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III

Markus Scheithauer hatte nach einer schlaflosen Nacht den Entschluß gefaßt, nach Harlaching hinauszufahren. Als er in aller Frühe die Endstation der Elektrischen verließ, schnitt ihm eisiger Wind ins Gesicht. Das welke Gras der Wiesen war mit Reif überzuckert. Während Markus auf der neu angelegten, einsamen Straße der Wohnung seiner Schwiegermutter zuschritt, dachte er angestrengt über sein Verhältnis zu Marion nach.

Obwohl seine jetzt anderthalbjährige Ehe mit Marion von Hesterberg – wenigstens von seiner Seite – reiner Zuneigung entsprungen war, war sie nicht eben glücklich geworden. Möglich, daß ein Teil der Schuld ihn selbst traf. Vielleicht war er zu eifersüchtig, zu anspruchsvoll gewesen. Vielleicht war es gar nicht so schlimm, wenn Marion mit anderen flirtete, wenn sie Aufwand trieb und verwöhnt war, obzwar die Verhältnisse, aus denen sie kam, nicht eben glänzende waren. Denn der früh verstorbene Regierungsrat Justus von Hesterberg hatte seiner Witwe außer einer bescheidenen Pension nur jenes kleine Landhaus in Harlaching hinterlassen, das jetzt Markus' Ziel war. Solange sich Markus entsinnen konnte, hatte es Auseinandersetzungen und Verstimmungen gegeben, die sich allmählich wie ein Keil zwischen die beiden Ehegatten schoben. Am meisten litt er darunter, daß er nie so recht den Weg zum Herzen seiner Frau gefunden hatte. Besaß Marion überhaupt ein Herz? Selbst während der Flitterwochen war sie ganz kühle Zurückhaltung gewesen. Man fror in ihren Armen. Ihr Blut antwortete auf keine Zärtlichkeit; alles blieb eine leere Geste. War das überhaupt noch eine Ehe, wenn der Mann, gepeinigt von unerfüllten Wünschen, neben seiner Frau herlief? War es unter diesen Umständen ein Wunder, wenn man allmählich nervös, gereizt und unsolid wurde? Wenn man die Nächte in üblen Kneipen vergeudete und sich mit Alkohol betäubte?

Aber da war ja die Villa. Das Häuschen der Baronin von Hesterberg lag, ein wenig einsam, zwischen grünen Tannen und entlaubten Buchen. In einem schmalen Vorgärtchen waren Rosenstämmchen sorgsam mit Fichtenzweigen und Erde zugedeckt. Saubere Fliesen bildeten eine Verbindung zwischen dem eisernen Gartenzaun und der Haustür.

Dr. Scheithauer klinkte das Tor auf, durchschritt das kahle Gärtchen und drückte auf die Klingel. Abermals hatte er jenes zusammenschnürende Gefühl wie gestern abend vor seiner Wohnung. Er schüttelte alle Feigheit ab. Er nahm sich vor, in aller Güte mit Marion zu reden und sie von seiner Unschuld zu überzeugen. So versteinert war keine Frau, daß sie nicht eine Stelle hatte, bei der man sie packen und rühren konnte. Er hatte vieles, nein alles verloren. Diese Frau, die er selbst in ihren Fehlern noch liebte, durfte er nicht verlieren. Sein Herz strömte über von Versöhnungsbereitschaft.

Auf sein Läuten erschien das Dienstmädchen und maß ihn mit einem erstaunten, ängstlichen Blick.

»Ich möchte meine Frau sprechen. Ich werde im ›Blauen Zimmer‹ auf sie warten. Sagen Sie ihr das«, befahl er und ging an dem verdutzten Mädchen vorüber nach dem ihm wohlbekannten Salon. Voll bebender Unruhe schritt er auf und ab, betrachtete die Stiche an den Wänden und das geblümte, altmodische Muster des Teppichs. Alles war ihm vertraut und schien eine unsichtbare Brücke zu Marion zu schlagen. Er wurde ruhiger. Die Sache kann nicht schief gehen, redete er sich ein. Ach, da war ja auch jenes kleine Ölgemälde von Terborch, das ihm immer so gefallen hatte! Nichts hatte sich verändert. In diesem ein wenig rückständigen, blauen Salon der Baronin von Hesterberg konnte man glauben, die Zeit sei stehengeblieben.

Dann hörte er einen leichten Schritt. Die Tür ging. Aber es war nicht Marion, die kam, sondern deren Mutter. Die Baronin, eine noch immer schöne Frau, der man ihre achtundvierzig Jahre nicht ansah, maß Markus mit einem feindseligen Blick, in dem aller Hochmut der Welt lag.

»Ich wundere mich, Sie hier zu sehen«, begann sie eisig. »Ich wüßte nicht, was wir uns nach all dem Vorgefallenen noch zu sagen hätten?«

Markus gefroren die Worte im Hals. Er erwiderte unsicher: »Ich möchte Marion sprechen, Frau Baronin. Ich möchte ihr erklären –«

»Meine Tochter verzichtet auf alle Erklärungen von Ihrer Seite und hat mich ermächtigt, Ihnen das zu sagen. Sie ist auch gar nicht in der Lage, Sie anzuhören«, unterbrach ihn die Baronin schroff. Ihre Hand vollführte eine geringschätzige Bewegung, die den Raum zwischen ihr und dem Besucher zu zerschneiden schien.

»Was soll das heißen, Frau Baronin?« stammelte Markus mit blassen Lippen.

»Mein Kind hat vor drei Monaten München verlassen und die Scheidungsklage erhoben. Justizrat Hultschiner wird Ihnen das bestätigen. Diese Heirat war ein bedauerlicher Mißgriff. Es ist Zeit, daß er rückgängig gemacht wird. Und nun bitte ich Sie sehr, dieses Haus zu verlassen.«

Markus stierte die Frau, der er vor zwei Jahren das Leben durch eine Operation gerettet hatte, wie ein Toter mit verglasten Augen an.

»Seien Sie barmherzig«, war alles, was er herausbrachte.

Jella von Hesterberg rauschte ohne Gruß hinaus. Eine Tür klappte zu. Markus war allein und sah sich einer tödlichen Stille preisgegeben. Die Wände des Zimmers schwankten auf ihn zu. Wie war das? Marion, die er noch vorhin zu entschuldigen geneigt war, zerriß das Band zwischen ihnen, ohne ihm auch nur Gelegenheit zu einer Rechtfertigung zu geben? Mit tauben Knien und einem wütenden Schmerz in der Brust wankte Markus auf die Straße.

Eine Binde fiel von seinen Augen. Mit unerhörter Deutlichkeit sah er plötzlich den wahren Charakter dieser Frau, die nicht nur oberflächlich, selbstsüchtig und kokett war, sondern auch schamlos berechnend. Er begriff, was ihr die Heirat gewesen war. Ein Rechenexempel. Der aufstrebende, gut verdienende Arzt war ihr, der armen Adeligen, eine Versorgung gewesen. Nichts weiter. Wo er sein tiefstes Gefühl verschwendet hatte, wog sie wie ein kleinlicher Krämer das Für und Wider ab. Jetzt wo er in Not und Schande war, wurde sie fahnenflüchtig. Wie verächtlich war diese Frau! Nicht einmal seines Hasses war sie wert.

Markus stieg geistesabwesend in die Trambahn, um in die Stadt zurückzufahren. Ein paar kichernde Backfische verstummten vor seinem maskenhaften, finsteren Gesicht. Am Promenadeplatz stieg er aus und ging nach seiner Bank. Der Boden Münchens brannte ihm unter den Füßen. Fort! Irgendwohin, wo ihn niemand kannte. Nach Florida oder nach Alaska. Es war alles egal.

Am Schalter erkundigte er sich, wieviel sein Guthaben betrüge. Der Beamte sah in den Büchern nach.

»Zehn Mark, mein Herr; der Mindestbetrag jedes Einlagekontos.«

»Sie irren sich«, entgegnete Markus, »meiner Schätzung nach müssen es an die Zehntausend Mark sein.«

»Sie vergessen, mein Herr, daß am zwanzigsten August 11 850 Mark von Frau Doktor Scheithauer abgehoben wurden«, erläuterte der Beamte nachsichtig.

Markus wich zurück; dann lachte er schrill und murmelte: »In der Tat, das habe ich vergessen.« Er stürzte davon. Der Schalterbeamte sah ihm verblüfft nach.

Markus ging durch rote Nebel.

Wie gemein dieses Weib war! Immer dachte sie nur an sich.

Markus schritt durch die Maffeistraße. Es wurde ihm klar, daß es mit Alaska nichts war. Wer reisen wollte, brauchte Geld. Er aber war ein Bettler. Er besaß eine Wohnungseinrichtung und zehn Mark; das war zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben. Die zwei Verteidiger, der Prozeß und Marions Verschwendungssucht hatten seine anderen Ersparnisse aufgezehrt. Maßloser Haß jagte durch sein Blut. Mit verzerrtem Mund gedachte er jener, die an allem schuld war. Der Vater hatte recht: man mußte diese Person ersäufen oder ihr den Schädel einschlagen. Man mußte sich rächen. Wenn man schon Zuchthäusler war, dann kam es auf einen Totschlag auch nicht mehr an. Mit flackernden Augen betrat er das nächste Café und bat um das Adreßbuch. Sein Finger eilte die Säulen der Namen entlang. Achleitner, Achmeier … Ackermann. Ackermann, Frieda, Warenhausverkäuferin, Pfandhausgasse 5, dritter Stock. Es war nicht einmal weit entfernt. Ein höhnisches Lächeln verbog seine Lippen. So ein Adreßbuch war doch eine brillante Erfindung. Er klappte das Buch zu, bedankte sich und ging eilig davon wie jemand, der ein unaufschiebliches Geschäft rasch hinter sich bringen will.

Vor dem Hause Nummer 5 verschnaufte er. Es war ein düsteres, altes Gebäude für kleine Leute, die im Zentrum der Stadt wohnen müssen. Das Treppengeländer ächzte unter seinen Griffen. Er war seltsam erregt und von einem geheimen Fieber geschüttelt. Oben drückte er zu stark auf den Knopf des Läutwerks und zählte die Sekunden, bis die Flurtür geöffnet wurde. Er war von der durch nichts gerechtfertigten Idee besessen, sein Opfer müsse ihm selbst aufmachen. Aber er irrte sich. Denn nicht Frieda Ackermann trat ihm entgegen, sondern eine alte, weißhaarige Frau mit vergrämten, gelblichen Zügen.

»Sie wünschen, mein Herr?«

»Ich will Fräulein Ackermann sprechen.«

Die alte Frau erschrak vor dieser heiseren Stimme und piepste ängstlich wie ein kleiner Vogel:

»Die Frieda ist noch im Geschäft. Können Sie nicht etwas später vorsprechen?«

»Ich werde warten«, sagte Markus mit einem Gesicht, das zu allem entschlossen war.

»Ist die Sache so dringend?« fragte die alte Frau schüchtern und warf einen prüfenden Blick auf den eleganten Anzug des aufdringlichen Besuchers.

»Ja«, erwiderte Markus unfreundlich.

»Dann warten Sie in Gottes Namen im Wohnzimmer; meine Tochter kann nicht mehr lange ausbleiben.«

Sie ließ Scheithauer eintreten, schob die Sperrkette vor und sagte entschuldigend: »Man muß heutzutage vorsichtig sein; es treibt sich jetzt so viel Gesindel herum.«

Markus folgte ihr mit zusammengepreßten Lippen in ein ärmlich ausgestattetes, aber sauberes Zimmer. Von unklarer Besorgnis ergriffen, fragte Frau Ackermann:

»Was wollen Sie eigentlich von Frieda? Sind Sie von der Polizei?«

»Nicht ganz. Aber es hängt damit zusammen«, antwortete Markus, und in seinen Augen zuckten schlimme Flämmchen. Dabei lachte er schrill. Das angstvolle Gesicht der alten Frau reizte ihn unwiderstehlich. Er kam sich vor wie eine Katze, die mit der Maus spielt.

»Wer sind Sie eigentlich?« stammelte Frau Ackermann.

»Waren Sie denn nicht in der Verhandlung? Sie wissen schon, was ich meine.«

»Nein, ich bin immer krank, müssen Sie wissen.«

»Das ist schade. Sonst würden Sie mich kennen. Ihre Frieda hat einen Eid hingelegt, wundervoll. Ich möchte ihr die Hand drücken. Deshalb bin ich gekommen«, plauderte Markus, und Hohn entstellte sein Gesicht.

»Wer sind Sie?« stieß die Alte hervor.

»Ich bin Doktor Markus Scheithauer.«

Frau Ackermann erbleichte, griff nach ihrem Herz und taumelte in den nächsten Stuhl. Ihr Kinn sank auf die Brust, und aus ihrem zahnlosen Mund kam dumpfes Röcheln. Dann streckte sie die Glieder und lag da wie eine Tote.

Markus stierte eine Weile ratlos auf die Ohnmächtige. Seine Bereitschaft, einen Mord zu begehen, war wie weggeblasen. Dann schlich er ernüchtert und beschämt aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Auf der Straße wischte er sich die Stirn, die von kaltem Schweiß überronnen war. Automatisch setzte er einen Fuß vor den andern und befand sich, als er endlich den gesenkten Kopf hob, vor seiner Wohnung.

»Was hast du ausgerichtet, Markus?« empfing ihn droben sein Vater.

Markus erwachte aus einem bösen Traum. Stockend und mit belegten Stimmbändern berichtete er seine Erlebnisse in Harlaching. Die Entdeckung in der Bank, und seinen Besuch in der Pfandhausgasse unterschlug er schamvoll.

»Sei froh, Markus, daß diese Kette abgefallen ist«, tröstete der alte Mann. »Das war keine Frau für dich; ich hab' es dir nur nie sagen mögen. Sie ist nie darüber hinweggekommen, daß du der Sohn eines Bauern bist.«

»Vielleicht hast du recht, Vater.«

»Ich hab' es mir überlegt, Markus; du mußt fort von hier. Das ist kein Pflaster für dich. Du mußt ein bißchen 'naus in die Welt. In der Fremde vergißt sich alles viel rascher. Bis du heimkommst, ist Gras über die Geschichte gewachsen. Wie denkst du über Italien, Markus?«

»Zum Reisen gehört Geld, Vater, und mein Geld ist zu Ende«, gestand der Sohn bedrückt.

Adam Scheithauer zog vier neue Tausendmarkscheine aus der Tasche und steckte sie Markus in die Hand.

»Da, Markus. Ich kann sie entbehren. Ob das Geld nu auf der Sparkasse liegt, oder ob du es hast; es war immer schon für dich bestimmt«, behauptete er tapfer und verschwieg, daß er seinen Wald hatte verkaufen müssen, der ihm ans Herz gewachsen war.

»Das nehme ich nicht an, Vater«, sträubte sich der Sohn, wundersam gerührt von der Güte dieses schlichten, derben Mannes.

»Nimm nur, mein Junge. Wenn du mir folgst, fährst du nach Italien. Dort unten ist es jetzt schön warm. Deine Mutter hat oft davon erzählt.«

Markus schwankte.

»Noch etwas, mein Junge. Was wird aus der Wohnung? Die Möbel gehören dir, nicht wahr? Ich meine, wir verkaufen das Zeug?«

»Aber meine Instrumente möchte ich behalten, Vater«, sagte Markus leise, und sein Herz krümmte sich vor Weh.

»Natürlich behältst du die Instrumente. Laß mich nur machen; den alten Scheithauer hauen sie nicht übers Ohr. Wann wirst du abreisen?«

»Morgen früh, Vater.«


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