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Während Fräulein Delius in der verrußten Glashalle des Münchener Hauptbahnhofes auf Dr. Scheithauer wartete, fiel ihr der Brief von Tobias Steguweit ein, und sie beschloß, ihn noch einmal zu lesen. Der junge Vikar schrieb, daß es dem Pastor Delius und seiner Gattin wohlergehe, daß die vor Jahresfrist angekommenen Zwillinge mächtig wüchsen, daß Flora, die Jagdhündin, unter das Auto des Tierarztes geraten sei und daß der Apotheker Schüttekorn sich endlich doch mit der Witwe Gieseking verlobt habe. An den Schluß der vier Seiten langen Epistel war die Hoffnung geknüpft, daß er – Tobias – im kommenden Frühjahr wahrscheinlich die Pfarrstelle in Haßleben erhalte und dann einen Ehestand zu gründen in der Lage sei. Bis dahin möge sich Hanni den im letzten Brief gemachten Vorschlag durch den Kopf gehen lassen, falls sie sich nicht allsogleich entschließen könne.
Hanni Delius ließ den Brief des Jugendfreundes sinken und starrte versonnen in den Rauch einer qualmenden Lokomotive. Ihr Vater und die Stiefmutter wünschten diese Verbindung sehr, das wußte sie. Aber ihr eigenes Herz blieb stumm bei allem, was ihr der bis über die Ohren verliebte Theologe in der Uckermark zu sagen hatte. Sie war froh, als endlich ihr neuer Chef erschien und sie aus ihren Gedanken riß. Scheithauer begrüßte sie hastig.
»Lieber Himmel, Fräulein Delius, ich habe vorhin ganz vergessen, Sie nach Ihrem Paß zu fragen. Haben Sie denn ein italienisches Visum?«
»Habe ich. Noch von Frankfurt her. Bei Herrn Tulpenträger mußte man ja immer auf dem Sprung sein«, lächelte sie beruhigend.
Markus atmete auf. Wie gut, daß die Abreise keine Verzögerung erlitt! Dann veranlaßte er, daß ihr Gepäck an den Zug gebracht wurde. Als sie sich in einem Wagen zweiter Klasse häuslich niedergelassen hatten, rollte der Zug aus der Halle. Verschlungene Geleise, Stellwerksanlagen und Kohlenbunker glitten vorüber. Endlich wurde die Gegend freier. Rataplan – rataplan, sangen die Räder. Je mehr man sich von der Stadt entfernte, desto befreiter wurde Markus zumute. Das junge Mädchen ihm gegenüber wußte zum Glück nichts von seiner befleckten Vergangenheit. Es war nur notwendig, sich zusammenzunehmen und kein Mißtrauen zu erwecken. Fräulein Delius erkundigte sich nach seinen Reiseplänen.
»Reisepläne?« erwiderte er. »Wir fahren ins Blaue, Fräulein Delius. Einfach nach Süden. Wo es schön ist, steigen wir aus.«
Die junge Dame – Fräulein Delius sah tatsächlich so aus – blickte ihn erstaunt an. Da verbesserte er sich:
»Natürlich denke ich an bestimmte Ziele. Etwa Venedig, Florenz, Rom, vielleicht auch Neapel. Aber ich möchte nicht mit der großen Herde laufen. Ich will mich erholen, das ist die Hauptsache. Im übrigen ernenne ich Sie hiermit zu meinem Reisemarschall. Sie kennen ja das Land, in das wir wollen.«
Hierauf schlug sie als erste Etappe Bozen vor. Bozen müßte man unbedingt gesehen haben. Dann würde sie zu Venedig raten.
Markus hatte gegen Bozen nichts einzuwenden. Sie möge ganz nach Gutdünken disponieren. Er schloß:
»Und jetzt muß ich darauf dringen, daß Sie ein wenig schlafen, Fräulein Delius. Sie sind die letzte Nacht durchgefahren, und ich fühle mich für Ihre Gesundheit verantwortlich.« Er reichte ihr das Reisekissen, das er einem seiner Koffer entnahm.
Sie schloß gehorsam die Augen. Unter gesenkten Lidern hervor betrachtete sie aufmerksam das Gesicht Scheithauers, das sich blaß und scharf geschnitten von dem dunkleren Plüsch der Polsterung abhob. Unter einer fliehenden, hohen Stirne glänzten zwei vergrübelte, sanftgraue Augen. Von der schmalen Nase liefen gramvolle Furchen zu dem einsamen, eigenwilligen Mund … glücklich ist dieses Gesicht nicht, dachte sie noch und schlummerte ein.
Markus nahm eine Zeitung und versuchte zu lesen. Es mißlang. Immer wieder drängte sich das Leid der verflossenen Monate in seine Vorstellungen. Hoffentlich begegne ich keinem Bekannten; hoffentlich macht niemand Fräulein Delius auf meine Schande aufmerksam, grübelte er angstvoll und verbarg seinen Kopf hinter der Zeitung, sooft ein neuer Reisender den Wagen betrat. Aber es geschah nichts Bedrohliches.
Kurz vor Innsbruck erwachte seine Begleiterin und nickte ihm fröhlich zu. Wie jung sie ist!, dachte Markus neidisch und prüfte sein eigenes, altes Gesicht in der Fensterscheibe. Draußen dehnte sich eine winterliche Welt. Schnee lastete wie dicke Watte auf vorüberhuschenden Gehöften. Zuckerige Tannen besäumten den Weg. Berge krochen heran, die Sonne brach aus den Wolken. Markus fröstelte.
In Innsbruck stiegen Reisende ein und aus. Die lachenden Gesichter taten Markus weh. Um irgend etwas zu sagen, begann er:
»Wie kommt es, Fräulein Delius, daß Sie nicht zu Hause bei Ihren Eltern sind?«
Kaum getan, empfand er diese Frage als töricht. Hatten heute nicht die meisten jungen Mädchen einen Beruf?
»Vater hat nochmal geheiratet; vor zwei Jahren. Seitdem bin ich von daheim fort. Erwachsene Töchter und Stiefmütter vertragen sich schlecht. Die Schuld liegt natürlich bei mir. Ich bin vorlaut, unbotmäßig und entartet«, sagte sie mit drolligem Ernst.
Markus brachte ein kleines Lächeln zustande.
Am Brenner stürzten wildblickende, junge Leute in den Zug, die sich als Zöllner und Faschisten entpuppten und mit nicht immer einwandfreien Fingern die Koffer durchwühlten. Nach zwanzig Minuten Aufenthalt ging es weiter. Als sie in Bozen ankamen, begann es zu dämmern.
»In Bozen kenne ich einen biederen Gasthof, wo man gut aufgehoben ist. Ich weiß nur nicht, ob er Ihnen fein genug ist, Herr Doktor?« sondierte Fräulein Delius.
»Mir ist alles recht. Nur nicht zuviel Leute, bitte. Seit einiger Zeit vertrage ich menschliche Ansammlungen nicht mehr«, erwiderte Markus.
Der »Riese« war trotz seiner italienisierten und frisch gemalten Inschrift »Al Gigante« ein echt tiroler Wirtshaus, wo man noch Knödelsuppe kannte, wenn sie auf der Speisekarte auf Befehl des Duce auch »Gniocchi in brodo« hieß. Nach dem Abendbrot unternahmen sie einen kleinen Bummel durch die Stadt. Behäbige Bürgerhäuser und Bogengänge erinnerten irgendwie an Passau oder Wasserburg. Als sie unter dem Denkmal Walthers von der Vogelweide standen, sagte Fräulein Delius entrüstet:
»Stellen Sie sich vor: in dieser urdeutschen Stadt dürfen die Kinder nicht mehr in ihrer Muttersprache beten. Möchte man da nicht verzweifeln?« Ihr hübsches Gesicht glühte vor Eifer.
Markus schwieg. Von der nahen Kirche dröhnte eine Glocke. An den Hängen der Berge schimmerten farbige Lichter. Das Firmament war mit veilchenblauem Samt verhängt. Die ersten Sterne wurden angesteckt. Markus dachte voll Bitterkeit: bin ich nicht hundertmal schlimmer daran als diese Südtiroler? Wer fragt nach mir? Wer bemitleidet mich?
Um nicht unhöflich zu sein, erwiderte er schließlich: »Sie haben recht, Fräulein Delius, manches in der Welt ist zum Verzweifeln. Aber wir ändern's nicht. Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir in unsern Gasthof zurückkehren. Wir müssen morgen bald aufstehen.«