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Die beabsichtigte Rodelpartie kam tatsächlich zustande. Hanni wollte nach den anstrengenden Tagen im Bureau und nach den trübseligen Abenden in der Ackermannschen Familie endlich wieder einmal fröhliche Menschen sehen und frische Winterluft atmen. Aber es wurde kein rechtes Vergnügen aus diesem Sonntag. Und daran war ihre Begleiterin schuld.
Frieda vermochte es nicht, ihr grämliches Gesicht abzulegen, beschränkte sich aufs Zusehen und war um keinen Preis zu bewegen, eine der sausenden Talfahrten mitzumachen. »Ich passe nun einmal nicht unter lustige, ausgelassene Menschen«, entschuldigte sie sich. »Ich werde Sie auch nie wieder bei solchen Gelegenheiten mit meiner Gegenwart belästigen, Fräulein Delius.«
»Von belästigen kann keine Rede sein«, sagte Hanni freundlich. »Aber ich meine, Sie sollten sich ein bißchen aufraffen. Sehen Sie, das Leben ist so kurz. Jeder Tag, den man ungenützt verstreichen läßt, ist unwiederbringlich dahin.«
Frieda blickte mit düsterer Miene vor sich hin. Hanni vermeinte die abwehrende Kälte, die von diesem Mädchen ausging, förmlich zu spüren. Welch seltsames Wesen, das an den kleinen Freuden des Alltags so gar keinen Anteil nahm, das für Putz und harmlose Vergnügungen nichts übrig hatte! Schließlich machte Hanni selbst den Vorschlag, heimzugehen. Als die beiden Mädchen die Trambahn verließen, wurden sie von zwei unternehmungslustigen Herren angesprochen. Während Hanni sich damit begnügte, ein hochmütiges Gesicht aufzusetzen, geriet die ruhige Ackermann in einen Zustand von Wut, den ihr Hanni niemals zugetraut hätte. Sie kanzelte die zwei Don Juans derart herunter, daß diese wie begossene Pudel flüchteten. Hanni konnte sich nicht enthalten, hinterher zu sagen:
»Gott, wie kann man sich wegen zwei windigen Flapsen nur so aufregen?«
»Weil mir die Galle überläuft, wenn mir jemand mit so verlogenem, gemeinem Getue kommt«, entgegnete Frieda noch immer entrüstet.
»Ihre Nerven sind kaputt, Friedelchen. Sie sollten Urlaub nehmen und für ein paar Wochen ins Gebirge fahren.«
»Sie haben recht, Fräulein Delius. Meine Nerven sind vollkommen erledigt. Sie ahnen ja nicht, was ich durchgemacht habe. Mit meinem Vater ging es an. Er litt an Magenkrebs. Der Himmel bewahre uns vor dieser Krankheit. Wie es mit meiner Mutter steht, wissen Sie selbst. Ich habe nie eine Jugend gehabt wie andere Kinder. Immer war die Not, die Sorge bei uns im Haus. So was hängt einem nach.« Sie brach plötzlich in Tränen aus und zog Hanni nach einer nahen Bank. Die Mädchen schritten gerade durch die Isaranlagen.
Hanni fühlte Mitleid mit diesem unglücklichen Geschöpf, das eine Schuld gegen Scheithauer auf sich geladen hatte, aber im Grund genommen nicht schlecht war, wie hundert kleine Züge bewiesen. Denn die Ackermann hing an ihrer Mutter, liebte Tiere und schickte keinen Bettler von ihrer Schwelle. Nur vor den Männern hatte sie eine geradezu krankhafte Scheu, als erblicke sie in ihnen die Bringer jeglichen Unheils.
»Warum sind manche Menschen nur zum Unglück geboren?« fragte Frieda unvermittelt.
»Sie sondern sich zu sehr ab, Fräulein Frieda. Haben Sie nie daran gedacht, einen Lebensgefährten zu wählen?« forschte Hanni behutsam.
Die Ackermann brach in ein schrilles Gelächter aus.
»Um mein Unglück voll zu machen? Gibt es denn etwas Verlogeneres und Undankbareres als die Männer?«
»Haben Sie so schlimme Erfahrungen hinter sich?«
»Nur eine – aber sie genügt«, sagte die andere schroff.
Hanni dachte: vielleicht geht sie jetzt endlich aus sich heraus. Dieses wochenlange Warten war zermürbend. Markus ahnte nicht, welche Opfer sie ihm brachte. Sie sagte so ruhig, als es ihr möglich war:
»Wenn alle Männer so wären, wie Sie behaupten, müßten wir ins Kloster gehen, und die Welt stürbe aus.« Nur jetzt um Himmels willen keine verräterische Neugier, sonst würde die andere mißtrauisch.
»Man lernt einen Mann kennen, gewinnt ihn lieb, vertraut ihm und – wird verraten. Das ist eine so uralte Geschichte, daß die Frauen endlich aus ihr lernen müßten. Aber wir lernen nie. Das ist unser Schicksal«, flüsterte die Ackermann mit verdunkeltem Gesicht. Als Hanni schwieg, fuhr sie fort: »Andere kommen über so etwas hinweg und fliegen dem nächsten in den Arm. Ich kann das nicht. Mein Blut ist zu schwer durch das viele Leid, das sich in mir angehäuft hat. Zu Ihnen habe ich Vertrauen. Darum sollen Sie meine Geschichte hören. Sie ist rasch erzählt. Nach all den Jahren des Entsagens schien auch mir ein wenig Glück zu winken. Ich lernte ›ihn‹ kennen. Ich war wie im Rausch. Ich wußte nicht mehr, was ich tat. Ich war so von Gott verlassen, daß ich jenem Unwürdigen alles gewährte, was man gewähren kann. Acht Tage dauerte das. Dann ging er fort und kam nicht wieder. Vielleicht zu einer anderen, nachdem er mir das Herz zertreten hatte. Ich kann nicht schildern, was ich viele Wochen lang ausgestanden habe. Ich habe meine Verzweiflung hinausgeschrien in den Sturm und über die Wellen; ich bin auf den Dünen gesessen und habe die Fäuste gegen den Himmel geballt, der soviel Gemeinheit zuließ. Es hat nichts geholfen. Ist es nicht immer so: Wir Frauen sind zur Liebe verurteilt, die Männer haben nur Aufwallungen?«
»Sie müssen sich diese Enttäuschung aus dem Kopf schlagen, Frieda. Sie gehen sonst zugrunde daran«, sagte Hanni voll ehrlichen Mitgefühls, und die Rolle der Aufpasserin entglitt ihr.
»Kann man sich zwingen, etwas zu vergessen, was wie eine glühende Wunde fortbrennt in einem? Aber eins hat sich geändert. Aus Liebe ist Haß geworden! Es gibt kein Übel, das ich jenem Schurken nicht wünsche«, stieß die Ackermann mit verzerrtem Gesicht hervor.
Hanni erschrak vor diesem Ausbruch elementaren Hasses, der aus dem schwermütigen, klösterlichen Antlitz der anderen alles Frauliche weglöschte. Ein Gedanke kam ihr.
»Wie lange ist das her?« fragte sie versonnen.
»Anderthalb Jahre, Fräulein Delius.«
Hanni dämmerte es. Wellen, Dünen, anderthalb Jahre – – hatte nicht die alte Frau Ackermann vom »Meer« gesprochen? Von Cuxhaven? Also dort war die Geschichte passiert! Diese Beichte war gewiß interessant, aber brachte sie die Lösung um einen Schritt näher? Nein. Es war zum Davonlaufen!
»Wir wollen gehen«, schlug Frieda vor und erhob sich. »Sonst ängstigt sich meine Mutter.«
»Ja, gehen wir«, erwiderte Hanni zerstreut.