringliche Warnung.
»Wieso Gefühl?«
»Ich bin nicht blind, Fräulein Delius«, sagte der Detektiv trocken.