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»Und ich Narr habe immer geglaubt, du liebtest mich –«, sagte Tobias Steguweit leise und blickte in seine Tasse.
Ein Kellner eilte vorüber, gedämpfte Stimmen schwirrten, von dem Podium in der Mitte des kleinen Cafés rieselte sanfte, altmodische Musik in den Raum.
Hanni Delius entgegnete, so schonend es ihr möglich war:
»Sei mir nicht böse, Tobias, daß ich dich enttäuschen muß. Aber niemand kann für sein Herz. Du wirst jetzt heimfahren und eine bessere Frau als mich finden.«
Es gibt keine bessere Frau, dachte Vikar Steguweit verzweifelt und rührte zwecklos in seiner Tasse. Steguweit besaß die gutmütigsten Augen, die man sich denken konnte; aber jetzt waren sie von Schwermut verdunkelt. Er trank mechanisch einen Schluck von dem guten Bohnenkaffee und sagte mit unsicherer Stimme:
»Wenn das dein letztes Wort ist, Hanni, hat es keinen Sinn für mich, noch länger in München zu bleiben. Bevor ich gehe, möchte ich mich noch eines Auftrages entledigen. Frau Anna läßt dich bitten, so bald als möglich heimzukommen. Sie braucht dich nötig. Die Zwillinge machen ihr viel Arbeit.«
Fräulein Delius schüttelte den Kopf.
»Sage meiner Stiefmutter, daß das augenblicklich nicht geht. Ich habe hier eine Mission, die vordringlicher ist als alle Gründe, die Anna ins Feld führen kann. Ein Mensch ist in Not. Ich darf ihn nicht im Stiche lassen.«
Steguweit preßte die Lippen zusammen. Seine letzte Hoffnung war vernichtet. Er erkannte in dieser Sekunde, daß Hanni einen andern liebte, und daß sie nie die Frau des Vikars Steguweit würde. Er erhob sich und stotterte:
»Ich werde es ausrichten. Leb' wohl, Johanna.«
»Leb' wohl, Tobias. Laß es dir gut gehen, und grüße die Eltern.«
Er nickte stumm, reichte ihr die Hand und schritt zur Tür. Sein Gang war eckig wie der von Leuten, die aus der Provinz in die Großstadt kommen, und seine schwarze Krawatte hatte sich verschoben. Hanni sah ihm nach, bis sein Überzieher und die semmelblonden Haare von der Portiere verschluckt wurden. Er tat ihr leid, aber sie konnte ihm nicht helfen. Wie sehr mußte Tobias sie lieben, da er eigens aus der Uckermark hierher gereist war. Nun hatte ein kleines Wort alles entschieden. Jähe Traurigkeit versengte ihr Herz. Hatte sie recht getan, ihre Gefühle auch weiterhin ins Ungewisse zu verschwenden, anstatt dem blonden Tobias die Hand zu reichen? Es wäre ein kleines Glück geworden, und nun wurde es vielleicht gar keines. Sie seufzte. Die Musiker stimmten ein klagendes, ungarisches Volkslied an, das die Schwermut der Pußta atmete …
Hanni dachte an Markus, von dem sie sich vorgestern in Rosenheim getrennt hatte. Sie waren in Freundschaft auseinander gegangen wie Leute, die durch Wochen gemeinsamen Erlebens miteinander verknüpft sind. Marks gegenwärtiger Zustand ließ sich am besten als hoffnungslose Resignation bezeichnen. Er glich einem Manne, der sein Lebensschifflein auf Gnade oder Ungnade unberechenbaren Elementen preisgibt und auf das Schlimmste gefaßt ist. Von ihren Plänen, die eigentlich nicht so sehr Pläne als unklare Wünsche waren, hatte sie nicht zu Markus gesprochen. Man mußte den Erfolg abwarten. Gestern hatte sie eine Unterredung mit Justizrat Hultschiner gehabt. Der alte Herr hatte gesagt: »Was Sie mir da erzählen, liebes Fräulein, vermag meine Überzeugung von Scheithauers Unschuld und geistiger Intaktheit nicht zu erschüttern. Das sind hypochondrische Anwandlungen, wie ich sie in meiner Praxis dutzendmal erlebt habe. Nachwehen einer Haftpsychose. Aber zugleich der Beweis dafür, daß der arme Mensch mit seinen Nerven am Ende ist. Zu Ihrem Vorhaben wünsche ich Ihnen alles Gute. Es ist kein schlechter Gedanke, daß Sie die Sache selbst in die Hand nehmen wollen.« Daß ein erfahrener Mann wie Hultschiner ihren Plan billigte, hatte ihr ordentlich Kraft gegeben.
Hanni bezahlte und verließ das kleine Café. Es war fünf Uhr nachmittags und zweiter Weihnachtsfeiertag. Festlich gekleidete Menschen gingen über den Stachus. Der Boden lag voll frisch gefallenem Schnee, der bei jedem Schritt knirschte. Hanni überlegte, daß sie so bald wie möglich ein Zimmer mieten müsse. Denn das Leben im Hotel war auf die Dauer zu teuer. Ferner mußte sie sich um eine Stellung umtun, da ihr kleines Kapital zu Ende ging. Von einem Einfall gepackt, fragte sie sich nach der Pfandhausgasse durch, wo die Ackermann wohnte. Als sie vor dem düsteren Hause Nummer 5 stand und zu den freudlosen Fenstern emporblickte, überfiel sie plötzlich Mutlosigkeit. Sie kam sich wie verloren in dieser großen, bedrohlichen Stadt vor. Sie nahm sich zusammen.
Neben dem Haustor hing ein kleines Pappeschild.
»Einfach möbliertes Zimmer an besseres Fräulein per sofort zu vermieten. Näheres im dritten Stock bei Ackermann.«
Hanni wurde schwach vor Freude. Sie wagte nicht zu hoffen, daß dieses Zimmer noch zu haben sei. Mit zitternden Knien betrat sie den finsteren Hausgang und kletterte drei Stiegen hinauf. Im dritten Stock besagte eine vergilbte Visitenkarte: Elise Ackermann, Steuersekretärswitwe. Hanni läutete. Ein junges Mädchen erschien, das in der Mitte gescheitelte, dunkle Haare und melancholische Augen hatte.
Das ist sie! durchfuhr es Hanni, obgleich ihre Vermutung durch nahezu nichts begründet war.
»Ich komme wegen des Zimmers«, begann Hanni. »Ist es noch frei?«
»Jawohl, treten Sie nur ein.«
Hanni atmete erleichtert auf. Sie wurde durch einen dämmerigen Korridor geführt, der seine Helligkeit auf unerklärliche Weise bezog. Dann wurde eine Tür aufgestoßen. »Hier ist es«, sagte das junge Mädchen. Hanni blickte in ein bescheiden ausgestattetes Zimmerchen, das nur den Vorzug der Reinlichkeit hatte.
»Zum Teekochen und für kleinere Sachen können Sie unsere Küche mitbenutzen.«
»Das Zimmer gefällt mir«, behauptete Hanni wider ihre Überzeugung und heuchelte Entzücken. »Wie hoch ist der Preis?«
»Ihre Vorgängerin hat vierzig Mark bezahlt.«
Hanni öffnete ihr Geldtäschchen und legte den geforderten Betrag auf den Tisch.
»Sie werden hoffentlich keinen Lärm machen?« sagte das junge Mädchen zaghaft. »Meine Mutter ist nämlich herzleidend.«
»Seien Sie unbesorgt«, lächelte Hanni. »Ich bringe weder Klavier noch Schreibmaschine mit, Fräulein Ackermann.« Ein unheimliches Gefühl durchzuckte sie bei der Vorstellung, daß dieses junge Mädchen die Ursache von Marks Unglück war. Aber sie riß sich tapfer zusammen. »Ich hoffe, wir werden uns gut vertragen. Ich werde morgen einziehen. Ich habe meine Sachen nämlich noch im Hotel.«
»Wollen Sie vielleicht gleich die polizeiliche Meldekarte ausfüllen?«
Hanni kritzelte ihren Namen auf das Blatt. Bei der Spalte »Beruf« zögerte sie und erläuterte:
»Ich bin nämlich augenblicklich ohne Stellung. Aber ich bin auf der Suche danach. Es wird sich schon etwas finden, darum ist mir nicht bange. Denn ich bin sehr vielseitig. Krankenpflegerin, Privatsekretärin, Stenotypistin, Buchhalterin.«
»Woher stammen Sie, Fräulein Delius?«
»Aus der Uckermark. Mein Vater ist Pastor in Hammelspring.«
Diese Tatsache schien der Ackermann Vertrauen einzuflößen; denn sie sagte in freundlichem Ton:
»Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein. Unsere Exportabteilung sucht eine Korrespondentin. Könnten Sie diesen Posten versehen?«
»Kann ich«, versicherte Hanni.
»Dann will ich nach den Feiertagen mal mit Herrn Löwenherz darüber reden. Das ist nämlich der Abteilungschef.«
»Wäre riesig nett von Ihnen. Hoffentlich kann ich mich einmal erkenntlich zeigen«, plauderte Hanni und fand, daß sie heute unheimliches Glück hatte. Sie konnte es brauchen.
Während sie die Stiege hinabschritt, erwog sie den Eindruck, den Frieda Ackermann auf sie gemacht hatte, und kam zu dem seltsamen Entscheid: durchaus nicht unsympathisch!
*
Fräulein Delius bekam die Stelle. Unter zwanzig Bewerberinnen. Nun war sie schon mehrere Tage neben der Ackermann in dem großen Kaufhaus tätig. Von morgens acht bis abends acht lief ihr Dienst. Dann gingen die beiden Mädchen gemeinsam nach Hause. Denn die Ackermann hatte keinen Verehrer, verschmähte Vergnügungen und lebte in der freien Zeit ganz ihrer Mutter. Hanni hätte sich in der Tat keine bessere Gelegenheit wünschen können, ihr Opfer zu beobachten und auszuhorchen. Manchmal freilich ertappte sie sich bei dem Gedanken, daß es unedel sei, sich in das Vertrauen der beiden Frauen einzuschleichen und daraus Nutzen zu ziehen. Aber sie beschwichtigte dann immer ihr Gewissen damit, daß Markus ohne ihre Mithilfe langsam zugrunde gehe. Als sie nach Ablauf der ersten Woche die Bilanz ihrer Bemühungen zog, mußte sie leider feststellen, daß sie nichts von Bedeutung ermittelt hatte. Friedas Mutter war eine alte, von Kummer und Krankheit gebeugte Frau; ihre Tochter ein verschlossener, schwermütiger Mensch, der nur selten aus sich herausging und auch dann nichts offenbarte, was einem Verdacht Stütze gab. Das Rätsel um Scheithauer wurde immer undurchdringlicher. Es gehörte viel Energie dazu, die Flinte nicht ins Korn zu werfen. – – –
Die drei Frauen saßen im Wohnzimmer um den gedeckten Abendtisch. Frau Ackermann ruhte wie stets in ihrem Backenstuhl und strickte mit welken Fingern an einem Strumpf. Frieda strich sich ein Brötchen.
Ob sie wohl lachen kann? dachte Hanni und betrachtete heimlich das bleiche, traurige Gesicht des jungen Mädchens, in dem zwei große, versonnene Augen standen. Als Frieda herübersah, blätterte sie zerstreut in der Zeitung, die sie stets nach Tisch zu lesen pflegte. Die beiden Frauen hatten ihr angeboten, die Abende gemeinsam mit ihnen zu verbringen, und Hanni hatte mit Eifer zugegriffen. Es schien, als ob Mutter und Tochter über ihre Gegenwart erfreut wären.
Hanni faltete die Zeitung zusammen und fragte: »Wie ist es? Wollen wir nicht einmal zum Rodeln ins Isartal? Ich meine, es täte uns beiden wohl, wenn wir einmal an die frische Luft kämen.«
»Ich vertrage die vielen Menschen nicht, Fräulein Delius«, erwiderte Frieda. »Ich kann Lachen und Geschrei nicht hören. Darf ich Ihnen nochmals Tee eingießen?«
»Ich bitte darum.«
»Einen Augenblick, ich will nur heißes Wasser holen. Ich bin gleich wieder da.« Frieda entfernte sich nach der Küche.
Hanni wendete sich an Frau Ackermann:
»Ihre Tochter ist für ein junges Mädchen eigentlich schrecklich ernst. Finden Sie nicht?«
»Sie haben recht, Fräulein Delius.«
»War sie denn schon immer so?«
»Sie war schon als Kind ein bißchen schwerblütig und sonderlich. Wahrscheinlich hat sie das von mir. Aber so arg ist es erst seit anderthalb Jahren. Ich glaube, das Meer hat ihr nicht gutgetan.«
»Wieso das Meer?« Hanni zerbrach sich vergeblich den Kopf, welchen Einfluß das Meer auf die seelische Verfassung eines jungen Mädchens haben könne.
»Ja, das Meer. Ich denke mir das wenigstens so. Die Frieda war damals drei Wochen bei Verwandten in Cuxhaven, weil sie immer so bleichsüchtig war. Als sie zurückkam, war die Bleichsucht besser, aber ihr Wesen war verändert. Sie war direkt trübsinnig und konnte nachts nicht mehr schlafen. Es ist ein Kreuz mit dem Kind. Und mit mir, Fräulein Delius. Ich fühle, daß ich es nicht mehr lange treibe«, flüsterte die alte Frau, und eine Träne rollte über ihre eingefallenen Wangen.
»Sie sollten einmal zu einem Herzspezialisten gehen, Frau Ackermann. So etwas darf man nicht gehen lassen.«
»Es ist mir immer um das viele Geld, Fräulein Delius«, murmelte die alte Frau.
Hanni grübelte, warum ihr die beiden Frauen noch nie von jener Geschichte mit Scheithauer erzählt hatten. War das nun Scham- oder Schuldgefühl?
Frieda kam mit der gefüllten Teekanne zurück. Mit sanften, fast klösterlich lautlosen Bewegungen bemächtigte sie sich der leeren Tasse Hannis und schenkte sie voll. Dabei sagte sie:
»Ich habe es mir überlegt, Fräulein Delius. Sie haben ganz recht; ich muß mehr an die frische Luft. Verstehen Sie sich denn auf das Rodeln?«
»Das will ich meinen«, lächelte Hanni.
»Gut, dann werde ich mitkommen. Am nächsten Sonntag geht es leider nicht. Aber vielleicht am folgenden. Hoffentlich liegt dann noch Schnee.«
»Bestimmt, Fräulein Ackermann; der Winter fängt ja erst an.«
»Wie zuversichtlich Sie sind, Fräulein Delius.«
»Muß man sein. Wo käme man denn sonst hin im Leben?«
»Sie haben noch nicht unser Unglück gehabt, sonst würden Sie anders reden.« Bei dieser Andeutung blieb es.
Hanni knüpfte an den verabredeten Ausflug große Hoffnungen. Vielleicht taute diese Frieda in anderer Umgebung endlich auf. Zu wünschen war es.