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I

»Kommen Sie, es ist Zeit«, drängte der Gefängniswärter.

Scheithauer, der schon in Zivilkleidern war, verließ die kahle Zelle und folgte dem Voranschreitenden. Sein Gesicht war blaß, unbewegt und hilflos wie das eines Menschen, dem seit vielen Wochen unbegreifliches Unrecht geschieht.

Drunten in der Vorhalle händigte ihm jemand seinen Koffer aus und führte ihn dann in das Bureau des Direktors. Denn es war üblich, daß dieser an jeden der zu Entlassenden ein paar Abschiedsworte richtete. Höflich und mit gesenkten Augen hörte Scheithauer den Beamten an, der eine goldene Brille trug und in wohlgebauten Sätzen redete. Als der Direktor zu Ende war, erwiderte Scheithauer:

»Ihre Worte sind gut gemeint, aber treffen mich nicht. Ich bin unschuldig, mehr kann ich nicht sagen.« Mit einer kleinen, hölzernen Verbeugung verließ er das Zimmer. Der Beamte sah ihm gekränkt nach und murmelte: »Das behauptet so ziemlich jeder von den Brüdern.«

Scheithauer durchschritt die mit Blattpflanzen geschmückte Vorhalle, sah sich einer von unsichtbaren Händen geöffneten Drehtür gegenüber, – dann stand er im Freien. Auf der breiten Granittreppe, die das Strafvollstreckungsgefängnis mit der Außenwelt verband, schlug ihm Novemberkälte entgegen. Unsicher und bedrückt blinzelte er wie ein des Schauens nicht mehr Gewohnter in die Dämmerung, die sich als graue, lockere Watte auf ihn zuwälzte. Es regnete ein wenig. Uber kahlen Feldern hing grämlicher Nebel.

Als ich herkam, war es August und strahlender Mittag, mußte Scheithauer denken und hatte ein Würgen in der Kehle. Diese drei Monate hatten alles vernichtet – den guten Namen, die Praxis, die ganze Zukunft. Wer in jenem Käfig aus Stahl und Beton gesessen hatte, war erledigt. Scheithauer biß die Zähne zusammen, um den Schrei nicht laut werden zu lassen, der ihm zwischen den Stimmbändern hing. Er hatte plötzlich Angst, in die Welt hinauszutreten, in der ihn neue Ungerechtigkeit erwartete. Vielleicht – so überlegte er – wäre es das beste, sich den Schädel an der nächsten Mauer einzurennen. Dann fiel ihm seine Frau ein. Die Pflicht gebot, jetzt zu ihr zu gehen und die in die Brüche gegangene Gemeinschaft wieder herzustellen. Dieser Impuls war so zwingend, daß er sich einen Ruck gab und auf die Allee zuschritt, die nach der Stadt führte. Er mochte einige hundert Meter zurückgelegt haben, als ihm ein Mann den Weg vertrat.

»Grüß Gott, Markus.«

Scheithauer erschrak. Die Plötzlichkeit dieser Begegnung verstörte ihn. Dann erkannte er seinen Vater und preßte hervor: »Du bist es? Wartest du schon lange?«

»Seit heute morgen. Aber das tut nichts, Markus«, sagte der alte Mann wie entschuldigend. Er sieht nicht gut aus, der arme Junge, dachte Adam Scheithauer und betrachtete sorgenvoll das Gesicht seines Sohnes. Er fühlte Zorn in sich aufsteigen. Über jenes verdammte Frauenzimmer, das an allem schuld war. Das man wie eine Katze ersäufen müßte … Mit ungelenker Zärtlichkeit tastete er nach der Hand des andern:

»Laß gut sein, Markus. Einmal muß deine Unschuld ja doch ans Licht kommen. So schlecht kann die Welt nicht sein.«

Markus Scheithauer lachte höhnisch.

»Sie ist so schlecht. Verlaß dich darauf, Vater. Und wenn – dann ist es zu spät. Man hat nur ein Leben.«

»Für etwas Gutes ist es nie zu spät, Markus. Sieh mal, da vorne wartet das Auto, das ich herausbestellt habe. In deiner Verfassung kann man nicht mit der Tram fahren, hab' ich mir gesagt.«

»Du bist so gütig, Vater«, entgegnete Markus leise und fühlte, wie sein Herz vor Dankbarkeit überquoll. »Daß du heute gekommen bist, werde ich dir nie vergessen.«

»Wie geht es deiner Frau?«

»Ich weiß es nicht, Vater«, erwiderte der Sohn schamvoll und erinnerte sich voll Bitterkeit, daß Marion sich seit seiner Verhaftung nicht mehr um ihn gekümmert hatte. Mit keiner Zeile, mit keinem Gruß. War es nicht über alle Maßen traurig, daß die eigene Frau dem Urteil fremder Menschen mehr glaubte als seinen Beteuerungen? Daß sie ihn genau wie alle anderen für schuldig hielt, weil eine Kette widriger Umstände bei der Verhandlung gegen ihn gesprochen hatte?

»So.« Das war alles, was der Alte darauf entgegnete. Aber in seinem verwitterten Bauerngesicht zuckte es. Er hatte die adelige Schwiegertochter und deren Mutter, die Hesterbergischen – wie er sie nannte –, nie gemocht. Die beiden Frauen entstammten einer anderen, ihm gegensätzlichen und unverständlichen Welt, in der Hochmut und Oberflächlichkeit Trumpf waren. Er hätte die Heirat seines Sohnes mit der Baronesse Marion von Hesterberg nicht gebilligt, aber schweigend geduldet, weil er dem Glücke seines Kindes nicht im Wege stehen wollte. Seinen Unmut hinunterschluckend fuhr er fort:

»Guck«, Markus, da ist schon der Wagen.«

Die beiden Männer beschleunigten ihre Schritte. Adam Scheithauer war ein Hüne mit einem verrunzelten, bartlosen Gesicht und schneeweißem, biblisch gesträhltem Haar. Er hatte helle, kluge Augen, von denen das linke als Folge eines kürzlich überstandenen Schlaganfalles noch immer ein wenig zugekniffen war. Markus – schlank, mittelgroß, mit verträumten Zügen –, war mehr der Mutter nachgeraten, die aus dem heiteren Salurn gebürtig war.

Der Chauffeur drückte seine Zigarre aus und ließ einen forschenden Blick über Markus gleiten, ehe er den Anlasser in Bewegung setzte. Er hatte oft solche Fuhren und kannte sich aus. Adam Scheithauer warf den Schlag zu und sagte:

»Da ist eine Decke, Markus. Nimm sie nur. Dein Sommerüberzieherchen ist bei diesem Wetter für die Katz.«

Die Limousine schnurrte davon. Vor den Scheiben gähnte eine lieblose, flache Gegend, die durch den immer heftiger rieselnden Regen nicht gewann. Später schoben sich langgestreckte Fabrikanlagen an den Straßenrand. Hinter rotglühenden Fenstern huschten Schatten. Dann tauchten armselig beleuchtete Vorstadtstraßen auf. Junge Burschen lungerten plaudernd vor den Türen. Mädchen mit verwegenen Frisuren promenierten Arm in Arm. Endlich war man mitten in der Stadt, die vom Lärm der Hupen und vom Schleifen der Trambahnen dröhnte. Markus schrak empor. Es war während der ganzen Fahrt so gut wie nichts geredet worden.

»Sind wir schon da, Vater?«

»Gleich, mein Junge.«

Vor einem schönen, festlichen Hause in der Prinzregentenstraße hielt der Wagen. Markus' Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Sie stiegen aus. Während der Alte den Chauffeur bezahlte, starrte Markus mit brennenden Augen auf ein Messingschild neben dem Eingang.

 

Dr. Markus Scheithauer, Facharzt für Frauenleiden.
Sprechstunden von 10-12 Uhr.

 

Das Schild war lange nicht mehr geputzt worden und von Grünspan überzogen.

Bin das ich?, fragte sich Markus ungläubig. Das warst du!, raunte eine höhnische Stimme, die aus dem Nichts zu kommen schien. Da ließ er verzweifelt den Kopf sinken.

»Wo sind die Schlüssel, Markus?«

Dieser fuhr zusammen und erwiderte verwirrt:

»Ich habe keine Schlüssel, Vater.«

»Das ist eine nette Bescherung. Nun müssen wir den Hausmeister heraustrommeln«, meinte der Alte und drückte auf die elektrische Klingel.

Markus fror. Er fürchtete sich vor dem, was jetzt droben kommen mußte. Vor dieser abweisenden Miene, vor diesen verächtlich zusammengekniffenen Augen, die so unbarmherzig sein konnten wie nichts auf der Welt. Hundertmal hatte er sich im Gefängnis das Wiedersehen mit Marion ausgemalt und davor gezittert. Hundertmal hatte er die Worte gewählt, verworfen und neu gesetzt, mit denen er bis zum Herzen Marions vorstoßen und ihre eisige Abwehr in Einsicht und Reue verkehren wollte. Ja, Reue. Denn es mußte gelingen, sie davon zu überzeugen, daß er unschuldig war, daß sie ihm mit ihrem Schweigen – das tiefverletztem Frauenstolz entsprang – bitter unrecht getan hatte. Er durfte jetzt nicht auch noch das Letzte verlieren, die Frau, die er aus Liebe geheiratet hatte. Das konnte Gott nicht zulassen.

Ein behäbig aussehender Mann mit einer grünen Schürze erschien.

Als er Markus erkannte, riß er den Mund auf und stotterte verlegen: »Ach, Sie sind es, Herr Doktor? Sie wollen wohl in die Wohnung? Warten Sie, ich werde Ihnen den Schlüssel holen.«

»Meine Frau scheint ausgegangen zu sein?«

»Ja, wissen Sie denn nicht, daß die gnädige Frau gleich nach – nach«, er angelte krampfhaft nach einem milden Ausdruck, »nach dem Malheur mit ein paar Koffern die Wohnung verlassen hat?«

»Nein, davon weiß ich nichts«, stammelte Markus mit weißen Lippen.

»Aber so was! Die Frau Doktor hat vorher noch die Dienstboten entlassen, dann ist sie selber weg und ist seitdem nicht mehr zurückgekehrt. Den Wohnungsschlüssel hat sie bei mir abgegeben.«

»Ist Ihnen bekannt, wo meine Frau sich jetzt aufhält?«

»Leider nicht, Herr Doktor.«

Als der Hausmeister gegangen war, polterte Adam Scheithauer:

»Das ist echt Hesterbergisch! Offen gesagt, habe ich so etwas erwartet.«

Markus drehte ratlos an seinen Knöpfen. Dann suchte er seine Frau zu entschuldigen: »Marion wird zu ihrer Mutter sein, Vater. Versetze dich nur in ihre Lage. Jeder in diesem Haus sieht sie mit scheelen oder mitleidigen Augen an. Das erträgt keine Frau von Ehrgefühl.«

Der Alte wiegte den Kopf. Er ließ sich nicht so leicht bekehren. Schließlich kam der Hausmeister mit dem Schlüssel zurück, murmelte einen kurzen Gruß und verschwand im Souterrain. Wahrscheinlich hatte ihn seine Frau instruiert. Die beiden Männer stiegen schweigend die Treppe empor. Ein Läufer dämpfte ihre Schritte. Es war ein vornehmes Haus. Auf dem Absatz vor Scheithauers Wohnung begegnete ihnen ein Mieter. Als er Markus' ansichtig wurde, drehte er ostentativ den Kopf zur Seite und ging hochmütig vorüber.

Markus preßte die Lippen zusammen.

»Siehst du, wie unmöglich ich geworden bin, Vater?« flüsterte er gequält.

Der Alte hatte eine Antwort auf der Zunge, aber er unterdrückte sie.

Als sie die Wohnungstür öffneten, schlug ihnen dumpfe Luft entgegen. Auf den Möbeln im Korridor lag dicker Staub. Markus hatte das Gefühl, als schritte er in eine Gruft. Sogar nach welken Blumen roch es. Wie ein Einbrecher durchmaß er die Flucht hoher, eleganter Zimmer, denen man ansah, daß sie nur flüchtig und widerwillig aufgeräumt waren. Der alte Scheithauer zog überall die Vorhänge zurück und riß die Fenster auf. Zuletzt kamen sie in das Schlaf gemach mit den hellen, freudigen Kirschbaummöbeln. Markus öffnete den breiten Schrank, in dem Marion ihre Kleider zu verwahren pflegte. Er war leer. Obwohl er nichts anderes erwartet hatte, tat ihm dieser Anblick weh. Es war, als ob Marion mit der Entfernung dieser hübschen, zärtlichen Kleider die Tatsache ihres Weggehens unterstreichen wollte. Auch die Wäsche in den Schubladen fehlte. So sehr Markus überallhin seine Blicke wandern ließ, nirgends war ein Zeichen von seiner Frau, etwa ein Brief oder ein erklärender Zettel. Endlich brach Adam Scheithauer das Schweigen:

»Hör' mal, Markus; das ist ja eine verdammte Wirtschaft hier. Ich werde jetzt fortgehen und eine Kleinigkeit zu essen besorgen.«

Markus verriet keine Teilnahme. Ohne rechtes Bewußtwerden lauschte er den sich entfernenden Schritten seines Vaters; dann ließ er sich auf den Bettrand fallen und dachte verzweifelt: Warum läßt mich Marion in dieser furchtbaren Stunde allein? Mit einem Male verspürte er unendliche Sehnsucht nach seiner Frau, die er trotz allem liebte. Es fiel ihm ein, daß in seinem Nachttischchen eine Photographie von ihr liegen müßte. Das Bild war tatsächlich noch da. Es stellte eine junge Dame mit pikantem Gesichtchen und abgründigen Nixenaugen dar.

Markus ließ die Hand mit dem Bild sinken und betrachtete sinnend das Kissen, auf dem Marions hübscher Pagenkopf zuletzt geruht haben mochte. Dann irrten seine Gedanken in eine andere, weniger erfreuliche Richtung ab. Er erinnerte sich jener unverständlichen, um nicht zu sagen verrückten Begebenheit, die der Anlaß zu seinem ganzen Unglück geworden war.

Vor einigen Monaten war ein junges Mädchen, das er nie zuvor gesehen hatte, eine völlig Unbekannte also, nach Schluß der Sprechstunde in sein Ordinationszimmer gekommen, hatte ihm ohne weitere Einleitung schleierhafte Vorwürfe entgegengeschleudert und war ihm schließlich, als er der tollen Person mit Hinauswurf drohte, mit den Fingernägeln ins Gesicht gefahren. Dabei hatte das Frauenzimmer geschrien, daß man es durch die gepolsterte Doppeltüre bis in den Korridor hörte. Und nun kam das Unbegreifliche. Anderen Tags hatte diese Frieda Ackermann unter völliger Verdrehung der Tatsachen bei der Staatsanwaltschaft gegen ihn die Anklage erhoben, er hätte einen Angriff auf ihre Mädchenehre versucht, dem sie mit knapper Not durch die Flucht entgangen wäre. Wer konnte das verstehen? Die ganze Anschuldigung war so wahnsinnig, daß einem der Atem wegblieb. Wie sollte man sich das deuten? Als Irrsinn? Als Hysterie? Als eine Spielart des Sadismus? Oder war die Person von einem geheimen Widersacher angestiftet worden, ihn zu ruinieren? Der Beweggrund war nicht zu entscheiden. Klar war nur die Tatsache, daß die Richter ihn – Markus – auf Grund der beeidigten Zeugenaussage dieser Ackermann trotz seines Leugnens zu drei Monaten Gefängnis verurteilt hatten. Der Meineid einer kleinen Warenhausverkäuferin genügte also, um eine Existenz zu vernichten und eine Ehe zu zerrütten.

Dr. Scheithauer bohrte stöhnend die Fäuste in die Augenhöhlen. Die Flurtür ging. Sein Vater trat über die Schwelle. Er trug ein großes Paket auf dem Arm, aus dem einige Flaschenhälse lugten.

»Komm ins Eßzimmer 'rüber, Markus. Du mußt eine Kleinigkeit zu dir nehmen; von der Luft kann der Mensch nicht leben. Auch einen feinen Tokayer hab' ich mitgebracht. Durch ein paar Gläser Ungar besehen macht das Leben gleich ein freundlicheres Gesicht«, versuchte der alte Mann zu scherzen, obgleich ihm das Herz blutete.

Sein Sohn schüttelte stumm den Kopf. Endlose Qual stand in seinen Zügen.

Da schlich sich Adam Scheithauer wie ein geprügelter Hund aus dem Zimmer.


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