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XI

Während Fräulein Delius auf ein großes Gemälde von Paolo Veronese zutrat, um es in der Nähe zu besichtigen, ließ sich Markus erschöpft auf den nächsten Stuhl fallen. In seinem Kopf schwirrten fremde, schwer auszusprechende Namen. Er war zum Umsinken müde. Seit sie in Florenz weilten, hatte ihn dieses blonde Fräulein aus der Uckermark in Trab gehalten. Sogar im Schlaf hatte er Zwangsvorstellungen von Galerien, Museen und berühmten Kirchen. Das war Unfug. Das mußte ein Ende haben. Schließlich war er nicht nach Italien gereist, um Kunstgeschichtler zu werden.

Hanni Delius kam zurück und setzte sich neben ihn. Ihr straffes, junges Gesicht war voll Feierlichkeit. Ohne große Geste, aber mit sichtlicher Ergriffenheit sagte sie:

»Diese ›Heilige Familie‹ gehört zu dem Besten, was uns der Meister hinterlassen hat. Beachten Sie, bitte, die Verteilung von Licht und Schatten.«

»Wer ist Paolo Veronese? Sie wissen doch, daß ich total ungebildet bin, liebes Fräulein«, erwiderte Scheithauer, und Spott zuckte um seine Mundwinkel.

»Ein venezianischer Maler.«

»Gelebt?«

»Ich glaube, im 16. Jahrhundert.«

»Sie dürfen sich setzen; Sie haben Ihre Lektion gut gelernt.«

Nun wurde Hanni aufmerksam.

»Gestatten Sie, Fräulein Delius, daß ich diesen Kenntnissen mein Kompliment mache. Sie sind ja fabelhaft. Woher haben Sie das eigentlich?«

Hanni sah ihm erstaunt ins Gesicht.

»Gott, man liest hin und wieder einiges. Aber warum verspotten Sie mich? Wenn Ihnen meine Kommentare lästig sind, will ich sie gern unterlassen.« Sie machte aus ihrer Verstimmung kein Hehl.

Markus lenkte ein:

»Lästig fallen – ist wieder zu viel behauptet. Aber ehrlich gestanden: ich habe jetzt genug von der toskanischen Kunst. Ich fange an, schwindlig zu werden. Ich weiß bereits nicht mehr, ob die ›Madonna mit dem Stieglitz‹ hier in den Uffizien oder in der Pittigalerie oder in der Accadèmia hängt. Ich bin auch nicht sachverständig genug, um die feinen Unterschiede zwischen der Umbrischen und der Sienesischen Schule würdigen zu können. Haben Sie Mitleid mit mir, liebes Fräulein Delius.«

Hanni machte eine zerknirschte Miene.

»Warum haben Sie das nicht eher gesagt? Ich hätte Sie bestimmt mit meinen Erklärungen verschont. Wir hätten Ausflüge in die Umgebung unternehmen können. Nach Fièsole zum Beispiel.«

Dr. Scheithauer erhob sich. »Wieviel Säle haben wir noch?«

»Einen.«

»Wichtig?« spottete er.

»Das kommt darauf an, wie man zu Tizian steht«, entgegnete sie schnippisch.

»Von Tizian habe ich gehört. Großer Bonze. Sie werden doch nicht böse sein, Fräulein Delius? Kommen Sie, wir werden Herrn Tizian unsere Aufwartung machen; sonst kann er vielleicht heute nacht nicht schlafen«, scherzte Markus und nahm sie unter den Arm.

Das erste Bild, das im Führer als »Venus von Urbino« bezeichnet war, stellte eine nackte, schöne Frau dar, die auf einem Ruhebett lag, während ihre Dienerinnen in einem Nebengemach die Kleider bereit hielten. Das Antlitz des jungen Weibes hatte eine überraschende Ähnlichkeit mit dem von Hanni Delius.

Markus blieb wie gebannt stehen und fühlte sich plötzlich einer beschämenden Schwäche preisgegeben. Erregt und verwirrt zugleich wendete er sich von dem Bilde ab. Seine Augen suchten Hanni Delius, die einige Schritte vor ihm ging. In der Tat, es schien, als sei die Venus von Urbino aus ihrem Rahmen gestiegen und habe sich in dem duftigen Musselinkleidchen von Fräulein Delius verborgen. Zum ersten Male in diesen zwei Wochen des Beisammenseins machte er die Entdeckung, daß seine Begleiterin nicht nur eine untadelige Angestellte, sondern ein aufreizend hübsches Geschöpf war. Zum ersten Male sah er das Weib in ihr. Wie schlank und süß gerundet diese Glieder waren, wie edel geschwungen die Linie des Nackens, wie zierlich die Füße! War es nicht ein Verbrechen, neben toten Bildnissen alter Meister dieses blühende, lebensvolle Wunder zu übersehen?

Markus löste sich mühsam aus der Umklammerung frevelhafter Wünsche und folgte der Voranschreitenden. Als sie den Saal Tizians durchschritten hatten, wendete sich Fräulein Delius ihm unbefangen zu: »Wir sind fertig, Herr Doktor.«

Er nickte und dachte: Wie blau ihre Augen sind!

Als sie den Palazzo degli Uffizi verließen, tobte ihnen wüster Lärm entgegen. Es war Markt. Bis auf die Treppenstufen der Loggia dei Lanzi hatten die Händler ihre Stände vorgeschoben. Letzte Rosen und feuerfarbene Gladiolen prangten in irdenen Gefäßen. Südfrüchte, Karfiol und unbekannte Gemüse lagen appetitlich in den Körben. Ein Bursche hielt gerupfte Singvögel feil, drei Stück zu einer Lira. In den Fleischerläden hingen speckglänzende Schinken, Mortadella und geschlachtete Kapaune. Die Luft war angefüllt mit dem Geschrei erregter Menschen und mit unbestimmbaren Gerüchen.

Die beiden zwängten sich durch das Gewühl der Piazza della Signoria und retteten sich in die Straße, die vom Palazzo Vecchio nach dem Arno führt. Markus folgte seiner Begleiterin wie benommen. Er mußte zufällig an Marion denken und bemühte sich, dieselbe mit Fräulein Delius zu vergleichen. Es gelang ihm nicht. Denn alles, was sein Gehirn von seiner früheren Frau zu rekonstruieren versuchte, war verblaßt, undeutlich und reichte nicht aus, die beiden Frauen nebeneinander zu stellen. Wie rasch man vergißt! dachte er bekümmert.

Die kleine, schicke Pension, in der sie seit acht Tagen wohnten, hieß »Il Sorriso« und lag am Lungarno Corsini. Es war nicht weiter als zehn Minuten bis dorthin. Zur Linken rauschte der Fluß, gefesselt von unerbittlichen Betonwänden.

Markus prüfte den Himmel und fand, daß er wolkenlos und von gleichmäßig blauer Farbe war. Dann fiel ihm auf, daß Hanni Delius wortlos neben ihm herschritt. Er sagte entschuldigend: »Mein Urteil über die Kunst hat Sie gekränkt, nicht wahr? Aber Sie dürfen das nicht so ernst nehmen. Ich weiß schon, ich bin manchmal ein ganz unleidlicher Geselle. Ich danke Ihnen, daß Sie mit meinen Launen soviel Geduld haben.«

»Die Schuld liegt an mir«, meinte Hanni freundlich und rasch versöhnt. »Es war falsch von mir, meine Begeisterung Ihnen aufzwingen zu wollen. Bleibt es dabei, daß wir morgen nach Rom fahren?«

»Es bleibt dabei. Und jetzt wollen wir uns wieder vertragen, Fräulein Delius, ja?« Er streckte ihr die Hand hin.

»Ich war Ihnen eigentlich nicht böse«, erwiderte sie versonnen. Wie hatte damals der alte Scheithauer zu ihr im Treppenhaus gesagt? »Mein Markus ist ein guter Junge, aber ein bißchen unpraktisch. Bemuttern Sie ihn nur, Fräuleinchen. Zu Ihnen hab' ich Vertrauen. Und kommen Sie mir gut miteinander zurück.«

Hanni grübelte über ihr Verhältnis zu Scheithauer nach. Man konnte es kameradschaftlich nennen. Nie kehrte der Doktor den Vorgesetzten heraus. Hanni hatte über nichts zu klagen. Nur eines machte sie ein wenig unsicher: Scheithauer schien irgendein Geheimnis oder Leid vor ihr zu verschließen. Und dieses mußte so groß sein, daß es ihn zum Melancholiker und Menschenfeind machte.

*

Es war nach dem Abendessen in der Pension »Il Sorriso«. Markus und Hanni hatten sich in den hohen, luftigen Salon zurückgezogen, der ihre Zimmer voneinander schied. Die Fenster standen weit offen. Ein warmer, herbstlicher Tag ging zur Rüste. Der Himmel schimmerte wie sattblauer Samt, in den orangene Streifen gestickt waren. Aus der Tiefe drang das glucksende Geräusch der Arnowellen.

Markus, den Geschmack von rotem Falerner noch auf der Zunge, saß mit übergeschlagenen Beinen in einem Fauteuil. Hanni stand am Fenster und blickte in die Dämmerung, die wesenlos von den Apenninenhöhen ins Tal kroch. Die marmorne Basilika von San Miniato al Monte hob sich wie ein Tempel aus der Dunkelheit todernster Zypressen. Markus betrachtete mit flimmernden Augen das Gesicht von Fräulein Delius, das der Venus von Urbino so ähnlich war. Plötzlich begann er:

»Eigentlich sehen Sie gar nicht wie eine Pfarrerstochter aus, Fräulein Delius.«

Diese wendete langsam den Kopf. Ihr Antlitz mit der ein wenig steilen, zierlichen Nase schmiegte sich in die jäh einfallende Dämmerung des Raumes. Sie lächelte mit festen, weißen Zähnen:

»Wie meinen Sie das? Wegen der kurzen Röcke? Oder wegen der kurzen Haare? Nun, ich bin eben, wie schon gesagt, ziemlich entartet. Das ist auch der Grund, warum ich nicht zu Tobias Steguweit passe.« Dieses Bekenntnis entfuhr ihr wider Willen.

Von unklarer Eifersucht übermannt, erkundigte sich Markus:

»Wer ist Tobias Steguweit?«

»Ein Jugendfreund von mir. Er ist Vikar in meiner Heimat und wünscht, ich soll seine Frau werden.«

Markus fühlte blinden Haß gegen den Uckermärker. Die gierigen Wünsche von heute morgen waren plötzlich wieder da und verbrannten sein Blut. Eine dunkle Stimme zischelte ihm zu, Fräulein Delius wie ein Wegelagerer zu überfallen und sich seinen Tribut zu nehmen. Rote Nebel wallten durch das Zimmer. Wie ein Betrunkener wankte Markus auf das Mädchen zu und lallte:

»Ich dulde nicht, daß Sie Tobias Steguweit heiraten! Sie müssen bei mir bleiben. Versprechen Sie mir das!«

Dabei glitten seine Hände bettelnd an ihren Armen entlang. Fieber schüttelte ihn. Seine Kiefer mahlten an sinnlosen Worten. Einen Augenblick lang biß ihn sogar der Gedanke ins Genick, reinen Tisch zu machen und alles zu gestehen. Dann brach jähe Feigheit über ihn herein und verriegelte ihm die Zähne. Kraftlos lösten sich seine Finger von ihren Gliedern und fielen ins Leere.

Hanni Delius war starr. Ihre Miene drückte hochmütige Abwehr aus. Schließlich stieß sie spöttisch hervor:

»Was sind das für komische Sachen? Haben Sie einen Sonnenstich? Oder haben Sie zu viel getrunken? Ich denke, es ist das beste, wenn Sie zu Bett gehen. Gute Nacht!«

Sie schnellte den Kopf in den Nacken und ging rasch in ihr Zimmer. Als sie die Tür verriegelt hatte, kleidete sie sich nachdenklich aus. Was waren nun das wieder für verrückte Ideen? Der Kuckuck mochte daraus klug werden. Vielleicht war es ein Nervenanfall gewesen? So unausgeglichen, sprunghaft und unberechenbar war der ganze Mensch, von einer Ekstase in tiefste Verzagtheit fallend. Er bedurfte nicht einer Stenotypistin, sondern einer Krankenpflegerin. Ach Gott, man darf ihn nicht ernst nehmen, dachte sie ärgerlich und zog die Bettdecke über den Kopf.

Sie hatte an der Wahrheit vorbeigeraten. – – –

Markus blieb mit fahlem Gesicht zurück. Sein verzerrter Mund entspannte sich langsam. Ernüchtert fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, um eine letzte Dumpfheit zu verscheuchen. Dann lachte er lautlos vor sich hin. Natürlich; wie hatte er glauben können, die Tochter des Pastors Delius würde sich ihm jubelnd in die Arme stürzen! Mit zusammengepreßten Lippen suchte er sein Zimmer auf, nahm den Mantel vom Haken und trat auf den Korridor. Eine Minute später stand er auf der Straße und schlenderte den Arno entlang, eine Beute seines genarrten Blutes. Er war zornig auf das dumme, kleine Mädchen dort oben.

Nachdem er viele Viertelstunden ziellos umhergeirrt war, geriet er in eine entlegene Gegend mit zweifelhaften Häusern und krummen Gassen. Aus verhängten Kneipen drang Lärm und Lachen; Grammophone kreischten. Unheimliche Gestalten lungerten unter den Torbögen. Unter einer Laterne sprach ihn ein dunkelhaariges, hübsches Frauenzimmer an und fragte, ob der Signor nicht eine gute Flasche Frascati wolle. Markus dachte an Hanni Delius und nickte trotzig. Eine kleine Weile später sah er sich in einer obskuren Schenke. Die hübsche Florentinerin goß blutroten Wein in zwei schlecht gereinigte Gläser und stieß lachend mit ihm an. Er jagte den schweren Wein durch die Kehle, als wäre er Wasser.

Die Dunkelhaarige nannte ihn einen »süßen Burschen« und schenkte das Glas abermals voll.

Markus vergaß langsam Fräulein Delius. – – –

Als Markus erwachte, verspürte er rasende Kopfschmerzen. Mühsam stemmte er die bleiernen Lider in die Höhe und stellte fest, daß er in seinem Zimmer lag und grelle Sonne schien. Es pochte an der Tür. Wie durch dicke Tücher, vernahm er die Stimme von Fräulein Delius, die ihn besorgt erinnerte, daß in zwei Stunden ihr Zug nach Rom ginge.

Markus, noch halb im Schlaf, gab eine kurze Antwort; dann war Ruhe. Er versuchte, die Geschehnisse der vergangenen Nacht sich zu vergegenwärtigen. Es gelang nur teilweise. Das Letzte, an das er sich mit Bestimmtheit zu erinnern vermochte, war die Tatsache, daß jenes Frauenzimmer mit ihm die Schenke verlassen hatte. Alles Weitere war ausgelöscht in seinem Bewußtsein. Wie er in die Pension zurückgefunden hatte, war ein Rätsel.

Scham überfiel ihn, obgleich er die Ausschweifung dieser Nacht nur dunkel ahnte. Von einem plötzlichen Verdacht in die Höhe gestoßen, suchte er nach Uhr und Brieftasche. Wider Erwarten fand er beides in seinen Kleidern. Das Geld war bis auf einen 200-Lire-Schein vollzählig da. War das nicht wie ein Wunder? Dennoch quälte ihn Reue. Er wurde die Empfindung nicht los, als habe er Fräulein Delius mit dieser trüben Geschichte irgendwie beschmutzt. Eine nicht zu nennende Angst beschlich ihn. Vor der eigenen Zügellosigkeit, vor seinen sündhaften Wünschen, vor dieser unerklärlichen Erinnerungslosigkeit … Wie, wenn er an Dämmerzuständen litt? Wenn er in diesen Zeiten Dinge beging, von denen er hinterher nichts wußte? Wer kannte sich selber? Schweißtropfen standen auf seiner Stirn.

Dann schüttelte er ärgerlich diesen törichten Einfall ab. Ich war betrunken, tröstete er sich. Vielleicht war ein Betäubungsmittel in dem Wein gewesen. Das würde mühelos die ganze Sache erklären.

Markus sprang aus dem Bett und tunkte seinen glühenden Schädel in kaltes Wasser. Das tat wohl und erfrischte. Eine Viertelstunde später saß er beim Frühstück und blätterte im Kursbuch.


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