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Justizrat Hultschiner gab dem sommersprossigen Kanzleifräulein einen Wink, sich zu entfernen. Dann wendete er sich an Markus:
»Was Ihnen die Baronin gesagt hat, stimmt leider. Ihre Gattin hat die Ehe angefochten.«
»Wird sie Erfolg haben?«
»Unbedingt. Kollege Sternheim, der Rechtsbeistand Ihrer Frau, stützt sich auf den Paragraphen 1333 des Bürgerlichen Gesetzbuches.«
»Ich bin Laie, Herr Justizrat.«
»Natürlich; verzeihen Sie. Dieser Paragraph besagt: Wer sich in der Person des andern Ehegatten oder über solche persönliche Eigenschaften des andern Ehegatten geirrt hat, die ihn bei Kenntnis der Sachlage oder bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe –«
Markus unterbrach den alten Herrn mit einer brüsken Handbewegung.
»Schlicht gesagt: was wirft mir meine Frau eigentlich vor?«
Justizrat Hultschiner wand sich wie ein Regenwurm. Es fiel ihm nicht leicht, diesem armen Teufel die Wahrheit zu sagen.
»Sprechen Sie getrost; ich kann eine ganze Menge vertragen.«
Hultschiner nahm einen Anlauf.
»Man versteift sich auf Ihre Gefängnisstrafe und dann auf ein – hm – auf ein gewisses sittliches Manko«, erwiderte er verlegen.
»Danke. Warum erfahre ich das mit der Scheidung erst jetzt? Die Geschichte ist doch schon eine ganze Weile anhängig.«
»Ich wollte Sie schonen, lieber Doktor. War das letzte Jahr nicht ohnedies schwer genug? Hätte ich Ihnen im Gefängnis mit solchen Sachen kommen sollen? Übrigens hätte ich Sie heute sowieso um eine Unterredung gebeten.«
»Habe ich in dieser Angelegenheit noch irgend etwas zu tun?«
»Ich möchte Sie bitten, dieses Schriftstück zu unterzeichnen. Sie erklären damit, daß Sie von dem Scheidungsantrag Ihrer Gemahlin Kenntnis genommen haben und keine Einwände erheben. Ihre Unterschrift würde die Sache ungemein vereinfachen, beziehungsweise beschleunigen. Ein Widerstreben wäre ohnehin zwecklos, wie ich schon sagte. Denn der Fall liegt durchaus günstig für die Gegenpartei.«
»Schön, geben Sie her.«
Markus setzte mit zusammengebissenen Zähnen seinen Namen unter das Dokument. Er zerschnitt damit auch äußerlich das Band, das ihn an Marion von Hesterberg gefesselt hatte. Dann erkundigte er sich:
»Bis wann ist das Urteil zu erwarten, Herr Justizrat?«
»In vierzehn Tagen, wenn es gut geht. Ich will jedenfalls mein möglichstes tun. Und nun wollen wir uns über die Ackermann unterhalten. Die Person war bisher leider nicht zu fassen. Sie lebt wie eine Nonne, hat keinen Verkehr, empfängt keine Briefe, spielt die Samariterin bei ihrer Mutter – der Kuckuck soll aus dem Frauenzimmer klug werden! Der Beweggrund dieses Meineides ist das größte Rätsel, das mir in meiner dreißigjährigen Praxis untergekommen ist. Ich brauche Ihnen nicht zu versichern, daß ich auch heute noch von Ihrer Unschuld überzeugt bin, lieber Doktor«, schloß der alte Herr mit sichtlicher Teilnahme.
»Ich danke Ihnen, Herr Justizrat«, versetzte Markus mit starrem Antlitz.
»Justizirrtümer hat es leider zu allen Zeiten gegeben. Irren ist menschlich. Ich hoffe immer noch, daß sich Ihr Fall früher oder später aufklärt. Aber man sollte ein bißchen nachhelfen. Ich schlage deshalb vor, die Ackermann durch einen tüchtigen Detektiv überwachen zu lassen. Irgendwann und irgendwo gibt sich die Person doch mal eine Blöße, wo man einhaken kann. Zu diesem Unterfangen gehört allerdings Geld, viel Geld sogar; denn unser Mann muß sich ganz und gar seiner Aufgabe widmen können.« Er sah Markus mit seinen klugen Greisenaugen prüfend an.
»Was Sie sagen, ist ganz schön. Aber ich möchte mir die Bemerkung erlauben, daß ich leider ruiniert bin«, sagte Markus bitter.
»Das tut mir aufrichtig leid, lieber Scheithauer«, entgegnete der andere betroffen. »Darf man fragen, was Sie jetzt beginnen werden?«
»Ich werde ins Ausland gehen, Herr Justizrat.«
»Ich wünsche Ihnen alles Gute.«
»Ich kann es brauchen, Herr Justizrat.«
Als sie sich die Hände zum Abschied reichten, dachte Hultschiner: dieser junge Mann wird es auch im Ausland nicht leicht haben oder ich müßte mich sehr irren.
*
Am andern Morgen – Schlag acht Uhr – läutete es bei Scheithauer. Markus' Vater ging zu öffnen und sah sich einer jungen Dame gegenüber, die ihn unbefangen musterte.
»Kann ich Herrn Doktor sprechen?«
»Mein Sohn ist ausgegangen; er muß aber alle Augenblicke zurückkommen.«
»Ich heiße Hanni Delius und möchte meine Stellung antreten.«
Adam Scheithauer blickte das gut aussehende junge Mädchen ratlos an.
»Ich bin für den 15. November als Sprechstundenhilfe verpflichtet«, erläuterte Fräulein Delius.
»So.«
Ein wenig verwirrt, bat er die Besucherin, einzutreten und im Empfangszimmer einstweilen Platz zu nehmen. Gottverdimmich, dachte er, da hat sich Markus eine schöne Suppe eingebrockt. Wenn die Sache nicht ein Irrtum ist. Sprechstundenhilfe! Das hat uns gerade noch gefehlt. Während er der jungen Dame etwas unbeholfen einen Stuhl anbot, stellte er fest, daß diese ein offenes, frisches Gesicht und sehr blaue Augen hatte.
Fräulein Delius setzte sich ohne Verlegenheit und ließ dabei ein Paar zierliche Beine sehen, die in niedlichen Schuhen staken. Dabei plauderte sie in der zwanglosen Art von Menschen, die weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen sind. Sie erzählte, daß ihr Vater der Pastor Delius in Hammelspring wäre, und daß sie zuletzt bei Generalkonsul Tulpenträger in Frankfurt die Stellung einer Privatsekretärin bekleidet hätte. Daß sie reine Bureauarbeit stumpfsinnig fände und darum mit Vergnügen die Annonce Dr. Scheithauers aufgegriffen hätte. Frankfurt wäre ja ganz nett, aber auf München, das sie nur von der Durchreise her kenne, freute sie sich besonders. Es war nicht zu leugnen, daß Fräulein Delius ein munteres Plappermäulchen hatte.
Adam Scheithauer, der sich lange genug auf das Zuhören und einige Interjektionen beschränkt hatte, fand, daß es an der Zeit wäre, auch einen Ton zu reden.
»Sind Sie schon in Italien gewesen, Fräulein?«
»Gewiß. Vor drei Jahren. Ich habe damals Frau Bankier Reichenbach begleitet, die nicht italienisch konnte.«
»Ich frage nur so«, meinte der alte Mann nachdenklich. Schließlich geriet die Unterhaltung ins Stocken, um so mehr, als sich Adam Scheithauer nicht gerade übermäßig verausgabte. In der nun entstehenden Pause konstatierte Fräulein Delius mit einiger Verwunderung, daß auf den schönen Möbeln dicker Staub lag und die Stille in dieser Wohnung geradezu beängstigend war. Sie hatte sich den Haushalt eines vielbeschäftigten Arztes wesentlich anders vorgestellt und war froh, als endlich die Flurtür ging. Adam Scheithauer empfahl sich für einige Minuten und fing seinen Sohn im Korridor ab.
»Erschrick nicht, Markus, aber das ist eine ganz verrückte Sache. Da drinnen sitzt ein junges Mädchen und will mir weismachen, sie sei für den 15. November von dir engagiert. Stimmt das?«
»Himmel, auf dieses Fräulein Delius habe ich ganz vergessen, Vater! Vor einem halben Jahr habe ich die Dame für mein Sprechzimmer und die schriftlichen Arbeiten verpflichtet, da mir das Zeug über den Kopf wuchs. Ich konnte doch damals nicht ahnen, wie alles kommen würde. Ja, was tun wir denn da? Es bleibt wohl nichts anderes übrig, als dem Fräulein eine Entschädigung zu geben und ihr zu eröffnen, daß ich sie nicht mehr brauche.«
»Schade um das schöne Geld, das nutzlos zum Fenster hinausgeworfen ist, Markus«, klagte der alte Mann.
»Weißt du eine andere Möglichkeit, Vater?«
Adam Scheithauer kraute sich den Kopf. Ihm kam da eine Idee, die nicht ganz ohne war. Offen gestanden, er hatte Sorge um seinen Sohn. Der Junge war ein bißchen schwerblütig und machte vielleicht Dummheiten, wenn man ihn allein ließ. Vielleicht sprang er von der Peterskuppel oder er warf sich vor einen Zug; es war alles schon dagewesen. Diese Gedanken hatten Adam Scheithauer die ganze verflossene Nacht bedrängt. Nun bot sich plötzlich ein Ausweg. Er sagte unsicher:
»Nimm das Mädel doch mit, Markus. Denk' dir, sie kann italienisch und ist schon dort unten gewesen. Das wäre ein großer Vorteil für dich. Du hast einen Führer und ersparst eine Menge Ärger und Enttäuschung.«
»Was tue ich mit einem fremden, jungen Mädchen, Vater?« antwortete Markus unwillig. »Menschen wie ich bleiben am besten allein.«
Der Alte ließ nicht locker.
»Und wenn ihr nichts Gescheiteres vorhabt, kannst du ihr deine medizinische Arbeit in die Maschine diktieren. Hast du mir nicht gestern noch von deinem neuen Buch erzählt, Markus?« Wie seltsam! Adam Scheithauer setzte plötzlich alles Vertrauen der Welt in die junge, selbstbewußte Dame da drinnen.
Markus erwiderte nichts und ging an seinem Vater vorbei in das Besuchszimmer. Fräulein Delius trat ihm entgegen und wunderte sich über sein müdes, verfallenes Aussehen. Sie streckte ihm ohne Schüchternheit die Hand hin:
»Guten Tag, Herr Doktor.«
»Guten Tag, Fräulein Delius.« Er blickte in ein vertrauenerweckendes, lächelndes Gesicht, das ihn sympathisch berührte. Vielleicht hatte der Vater recht; vielleicht war es wirklich von Vorteil, dieses heitere, unverbrauchte Geschöpf mit auf die Reise zu nehmen. Vielleicht ließ sich in ihrer Gesellschaft alles leichter vergessen, als wenn man allein mit einem Schwarm trüber Gedanken war.
»Verzeihen Sie –, Fräulein Delius, ich habe ganz darauf vergessen, daß heute der fünfzehnte ist. Meine Frau ist nämlich verreist und jetzt geht alles drunter und drüber. Wann sind Sie in München angekommen?«
»Vor einer Stunde; ich bin die Nacht durchgefahren.«
»Dann werden Sie jetzt wohl müde sein?«
»Gar nicht. Ich bin bereit, wenn Sie mich in meine Pflichten einweihen wollen«, lächelte sie.
Nein, sie weiß noch nichts von meiner Schande, dachte Markus und zauderte. Noch war es Zeit, das Mädchen unter einem Vorwand fortzuschicken. Dann übermannte ihn plötzlich ein dunkler Trotz gegen sein Schicksal, gegen die ganze menschliche Gesellschaft; er gab sich einen Ruck und sagte:
»Ich bin im Begriffe, eine längere Tour nach Italien zu unternehmen. Meine Gesundheit ist nämlich nicht die beste. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich auf dieser Reise zu begleiten? Eine kleine Schreibmaschine könnten wir mitnehmen.«
Fräulein Delius, die so unerwartete Wendungen von Generalkonsul Tulpenträger her gewöhnt war, erwiderte freundlich:
»Es macht mir nichts aus, Herr Doktor. Wann gedenken Sie zu fahren?«
»Am liebsten noch heute.«
»Um elf Uhr geht ein tadelloser Zug in Richtung Innsbruck – Bozen«, stellte sie sachlich fest. »Meine Koffer sind zum Glück noch auf der Bahn.«
»Ich habe noch eine Kleinigkeit zu packen und werde eine halbe Stunde vor Abgang des Zuges am Bahnsteig sein.«
»Ich werde Sie dort erwarten«, entgegnete sie und empfahl sich.