Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Achtunddreißigstes Kapitel

Im Tagebuch Leo Tolstois finde ich: »Die wahre Wissenschaft ist die Erforschung des Verhältnisses unseres geistigen Ich, das Sinnesorgane besitzt und sie gebraucht, zu den äußeren Sinneswahrnehmungen oder, was dasselbe ist, zu der Außenwelt.«

Dieses einfache Erinnerungsbuch verdankt seine Entstehung keiner solchen Anmaßung: aber handelt es sich auch um keine Wissenschaft, so doch um ein geistiges Ich, sein Wachstum und seine Entwicklung, soweit sich dies, wenn auch unzulänglich, meinem Bewußtsein darbietet.

Und da es sich eben nur darum handelt, so liegt es mir fern, eine andere Wirklichkeit zu erstreben und darzustellen. Weder Daten noch Dokumente ziehe ich an. Mir genügt und muß genügen der natürliche Fluß, die natürliche Kontinuität meiner Erinnerung.

Man könnte einwerfen, da ich für andere schriebe, hätte ich die Verpflichtung objektiver Zuverlässigkeit. Aber ich setze kaum voraus, daß die objektiven Mitteilungen eines gewöhnlichen Knabenlebens für andere den Wert besitzen können, den die Teilnahme an einer bloßen Selbstbesinnung zum mindesten haben kann. Ich denke und schreibe dies also im wesentlichen für mich selbst, sozusagen aus der Lauge meines Wesens eine Art Seelenkristall ausscheidend. Und wie Lotze im »Mikrokosmos« sagt: »Völlig verständlich ist uns doch nur das volle, bewußte, geistige Leben, das wir in uns selbst erfahren.«

 

Mit der Schulkrankheit war es vorbei. Um so mehr litt ich zunächst unter der erstickenden Beengung und Banalisierung des Klassenzimmers. Die alten, fürchterlichen, von Federmessern zerkerbten Pultbänke mit ihren Reihen von Tintenfässern waren wieder da, die meiner ausgesprochenen Tintenscheu noch besondere Qualen verursachten. Das polternde und verrohte Leben der Klasse und das der Schulmaschinerie ging gleichgültig über mein Erlebnis hinweg, und ich würde auch nicht daran gedacht haben, mich jemandem mitzuteilen. Aber irgendwie waren die Wände des stickigen Schulzimmers undicht für mich geworden. Etwas, das sich fortan durch nichts mehr ausschließen ließ, drang herein. Ich hatte die über uns waltenden Mächte in ihrer unberührbaren Furchtbarkeit oder furchtbaren Unberührbarkeit kennengelernt und, seltsam genug, in meiner Begegnung mit ihnen Trost gefunden, Trost und eine vom engen Getriebe menschlicher, allzu menschlicher Dinge befreiende Sicherheit.

Die möglichen Schläge dieser Schicksalsmacht, der ich doch nun einmal fühlend und denkend nahegetreten war, erregten mir nicht die geringste Furcht. Ihren Entscheidungen gegenüber sind mir die des lieben Direktors Klettke, seiner Lehrer und seiner Schüler verhältnismäßig belanglos geworden. Je ungeheurer die Macht, die über uns waltet, je stärker der Mensch, der sich unter sie beugt, und je weniger erniedrigt.

Im übrigen kam in der Folgezeit etwas Bewegung in mein Leben. Ich wurde in die Quinta und dann in die Oberquinta versetzt. Ich besuchte bei Oberdiakonus Klühm, Prediger an St. Magdalenen, den Konfirmationsunterricht. Und endlich verließ ich die Gaudasche Pension, weil der Pensionssatz für die Vermögenslage meines Vaters untragbar geworden war, und siedelte in die Familie des Kunstschlossermeisters Mehnert über, der neben ausgedehnten Werkstätten ein eigenes Haus besaß.

 

Der junge Fritz Mehnert war in der Untersekunda Carls Mitschüler. Carl hatte sich seiner angenommen, da er zwar Fleiß, aber wenig Begabung für die Schule mitbrachte. Dringend von ihm eingeladen, hatte er den jungen Menschen auch zu Hause aufgesucht. Hier war ihm von Fritz der beste Leumund gemacht worden.

Frau Mehnert, eine noch junge, hübsche, strebsame Handwerkersfrau, die auf Grund der Tüchtigkeit ihres Gatten und seines zunehmenden Wohlstandes höher hinaus wollte, bewunderte meinen Bruder Carl. Was den eigenen, einzigen, angebeteten Sohn betraf, so wünschte sie, daß er, wenn nicht Carl gleich, ihm doch ähnlich werden und, wo das nicht möglich war, Carl zum mindesten ein wenig abfärben möchte. Dieser Gedanke, da sie mit klugen Augen die Mängel ihres Sprößlings sah, nistete sich fester und fester bei ihr ein, bis er in dem Vorschlag, Carl und mich ins Haus zu nehmen, Gestalt gewann.

Da nun eben um diese Zeit das Verhältnis zu Gauda sich gelockert hatte, schien dies wie Walten der Vorsehung, und wir waren im Handumdrehen umgesiedelt.

Hier hatte ich keine gute Zeit, erstens weil ich von vornherein nur ein Anhängsel war, das man wohl oder übel in Kauf nehmen mußte, ferner weil die Frau Meisterin, die Carl eine ausgesprochene Neigung entgegenbrachte, für mich das Gegenteil, ausgesprochenen Widerwillen, empfand. Und schließlich konnte ich mich in den Stil dieses kleinbürgerlichen Parvenütums nur schwer hineinfinden.

 

Außer Fritz Mehnert waren zwei unerwachsene Töchter im Haus, gutgehaltene, hübsche Dingerchen. Eine alte Großmutter war noch da, die Mutter des Meisters, die nichts weiter sein konnte und brauchte als Großmutter. Sie lief in der Wohnung, bald hier, bald da auftauchend, zwecklos herum.

Wir wurden im Hause Mehnert aufs beste verpflegt, und doch konnte ich hier nie heimisch werden. Ich war dazu noch nicht reif genug, wenngleich es vieles gab, was mich gegen die darin verlebte Zeit dankbar stimmt. Ich hätte sie, richtig geführt und geweckt, noch weit besser für meine Bildung ausnützen können.

Der Rhythmus des Hauses, der Geruch des Hauses, die Gepflogenheiten und Manieren der Familienmitglieder, die jederzeit in Flicken und Flecken eingepackte, jederzeit ungekämmte Großmutter, die Art, wie das Mittagessen verteilt wurde – die Hausfrau legte allen auf –, dabei die Etepetetigkeit, mit der Frau Mehnert es tat, die bei Tische herrschende, wohl durch Carl und mich bedingte Beklommenheit, das völlige Ausschalten des kleinen, runden, wortlosen Hausherrn, der in Hemdsärmeln tafelte und dabei einen gehemmten und verlegenen Eindruck machte: dies alles ließ kein natürliches, freies Befinden aufkommen.

Außerdem wurde ich durch die Beschränktheit des jungen Mehnert immerwährend gereizt und verdarb es durch scharfe Bemerkungen gegen ihn vollends mit der Meisterin.

Die alte Großmutter haßte mich.

Ich weiß nicht, welche meiner Äußerungen sie eines Tages der Schwiegertochter gesteckt hatte; denn ich wurde von ihr bei Tisch zur Rede gestellt und erhielt zur Strafe ein kleines, hartes Stück Fleisch aufgeworfen. Dieses Verfahren mit der Voraussetzung, daß etwas dergleichen auf einen wohlerzogenen jungen Menschen anders als lächerlich wirken könne, war mir eine völlige Neuigkeit.

Die kleine, herrische, dünkelhafte Handwerkersfrau, die sich höchst appetitlich kleidete und ein feines, ovales Gesichtchen besaß, das nie lächelte, anerkannte im Hinblick auf ihren Sohn Carls Überlegenheit. Aber die meine, der ich gegen den Sekundaner Fritz Abc-Schütze war, um so weniger. Mehr und mehr geriet sie in Zorn, weil sie ihr inneres Eingeständnis fürchtete, ich möchte ihm wirklich überlegen sein, und weil sie mich auch nur zu einer leidlich respektvollen Haltung ihm gegenüber nicht bringen konnte.

Der brave Jüngling, der mir in der Debatte, wie wir sie seit früher Jugend im Familienkreise geübt hatten, nicht gewachsen war, hatte die Neigung, Bücher zu kaufen, was seine Mutter lebhaft begrüßte und reichlich mit Geld unterstützte. Leider war ihm der Inhalt der Bücher gleichgültig. Er hätte dafür ein Interesse an der äußeren Form des Buches, Einband, Papier, Druck und Format, haben können, wie es der Buchbinder, der Papierfabrikant, der Drucker, der Bibliophile hat, aber das lag ihm ebenso fern. Ich hatte erkannt, er kaufte die Bücher wie Spielzeug ein, aber kaum, um damit zu spielen, denn sie wurden in Schüben magaziniert und weder gelesen noch verliehen. So suchte ich ihm begreiflich zu machen, besonders wenn er mir wieder einmal ein Buch verweigert hatte, er hänge da seine Seele an ein vollkommen nutzloses, totes Kapital, und es würde für seine Bildung ebenso wertvoll sein, wenn er seine Schübe mit Sand oder Sägespänen vollfülle.

Wer ahnt nicht, welcher Vorwurf mir daraufhin in empörtem Ton von seiner Mutter gemacht wurde: ich hätte den Wert von guten Büchern geleugnet und sie auf die gleiche Stufe mit Sand und Sägespänen herabgedrückt!

Frau Mehnerts Stolz war die gute Stube. Ich konnte mich nicht enthalten, eines Tages im Gespräch zu erklären, ich könne den Sinn von hübschen Möbelstücken mit seidenen Polstern nicht begreifen, wenn man sie doch nicht sähe und sie unter Schutzüberzügen von roher Leinwand verborgen seien. Ebenso ginge es mir mit einem Zimmer, das hinter verhangenen Fenstern stets finster sei, dessen Spiegel und Kronleuchter überdies gegen Fliegenschmutz mit Mull verhängt wären. Das war durchaus nicht boshaft von mir.

Ob meine Bemerkung nun aber durch die Absicht zu reformieren veranlaßt wurde oder nicht, sie wirkte in jedem Falle aufreizend.

Daß man eine gute Stube benützen solle und könne, mußte für Frau Mehnert undenkbar sein. Keinesfalls wollte sie aber zugeben, mit dieser Ansicht hinter dem höheren Bürgertum zurückzustehen. Darum fand sie meine Kritik verletzend und anstößig. Weiter litt ihre ungemeine Eitelkeit, als sie deutlich empfand, ich hätte für die Einrichtung der guten Stube überhaupt nichts übrig, nicht für den Blumentisch mit den Gummibäumen, nicht für die entsetzlichen Nippessachen noch für das Goldfischaquarium.

Die Meisterin hatte ein Pianino angeschafft, das an der Stirn im Medaillon den Kopf Beethovens zeigte, ein billiges Instrument, dessen aufgedonnerte Außenseite für den Geschmack des Kleinbürgers berechnet war. Frau Mehnert war sehr stolz darauf. Sie verstieg sich zu der Behauptung, es sei das Kostbarste und Beste, was man haben könne. Ihr albernes Renommieren ärgerte mich, ich beging den Fehler, zu widersprechen. Die Firma, die das Klavier gebaut habe, sagte ich, sei ziemlich unbekannt. Die teuersten und besten Klaviere und Flügel würden in Deutschland von Bechstein hergestellt, ein Instrument dieser Firma hätte mindestens einen drei- und vierfach höheren Preis, trotzdem es ganz einfach aussähe und nicht einmal ein Beethovenmedaillon aufwiese. Diese Behauptung, die von ihr auf das allerheftigste bestritten wurde, war in jedem Falle für die Meisterin eine Ungeheuerlichkeit. Ich bekam Dinge zu hören, Worte zu kosten, aus denen mir klar wurde, sie vergaß, daß ich nicht einer der Lehrjungen ihres Mannes war.

 

Übrigens neigte der Meister selbst im Gegensatz zu seiner Frau nicht zur Heftigkeit. Gesellen und Lehrlinge hatten es gut bei ihm. Er lebte und wirkte ausschließlich in seinen Werkstätten. Im Hausstand trat er völlig zurück und ließ seine Frau beliebig schalten. Der dauernde Friede zwischen ihr und ihm, den er somit begründet hatte, war vielleicht trotz aller seiner ausgezeichneten feuer- und diebessicheren Geldschränke sein Meisterstück.

Vielleicht hatte er seine Freude daran, wenn er sah, wie der durch seine stille Tüchtigkeit wachsende Wohlstand seiner Frau zu Kopfe stieg. Weniger genehm mochte ihm die Erziehung seines einzigen Sohnes sein, die er ebenfalls schweigend duldete. Er hätte ihn sicher lieber als künftigen Fortsetzer seines Lebenswerkes in die Lehre genommen. Aber die Affenliebe seiner Gattin zu Fritz und die überspannten Vorstellungen, die sie sich von seinen Anlagen und seiner Zukunft machte, litten das nicht.

Das Betragen und Schweigen des Meisters bei Tisch gegenüber seiner Frau, seinem Sohn und seinen Töchtern grenzte an Gleichgültigkeit. Auch in die Unstimmigkeiten zwischen mir und der Meisterin, wegen des Büchersammelns, der guten Stube und des Klaviers, mischte er sich nicht. Ebensowenig hat er sich, was ich ihm heute noch dankbar nachtrage, das üble Vorurteil seiner Frau gegen mich zu eigen gemacht.

Im Hof, vor den Fenstern der Werkstätten, war ein kleines Rosengärtchen, in dem eine Laube stand, ausgespart. Daß man sich darin aufhalten, im Freien seinen Schmöker lesen konnte, war in der großen Stadt während der drückenden Sommerzeit eine Annehmlichkeit. Hier kam es vor, daß der kleine, runde, zurückhaltende Mann, wenn er vor den Werkstätten Luft schöpfte, über den Zaun hinweg ein Wort an mich richtete und mich, da mich die Entstehung der feuersicheren Schränke beschäftigte, schließlich mit in die Werkstatt nahm. Wie er mich dort belehrte, meiner Anteilnahme entgegenkam, meinen Fragen umständliche Antworten widmete, die mit Erklärungen am Objekt verbunden waren, das legte mir die Empfindung nahe, er hege ein gewisses Interesse für mich.

Ich jedenfalls empfand starke Sympathie für ihn.

So glaube ich nicht, bei der tiefen Achtung, die mir sein schlichtes Wesen abnötigte, mich je gegen ihn vorlaut, widerspenstig oder irgendwie anders als ehrerbietig betragen zu haben.

 

Seltsam, mein Heimweh nahm in dieser Familie wieder fast unerträgliche Formen an. Bei den Gaudas und der geistigen Atmosphäre des Pastorhauses verbunden zu sein würde Erlösung bedeutet haben.

Das Mehnerthaus, in dessen erstem Stock wir wohnten, lag gegenüber einem Zimmerplatz in einem Arbeiter- und Fabrikviertel. Das Hämmern, Sägen und Behauen von Stämmen riß den ganzen Tag nicht ab. Auf der schlecht gepflasterten Straße dicht unter mir verkehrten nur Lastwagen, die unser Zimmer dauernd mit donnerndem Lärm erfüllten und erschütterten.

Ich nehme an, da die Nabelschnur noch nicht zerrissen war, die mich an den häuslichen Kreis meiner Eltern band, daß ich unbewußt seine feinsten Zuckungen mitmachte. Und hier ist der Ort, wieder von der Kindesliebe zu sprechen, die ich vielleicht in einem überstarken Maße besaß und der ich das tiefste Glück und das tiefste Leid meiner Jugend zuschreibe.

Eines Tages, um eine Erinnerung aus den geliebten Kindertagen und dem geliebten Elternhause besonders lebendig zu gestalten, verfiel ich auf den Gedanken, mir einen festlichen Geburtstagvormittag von einst vorzutäuschen. Beim Konditor kaufte ich für mein Taschengeld etwas Gebäck und beim Materialwarenhändler eine Flasche weißen Wein. Ich wollte die grüne Flasche auf meinem Tisch sehen, die Farbe des Weins im Glase, wollte sein Aroma einziehen, höchstens die Lippen benetzen, etwas Makrone knabbern und damit eine lange nicht mehr empfundene, glücklich festliche Stunde hervorzaubern.

Während ich diesen Kultus einer schönen Vergangenheit einsam zelebrierte, tauchte für einen Augenblick die überall herumspionierende Großmutter auf. Sie brummelte etwas und ging hinaus.

Bei Tische wurde ich dann von der Meisterin auf die Flasche Wein hin, von der selbst mein Bruder Carl nichts wußte, angesprochen. Ich hätte ja wohl sehr vornehme Gewohnheiten, sagte sie, die weit über das hinausgingen, was in ihrer Familie üblich sei. Ich könnte mich wohl kaum in einer so einfachen Familie wohlfühlen, und es wäre ja dann auch besser, wenn ich zu vornehmen Leuten übersiedelte. Wahrscheinlich würde ich ja dann mit Wein und Lampreten gestopft werden und entsprechend zufriedener sein.

Wenn sie bis hierher ironisch war, wurde sie im folgenden deutlicher. Ein Junge, ein Quintaner, der sich eine Flasche Wein kaufe, das sei eine Ungeheuerlichkeit, das dürfe in ihrem Hause nicht vorkommen. Sie verbitte sich eine solche Protzerei. Sie und die Ihren tränken Wasser und einfaches Bier: wem das nicht passe, der solle es sein lassen. Wo der Zimmermann das Loch gelassen habe, wisse man ja.

Die Entrüstung nahm außergewöhnliche Formen an. Die Großmutter, die nicht bei Tische mitessen durfte, keifte hinter der Tür. Selbst der Meister wurde hineingerissen. Mein Vater sollte verständigt werden.

Noch am gleichen Tage wurde meinem Bruder Carl von der Meisterin eröffnet, daß sie zwar ihn als Pensionär gern behalten würde, aber da dies nur in meiner Gesellschaft sein könne, so möchte es doch wohl besser sein, wenn wir uns für Michaeli eine andere Unterkunft suchten.

 

Meine Nerven waren um jene Zeit wieder sehr heruntergekommen. Ich weinte viel und bei jeder Gelegenheit. Es liegt nahe, an Hysterie zu denken. Hysterische Menschen leiden viel und sind für ihre Umgebung unangenehm. Wenn ich das erste für mich in Anspruch nehme, so will ich auch das zweite nicht ableugnen. Meine Tränenseligkeit, die sich in Augenblicken des Ärgers, der Wut, der Verzweiflung immer wieder äußerte, hielt bis zum letzten Breslauer Schultage an, den ich übrigens bald erleben sollte. Mein Bruder Carl hatte allmählich nur noch beißenden Spott und Hohn dafür. Da diese Art der Rückwirkung aber meist mit einem heftigen Meinungskampfe zusammenhing und ich ihm wohl wirklich mit meinen Tränen lästig wurde, kann man seinen bitteren Sarkasmus vielleicht als eine Art Ultima ratio ansprechen.

 

Als ich aus den Ferien in das Mehnerthaus zurückgekehrt war, überkam mich in den ersten Stunden ein wahres, tiefes, verzweifeltes Weh, so daß ich mich in unaufhaltsamen Tränen gleichsam austobte. Als mich die allenthalben überflüssige Großmutter eines Tages in Tränen sah, sagte sie: »Weene man, denn brauchste nich pissen!«

 


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