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Diesem Wechsel des Wohnorts verdanke ich es nicht nur, daß ich mein Wesen bis zu seinen reifen Geistesleistungen entwickeln konnte, sondern daß ich überhaupt noch am Leben bin. Nicht nur meine ersten Geisteskinder, sondern auch drei von meinen vier Söhnen sind in Erkner geboren. Es lohnt vielleicht, die Hieroglyphe des neuen Lebensabschnitts zu prägen, der dort begann und, von einer glänzenden Episode durchbrochen, vollendet wurde: unter Hoffen und Ängsten, Gefahren, Kämpfen, Niederlagen und Siegen. Alles natürlich nur im eigensten Kreis.
Unser Leben war schön. Natur und Boden wirkten fruchtbar belebend auf uns. Wir waren entlegene Kolonisten.
Die märkische Erde nahm uns an, der märkische Kiefernforst nahm uns auf. Kanäle, schwarz und ohne Bewegung, laufen durch ihn hin, morastige Seen und große verlassene Tümpel unterbrechen ihn, mit Schlangenhäuten und Schlangen an ihren Ufern.
Es war im Herbst, als wir unsere abgelegene Villa bezogen und einrichteten.
Die Monotonie des Winters stand vor der Tür. Zu unserer Sicherheit hatte ich in einer Hamburger Menagerie zwei echte lappische Schlittenhunde gekauft, für unsere Begriffe wilde Geschöpfe, die einigermaßen im Zaum zu halten mir viel Mühe gekostet hat. Schlaf- und Wohnräume lagen im Parterre; der Schutz dieser beiden Wölfe wurde notwendig.
So war ich instinktgemäß zur Natur zurückgekehrt. Mary liebte wie ich das Landleben. Einsamkeiten und Verlassenheiten schreckten uns nicht. Das neue Dasein stand zu dem, das ich in Dresden, Rom und Hamburg geführt hatte, im geraden Gegensatz. Ich lebte ohne Aktivität. Der dreifache Kampf in Rom: mit dem nassen Ton, mit den Menschen und mit den Typhusbazillen, war nicht mehr.
Dafür rang ich mit dem Gespenst des Bluthustens. Es verfolgte mich überall. Stundenlange einsame Wege führten mich in Begleitung meiner Hunde durch den Kiefernforst: mein Leben, meine Lage, meine fernere Möglichkeit zu überdenken die beste Gelegenheit. Oft mitten im Forst richtete sich das grauenvolle Gespenst vor mir auf. Zitternd nahm ich da etwa auf einem Baumstumpf Platz, einen Blutsturz und mein vermeintliches Ende erwartend.
Es war ein ungeheurer Ernst, dem man sich bei dieser Lebensform, in dieser Landschaft gegenübersah. Das Ehemysterium, in dem sich das der Geburt ankündigte, verstärkte ihn. So bewegten sich meine durch kein äußeres Leben gestörten Meditationen von der Gegenwart in die Vergangenheit, von der Gegenwart in die Zukunft hinaus, gleichsam in einer Ellipse um die zwei Punkte: Geburt und Tod.
Monate ohne alle Zerstreuungen folgten sich. Der Begriff eines Kneiptisches war nur noch Erinnerung. Schmidt war nach München, Simon nach Zürich übergesiedelt. Freundesgespräche gab es nicht. Abend um Abend saß ich mit meiner Frau allein, wobei ich mir ein einziges Glas mit Wasser gemischten Weines zu trinken verstattete. Damals lebte man ohne elektrisches Licht, und die schwarze Nacht preßte sich unmittelbar um die Glocke der Petroleumlampe.
Um Mitternacht pfiffen einander draußen die Holzdiebe.
Nein, hier war kein Breslau, kein Dresden, kein Hamburg, geschweige ein Rom, wo jetzt noch, während wir bei der Lampe gruselten, die beleuchteten Wassermassen aus dem Neptunsbrunnen an der Mauer des Palazzo Poli rauschten und oben die Künstler im Saale beim offenen Fenster Kunstgespräche führten und aus bauchigen Korbflaschen Chianti tranken. Hier war kein belebter Gasthof zur Preußischen Krone, nicht einmal Lederose mit seinem Gutsleben und Pastorenverkehr. Es war gründlich Tabula rasa gemacht worden.
Und doch, dies alles entsprach jenem Zug in mir, der mich immer wieder, wie öfter berichtet wurde, beschlichen hat: der Zug zu einem ländlich unkomplizierten Leben, fern von den zahllosen Spannungen und Bindungen, die das Leben im allgemeinen mit sich bringt. Nur habe ich mich getäuscht, wenn ich glaubte, die expansiven Kräfte meiner Natur auf diese Weise zu überwinden. Gewiß, ich beruhte fast nur in mir, aber die Enge, in die ich mich mit Mary verbannt hatte, schloß ein inneres Gewühle nicht aus, das zur Geburt drängte. Verborgen, verschüttet, unsichtbar gemacht wie ein Samenkorn, konnte ein neues Beginnen, Keimen, Drängen und Werden, ein neues Sein durchstoßen.
Dabei schwiegen die unmittelbaren Anforderungen des Lebens nicht. Sie waren ernst und vielfältig. Auch Mary war eines neuen Werdens Trägerin. So unterstand sie der wohl schwersten menschlichen Aufgabe. Würde das Herz der ehemals Bleichsüchtigen dem kommenden Tag gewachsen sein?
Mary war mutig, aber sie litt, was eben ein Weib unter diesem immer wiederkehrenden Schicksal zu leiden hat. In Liebe verbunden litt ich mit ihr, und so hat die Gemütslast eine bedrückende Schwere erreicht.
Das war nun die Zeit, die ich eigentlich als den Gipfel des Glücks im Geiste vor mir erblickt hatte.
Sie sah mich abwechselnd glaubenslos und hoffnungsvoll. Alles an unserer Existenz schien uns unsicher, fraglich, zweifelhaft. Ich wollte kein größeres literarisches Werk beginnen, weil das Gespenst meines Bluthustens mir zuraunte, daß ich es nie beenden würde. Jeden Augenblick konnte es, fürchtete ich, mit mir zu Ende sein.
Und also sahen wir beide unser Lebensschiff nicht in eine glückliche Fata Morgana hinein-, sondern einer schwarzen Klippe zugetrieben.
Eines Tages weinten wir beide, als ich das folgende Gedicht vorlas, das ich eben geschrieben hatte und das ein echter Ausdruck meiner Seelenverfassung von damals ist:
Wohin mein Blick durch Nebel sieht,
ich weiß es nicht, ich weiß es nicht,
wohin mein trüber Wunsch mich zieht:
In Dunkelheit? ins Sonnenlicht?
Ich weiß es nicht. – Manchmal im Dunst
schau' ich ein ödes Hügelgrab,
ein Holzkreuz drauf, bar aller Kunst;
wer weiß, was ich gesehen hab'?!
Manchmal auch schau' ich wolkenhoch,
wo feuerstirn'ge Berge stehn.
Ein Banner scheint zu winken, doch –
wer weiß – wer weiß, was ich gesehn?
Wir hatten unsere Schwäche, unsere Furcht in die Einsamkeit geflüchtet und fanden uns mit den schwersten Aufgaben unseres Lebens allein. Aber das Ganze war doch eine stille, fruchtbare Gärung, die, wenn sie ihr Gefäß nicht sprengte, zu einem Wein ausreifen konnte.
Ich weiß, daß die Flucht in die märkische Waldeinsamkeit meine Rettung war. Ich fühlte das bei jedem Atemzuge, bei jeder Wanderung, die ich unternahm, ich spürte es, wenn ich als einziger bei Mondschein auf dem verlassenen Karutzsee Schlittschuh lief. Alles wirkte zusammen zur Besinnung und Läuterung, selbst die tiefe Resignation, wie sie etwa in diesem Gedicht zum Ausdruck kommt:
Verlohnt's der Müh'? – Ich bleibe stehn.
Verlohnt's der Mühe, weiterzugehn?
Meine Hand ist wund, mein Herz ist matt;
für zu viel des Wahns es geschlagen hat.
Wohin? Wohin? . . . »Zum Licht! Zum Licht!«
Was soll das Suchen? Ihr findet's nicht.
Wohin? Wohin? . . . »Den Weg zum Ruhm!«
O beifallgieriges Märtyrertum!
Ihr stürmt vorbei, ihr lockt mich nach;
ich bin ein Falk, der nicht fliegen mag.
Oder auch in den folgenden Versen:
Die alte Nacht drückt stumm und schwer.
Ich will nicht klagen.
Denn wollt' ich klagen noch so sehr,
es wird nicht tagen.
Schwarz hängt der Birke Trauerflor
auf mich herunter.
Der Nachtwind klagt; es wird im Rohr
ein Fröschlein munter.
Das ist die Liebe: Aus dem Laub
der Birke sinken
kühlfeuchte Tränen, die im Staub
verloren blinken.
Das ist das Wissen: Glühwurm schwimmt
im eignen Glanze,
und was sein Lichtlein ihm beglimmt,
ihm ist's das Ganze.
O Menschengeist, Glühwürmelein,
die Welt erhellen,
du kannst es nicht, nur wunderklein
verlorne Stellen.
Das ist die Hoffnung: die im Moor,
ein Irrwisch, hüpfet,
bald in den Grund, bald draus hervor
von neuem schlüpfet.
Sie tanzt und gaukelt ruhlos schier;
drum will es scheinen,
und leider, leider scheint es mir,
sie lohne keinen.
Lichtbringer drei, wie sprüht ihr doch
so matte Funken.
Ach, eh ihr sterbet, seid ihr noch
in Nacht versunken.
Denn euer Leben ist allein
ein kurzes Blinken:
ein Ringen in der Todespein
vor dem Ertrinken.
Aber das wüste und wirre Kneipendasein, die Atmosphäre von Zigarren- und Bierdunst, lag für immer hinter mir, und das angefügte, aufschwunghafte Gedichtchen »Eislauf« spricht davon:
Auf spiegelndem Teiche
zieh' ich spiegelnde Gleise.
Der Kauz ruft leise.
Der Mond, der bleiche,
liegt über dem Teiche.
Im raschelnden Schilfe,
da weben die Mären,
da lachet der Sylphe
in silbernen Zähren,
tief innen im Schilfe.
Hei, fröhliches Kreisen,
dem Winde befohlen!
Glückseliges Reisen,
die Welt an den Sohlen,
in eigenen Kreisen!
Vergessen, vergeben,
im Mondlicht baden;
hingaukeln und schweben
auf nächtigen Pfaden!
Sich selber nur leben!
Als ich das erstemal von Italien zurückkehrte, kam es mir vor, als ob Deutschland in einer Kunstferne und Kunstfremde lebe. Die Atmosphäre, gehalten gegen den Reichtum Neapels, Roms, den von Florenz und Pisa, war leer. Man war gezwungen, gleichsam nach Luft zu schnappen. Bei der zweiten Rückkehr hatte die Atemnot erheblich nachgelassen. Nun aber, in Erkner, war das unmittelbare Leben in Haus und Natur vor alles getreten. Es zog mich nicht mehr nach Eindrücken großer bildender Kunst. Nichts war mehr da von meiner unstillbaren Ungeduld, die Werke der großen Gestalter zu sehen und ihnen nachzuringen. Keinen Moses von Michelangelo brauchte ich mehr, kein Griechenland suchte ich mehr mit der Seele. Wie nie gewesen war alles das.
Mein Haus, mein Weib, mein Studierzimmer, meine Hunde, Wald, traurige Seen und Kanäle, das Gespenst meiner Krankheit waren dafür eingetreten. Bei alledem drängten sich, wie schon gesagt, Zustände von Wehleidigkeit, Einschüchterung, kurz einer trübseligen Schwäche manchmal in den Vordergrund.
In diese Zeit fiel am neunten Februar eines harten Winters die Geburt meines ersten Sohnes. Der furchtbare Ernst eines solchen Ereignisses ist bekannt. Die lautlose Standhaftigkeit der Mutter war bewunderungswert. Hatten wir wohl in Hohenhaus, als wir uns fanden, in den acht glücklichen Breslauer Tagen, in den seligen Zeiten von Nieder-Salzbrunn diese furchtbare Stunde vorausgeahnt? War unser angeblich freier Willensentschluß nicht auf das Ziel eines fast übermenschlichen Glückes, einer Eudämonie, gerichtet gewesen? Und nun hatte, fast gegen unseren Willen, eine ganz andere Macht uns zu ihren Zwecken, zur Erhaltung der Gattung, gebraucht!
Die Weise Frau kam aus irgendeinem Waldwinkel. Sie half arme Schiffer- und Waldarbeiterweibern entbinden. Ich vergesse nie ihr zerknittertes Nornengesicht: es war hart und ernst und doch wiederum meist dem Weinen nahe. Diese Frau, die recht wohl eine Abgesandte der Erdmutter sein konnte, hat in der Tat alle Mütter, denen sie Hilfe brachte, und alle Kinder beweint, die sie ins erste Bad legte.
Nun, es ist mir also beschieden gewesen, in dem abgelegenen Hause am Waldrand das ohne Vergleich größte menschliche Mysterium zu erleben, das man voll erkannt und gefühlsmäßig erfaßt haben muß, ehe man von der Größe und dem Wesen des Daseins etwas begreifen kann.
So naturnah wie jetzt war ich noch nie. Durch das Mysterium der Geburt hatte sich mir dazu noch die Erde gleichsam aufgeschlossen. Die Wälder, Seen, Wiesen und Äcker atmeten in demselben Mysterium. Es lag in ihm eine irgendwie trostlose Großartigkeit, eine Erhabenheit, durch die man bis an das allerdings verschlossene Tor letzter Erkenntnisse gestellt wurde.
Utopische Vorstellungen hielten sich nicht. An Stelle der Utopie, die über unserem Jünglingsbunde geschwebt hatte, an Stelle aller in ihr verwirklicht gedachten Ideale trat – das Kind.
Mir war die Aufgabe eines Vaters zugeteilt. Wochen- und monatelang wurde meine Sorge und Tätigkeit fast allein von dem Kinde in Anspruch genommen. Es gemeinsam mit seiner Mutter zu betreuen war meine erste vollwertig soziale Tätigkeit.
Ich entzog mich dieser Aufgabe nicht.
Ich entwickelte, auf eigenes Denken angewiesen, recht gesunde Grundsätze. Es schien, als ob die Erfahrung überwundener Vorleben aus mir wirke. Das Kind in mir liebte außerdem das Kind. Allerdings nicht mehr in dem Sinne, in dem ich schon als Knabe bei den kleinen Krauses und hernach bei Pastor Gauda sozusagen die Kinderfrau gemacht habe. Ich behandelte meinen kleinen Sohn Ivo resolut: fast bei jedem Wetter wurde sein Kinderwagen ins Freie geschoben. Er gewöhnte sich bald, nachts zu schlafen, da ich die Mutter gewaltsam hinderte, sein nächtliches Schreien zu beachten.
Mit einemmal umgab mich eine nüchterne, phantasmagorienbefreite Luft. Die intelligible Welt hatte der nackten Wirklichkeit Platz gemacht. Illusionen waren durch Pflichten verdrängt: nicht mehr durch jene der Einbildung, sondern durch andere, die in der unmittelbaren Not ihre Voraussetzung hatten.
Wunderlich genug würde es geklungen haben, hätte man aus dem Durcheinander seelischer Regungen und Richtungen jener Zeit eine harmonisch-disharmonische, stagnierend-fortschreitende Sinfonie gemacht.
Der Frühling kam, und wie immer hat er seine beglückende Macht ausgeübt. Mehr und mehr nahm ich die märkische Landschaft in mich auf und empfand ihre zarten Schönheiten.
Wir waren dankbar, Mary und ich: sie hatte bestanden, ich lebte noch. Meine Füße setzte ich wiederum mit größerer Zuversicht.
Damals erlebte ich den vollen Inhalt des Begriffs Familienglück. Empfand ich etwas unangenehm, so nur die Furcht vor der Wiederkehr des Leidens, das ich in mir trug.
Der Arzt und Bakteriologe Dietrich von Sehlen, mein römischer Freund, hatte meinen Wohnort ausfindig gemacht, und wir nahmen alte Beziehungen auf. Er besuchte uns, und wir brauten zu dreien eine Bowle mit Waldmeister. Und mit diesem Worte Waldmeister ist die ganze Frühlingsfreude, die wir damals genossen, ausgedrückt.
Das Zimmer und unsere Seelen erfüllte Waldmeisterduft.
Dietrich von Sehlen, der junge, prachtvolle Mann und Arzt, betrachtete und befühlte auf dem offenstehenden Altan Marys und mein gemeinsames Werk, unseren Sohn. Er sagte, daß er ganz nach Vorschrift und allen Regeln der Kunst gelungen sei. Das Diktum wurde ihm durch ein neues gerütteltes Maß des herrlichen Frühlingsgetränkes gelohnt.
Natürlich sprachen wir viel von Rom. Auf dem märkischen Sand erhob sich nun eigentlich zum ersten Male wieder die Vision der Ewigen Stadt. Das dort erlebte Gute und Schlimme wurde wie etwas Überwundenes heiter und überlegen besprochen. Die Istlers, die Nonnenbruchs, die Kopfs, die Weizenbergs waren Schemen und Anekdoten geworden.
Merkwürdig, daß der seltsame Nachbar und Junggeselle, Schöpfer des estnisch-lettischen Olymps, sich während meiner Niederlage im kapitolinischen Krankenhaus überhaupt nicht um mich gekümmert hatte. Er hatte nicht einmal nach meinem Befinden gefragt.
Aber nun erst eröffneten mir Mary und Sehlen, wie krank ich gewesen und daß sie eigentlich bereits Abschied von mir genommen hatten. Auch mein den Barditus singender Koloß, der cheruskische Held und Römerfeind, wurde belacht, der sich mitten in Rom so traurig und schwächlich betragen hatte, als er vornüber auf die Steinfliesen fiel: ein ominös symbolischer Vorfall, den man recht boshaft deuten konnte, wenn man ihn mit unseren verflossenen pangermanischen Idealen in Verbindung brachte.
Eine neue Grund- und Bodenschicht mit einer tragfähigen Ebene lag nun unter mir und über der Vergangenheit. Es war nicht mehr als ein Wurzelgebiet, das sich in sie und unter sie einsenkte, von dem aus sich nun der Stamm meines neuen Wachstums erst noch mit schwachen Zweigen, Blättern, Blüten und Früchten aufbaute.
Die Andacht zum Kleinen beherrschte mich. Hinter den Fenstern meiner Augen lag wieder der Knabe, der ich acht- und neunjährig war. Er hatte, um glücklich zu sein, keinen Michelangelo nötig, nicht die vatikanischen Marmorgötter noch die Stanzen des Raffael: eine sonnenbeschienene Rasenböschung mit gelben Blumen genügte ihm. Er horchte auf den Finkenschlag, freute sich der lärmenden Sperlinge beim Bad oder um den goldenen Pferdemist, entzückte sich an dem grünen Hauch, mit dem der Frühling die vereinzelten Birkenhaine färbte, und botanisierte durch Wald und Wiesen mit der Neugier des Kindes und dem überall kindlich staunenden Blick.
Der Besuch meines Vaters, der von Hamburg kam, fiel in diese Periode des Neubeginns und der Vereinfachung. Man merkte ihm an, daß er mit unserem Zustand zufrieden war und sich bei uns wohlfühlte. Wie wir lebten und seinen Enkel behandelten, fand er richtig und gut. Er liebte Mary, und sie sah in ihm einen richtigen Vater. Durch seine Gegenwart wurde das Kind, der Knabe, der Sohn in mir erst recht zum Leben erweckt. Nie hatte ich bisher meinen Vater so heiter, frei und glücklich gesehen. Der umschattende Ernst über seinem Wesen war nicht mehr. Auch mit ihm war eine Verjüngung vor sich gegangen. Sie zeigte ihn, so wie er einstmals war und immer hätte sein können, wenn es nicht übermäßige Sorgen verhindert hätten.
Wir erhielten ein Fäßchen Wein. Niemand war da, es in den Keller zu schaffen. Es lag im Garten. Die Vögel sangen, die Bienen summten, die Sonne schien, die Lappenhunde, Ziu und Fana, die Junge bekommen hatten, tummelten sich mit ihnen im Bereich der hohen Umgebungsplanken herum. Nun unternahmen es Freund Hugo Schmidt, der ebenfalls zu Besuch gekommen war, und ich, daß Fäßchen über die steinernen Stufen vor der Haustür hinaufzubewegen. Wir stellten uns unter der heiteren Teilnahme Marys und des Vaters überaus ungeschickt und mußten die Sache schließlich aufgeben.
Aber da streifte mein Vater plötzlich das Jackett von den Schultern, krempelte die Hemdsärmel bis über den Bizeps hinauf, wobei denn zwei männlich muskulöse Arme sichtbar wurden, griff das Fäßchen mit der Praxis eines Küfers an, was er seit fünfzig Jahren nicht getan hatte, und rollte es, mir nichts, dir nichts, leicht und sicher über die Treppe ins Haus und dann in den Keller hinunter.
Der junge Mann, der Volontär, der bei Philippi in Breslau Oxhofte ausgewaschen, Wein auf Flaschen gefüllt und Hoffmann von Fallersleben bedient hatte, war plötzlich wieder zutage getreten.
»Jaja, jaja, wir Alten sind auch nicht so ganz ohne!« sagte mein Vater, indem er sich triumphierend und lachend abputzte. Mit einem befreiten Atemholen zog er sich dann die Jacke an.