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Ich komme nun zu dem größten Ereignis während meiner Realschulzeit, das allerdings wie die meisten, die damals mein geistiges Sein heranbildeten, nicht mit der Schule zusammenhing. Pastor Gauda kam zu mir herein, als ich wieder einmal während der Schulstunden zu Bette lag. Er sagte abrupt: »Dein Vetter Georg ist gestorben.« Dies war mir eine Undenkbarkeit. Es ist erzählt worden, welchen Anteil die ganze Verwandtschaft an diesem Wunderkinde nahm, das als eine ausdrückliche Belohnung für exemplarische Frömmigkeit des Schubertschen Hauses von den Tanten aufgefaßt wurde.
»Zieh dich an, pack deine Sachen, in einer Stunde geht dein Zug! Du sollst nach dem Wunsche deiner Eltern dem Begräbnis beiwohnen!«
Einen Zweifel gab es nicht mehr.
Nun aber, als der staunende Schreck überwunden war, mußte ich mit fernerem, heimlichem Staunen feststellen, daß meine nun folgende Erregung überwiegend freudig war. Mit heiterer und befreiter Seele, wie ein Vogel, der Flugwind unter den Flügeln hat, fuhr ich in meinem Abteil dritter Klasse der Heimat entgegen, in die Landschaft hinein.
Es ist schwer, die Art der Gefühle, die mich bewegten, auch nur andeutungsweise wiederzugeben. Einerseits war es wieder das Große, Regelwidrige, dem menschlichen Schematismus Spottende, das ich trostreich empfunden habe; andrerseits das Aufspringen aller verschlossenen Quellen des Gefühls, daran ich teilhatte und das ich bei allen Verwandten voraussetzte. Ferner: ich lebte noch, und der kleine Georg war tot. Das Geschenk des Lebens an sich erhielt einen neuen, höheren Wert für mich, und diese Erkenntnis machte meine Schulsorgen geringfügig.
Schließlich, ich durfte heut die Schule im Rücken lassen und genoß in tiefen Zügen das Leben und den Augenblick.
Gottes Wege sind wunderbar: dieses Wort, das wohl den meisten weniger ein Trost als eine Anklage oder Klage ist, heut war es für mich ein beglückender Trost. Die Entscheidung über das Geschick eines Menschen, dachte ich, ihr superklugen Schulmeister, Tanten und Verwandten! steht nicht bei euch. Welcher Fürwitz, welche Torheit, welcher Hochmut lag, von dieser fürchterlichen Belehrung aus gesehen, in dem Verhalten Tante Augustens und Elisabeths gegen mich! in dem kleinen Ereignis mit der Bettdecke in Görbersdorf! in ihren zur Schau getragenen Vergleichen zwischen meiner Niedrigkeit und der Höhe Georgs und der mir gewidmeten leidvollen Geringschätzung! Man glaube nicht, daß es mir möglich gewesen wäre, so sehr mich der Tod des wahrhaft geliebten Spielkameraden erschütterte, eine Empfindung ganz zu unterdrücken, die allen solchen Zeichen feindlicher Entwertung gegenüber einer Genugtuung ähnlich sah.
Pastor Gauda war gar nicht ironisch auf meine Krankheit zu sprechen gekommen, die ich, auf die Füße springend, wie einen abgetragenen Rock beiseitegeworfen hatte. Ich glaube, er gönnte mir diese Seite der tragischen Tatsache und bewertete sie als Zufallstherapie. Und wirklich, durch den Funken, den das Ereignis in den Marasmus meines Geistes warf, hatte ein neues Leben sich entzündet, das mich fortan in die Tiefe des früheren nicht mehr absinken ließ.
Meine Mutter hatte bereits Trauer angelegt. Sie sagte wenig, denn ihr Schmerz war tief. Auch mein Vater schwieg über den Todesfall. Ein schweigender Druck lag über der Familie, während das Hotel belebt und voller Gäste war.
Ich habe die lieben, zärtlichen Blicke meiner Mutter in Erinnerung. Sie war voller Glück, daß sie mich noch besaß. Tante Auguste und Tante Elisabeth, mit denen wir gemeinsam nach Lohnig fuhren, schienen mir tief bedauernswert. Beide waren so tief gebeugt, daß keinerlei Groll in mir aufkommen konnte. Dennoch fing ich heimliche Blicke auf, die über Gottes Ratschluß zu grübeln schienen. Die von Tante Auguste hatten den Ausdruck ehrfurchtsvoller Belehrbarkeit. Ob sie an Jesus Sirach dachte: »Aber ein andrer ist schwach, der Hilfe bedürftig, arm an Kraft und reich an Armut, doch das Auge Gottes schauet gütig auf ihn herab und erhebt ihn aus seiner Niedrigkeit.«
Der kleine Georg war an Meningitis gestorben. Innerhalb weniger Stunden war er gesund, krank und tot. Es blieb nicht aus, daß auch hier böse Menschen allerlei munkelten. Man hätte, hieß es, seine sowieso abnorme Gehirntätigkeit durch vieles Lernen überspannt. Es war nicht nötig, ihn zu einem dreizehnjährigen Sekundaner zu machen, man hätte ihn geistig sollen zurückhalten und Sorge tragen für die gesunde Entwicklung seiner Körperlichkeit.
Auf dem Bahnhof Striegau erwartete uns eine mit Ackergäulen bespannte Kutsche. Im langsamen Trabe wurde der endlose Weg durch lange, langweilige Dörfer zurückgelegt. Die Stimmung wurde um so bedrückter, je mehr der Streitberg, der ein Kreuz auf der Spitze trägt, mit seinen Granitbrüchen hinter uns blieb und Rittergut Lohnig sich annäherte.
Es wuchs der Ernst. Und nicht nur meiner Mutter und meinen Tanten, die unter einem steigenden Drucke standen, sondern auch mir wurde es jetzt eine schwere Fahrt. Die Majestät der Trauer, die Majestät des Todes, die harte Unabwendbarkeit des Ereignisses schlugen nun auch mich in ihren düsteren, atembeklemmenden Bann. Bei der Einfahrt in den weiten Gutshof, die mich stets mit selig überschwenglicher Ungeduld erfüllt hatte, konnte ich es mir kaum erklären, wieso sich hier alles in eine wüstenhafte Öde und Leere verwandelt hatte. Denn an und für sich bestand eigentlich keine Veränderung. Auf den Tennen der Scheunen lud man gewaltige Weizenfuder ab, rückte mit leeren Wagen heraus und mit vollen hinein, ritt Pferde und trieb Ochsen zur Schwemme und Tränke; Mägde, Gutsschaffer und Eleven bewegten sich durch die Pforten der Ställe, Schwärme von Tauben flogen auf, die sich mit Scharen von Hühnern an dem Ausfall der Ähren erletzt hatten.
Unser Wagen hielt vor dem Herrenhaus.
Onkel Schubert, der uns, lebhaft beschäftigt, empfing und aus dem Wagen half, tauschte mit uns Küsse aus. Es wurden nur wenige halbverständliche Worte gewechselt, die bei den Damen von unaufhaltsamen Tränen und mit Schneuzen und Augentrocknen begleitet wurden. Das Haus war voll und in der großen Küche rechts vom Eingang mit Kochen, Braten, Kaffeemahlen ein großer Betrieb.
Ich mußte bewundern, wie der Onkel sich aufrecht hielt. Er ließ nicht ab, für die Gäste zu sorgen.
Der Haushalt, soweit er das Gebiet der Hausfrau war, wurde von Frau Apotheker Brauser besorgt. Die Brausers von Großbaudiß besaßen eine hübsche, verwöhnte Tochter und waren in der besten Gesellschaft des Kreises beliebt.
Natürlich wurden die Schwestern Straehler zu Tante Julien, die sonst niemand zu Gesicht bekam, hineingeführt. Ich begriff, daß sie mich nicht sehen konnte, und bin auch, ohne mit ihr zu sprechen, abgereist.
Der Gedanke an dieses Begräbnis mit seinem Um und An beanspruchte in der Übergangszeit meiner Jugend von der knabenhaften zur jünglingshaften Daseinsform einen großen Raum. Das ganze Erlebnis mit seinem unerwarteten Eintritt, seiner gleichsam explosiven Gewaltsamkeit hatte bei mir ein jähes Erwachen zur Folge. Ich fing nun an, schon in Lohnig während der Trauertage, mich in dem neuen Gebiet still und befremdet umzusehen und in ihm die ersten Schritte zu tun.
Alles begünstigte mein stilles Forschen und drängte mich gleichsam zu beobachten. Es waren noch ein oder zwei Jungens von ähnlichem Alter da, aber es gelang mir meistens, sie loszuwerden. So den kleinen, harmlosen Metzig-Karl, der ein Sohn von Onkel Gustavs Schwester war. Der Junge hatte Beziehungen zu dem kleinen Georg nicht gehabt, und ich mochte mit ihm nicht über ihn reden. Im übrigen ließ man mich allein. Die vielen Trauergäste, die unablässig meist in eigener Equipage von nahen und fernen Gütern eintrafen, kannten mich meistens nicht, und eigentlich niemand in diesem Gewirre hatte ein Auge für mich.
Wie der Siegellacktropfen auf der Herzgrube eines Scheintoten hatte mich die jähe Schicksalserfahrung zu einer neuen, stärkeren Form des Bewußtseins erweckt. An diesem Bewußtsein ließ ich nun in der aufgewühlten Stille dieser Tage, in der trauervoll belebten Einsamkeit mein ganzes bisheriges Leben und im besonderen den mit dem kleinen Georg verbrachten Teil vorüberziehn. Da war gewiß niemand außer Tante Julie und Onkel Gustav Schubert, der dem Toten eine so eigentümliche Andacht gewidmet hätte.
Scheinbar vergessen, jedenfalls unbeachtet, trieb ich mich müßig in Hof, Garten und Feld herum, mich alles dessen lebhaft erinnernd, was ich hier mit dem Vetter erlebt hatte, wobei ich auch die Klassengenossen des Frühverstorbenen mied, die zu seinem Begräbnis gekommen waren.
Diese steifen und kalten Gesellen waren mir unangenehm, zumal ich ihnen irgendeine Berechtigung, in diesen schweren Stunden hierzusein, nicht zubilligte.
Das Schicksal hatte, als es das Ehepaar Schubert traf, die denkbar härteste Form gewählt. Georg mit ebendiesen Klassengenossen wurde am Wochenende erwartet. Das Wetter war herrlich, es sollte mit dem geliebten Sohne ein heiterer Sonntag gefeiert werden. Statt seiner folgten einander auf dem Fuße die Nachrichten von seiner Erkrankung und seinem Tod.
Man hielt die Gesundheit meines Bruders Carl noch nicht für gefestigt genug, um ihn den Erregungen des Begräbnisses auszusetzen. Das war insofern ein Glück für mich, als ich auch durch seinen lebhaft dominierenden Geist in meinen Sinnereien nicht gestört werden konnte. So durfte ich auch meinen Weg durch die gerade Obstbaumallee nach Dromsdorf allein zurücklegen, wo in der Privatkapelle der Barone von Tschammer der verstorbene Vetter aufgebahrt worden war. Ich sprach in der Lehrerfamilie Krause vor und wurde von dem originellen, glattrasierten Lehrer selbst in die kleine Kirche eingelassen. Ich sah nichts weiter als auf einem Gebirge von Blumen den geschlossenen metallenen Sarg, in dem man die, wie es hieß, durch die Furchtbarkeit des Leidens entstellte Leiche meines Gespielen geborgen hatte. Dies war geschehen, um ihn den Blicken aller zu entziehen und besonders seiner Mutter und seinem Vater ein furchtbares Wiedersehen zu ersparen.
In den Gutshof Lohnig zurückgekehrt, war ich im tiefsten aufgewühlt. Ich konnte mir das Nichtsein des Toten nicht überzeugend vorstellen. Was in dem geschlossenen Sarge lag, interessierte mich nicht. Ich lebte nur in dem Wesen des kleinen Georg, das überall um mich, überall nahe war.
Am Begräbnismorgen sah ich Tante Julie von fern einen Augenblick, als ihr drei Kameraden Georgs vorgestellt wurden. Ich war verletzt. Was hatten diese Burschen, deren pausbäckige Gesichter außer einer gewissen Verlegenheit keinen Anteil zeigten, mit meinem lieben Vetter zu tun? Wie konnte die Tante sie dermaßen auszeichnen? Aber sie waren mit ihrem geliebten Kinde bis zum Ausbruch der Krankheit zusammen gewesen, hatten vor zwei oder drei Tagen noch die Worte des Sohnes gehört, und so sah man die Mutter ihre leeren Mienen verzweifelt nach einem Schatten des verlorenen Kindes absuchen.
Es gab, wie bei jeder Beerdigung, viele Mitläufer. Nicht nur aus dem weiten Freundeskreis, sondern auch unter engen Verwandten. Ich sah Leute, die sich, als hätten sie sich seit Wochen nicht satt gegessen, mit widerlicher Gier die Tafel zunutze machten, für die Frau Apotheker Brauser unablässig zu sorgen hatte. Ich sah einen undurchdringlichen Panzer gegen die Schläge des Schicksals und insofern etwas Staunenswertes in dieser Art Unverfrorenheit. Es gab also wirklich diese Dickhäuter, die von den furchtbarsten, tödlichen Manifestationen der unsichtbaren Gewalt nur oberflächlich gestreift wurden! Sie lachten, aßen mit unnatürlichem Appetit, priesen die Sahnensoße, lobten Klöße und Sauerkraut und fragten sich, wo der gute Schwager, der gute Schubert oder der gute Oberamtmann diesen oder jenen köstlichen Tropfen herhätte.
Die Feier der Grablegung kam heran. Ungefähr ein Dutzend Pastoren hielten am Altar der kleinen Kapelle über dem Blumenberge Ansprachen. »Aber der Gerechte, ob er gleich zeitlich stirbt, so ist er doch in der Ruhe.« Dieser und ähnliche Sprüche waren ihnen zugrunde gelegt. Einmal hieß es, man solle nicht klagen, Gott werde wohl wissen, was er getan habe. Heute gehöre dieser Knabe dem Himmelreich. Was aber aus ihm geworden wäre, wenn Gott ihn am Leben erhalten hätte und vor welchen Übeln er ihn durch den Tod bewahrt habe, das wisse nur Gott. Ich aber fragte mich innerlich, ob Gott nicht allmächtig sei und ob nicht sein Wille genügt hätte, meinem Vetter ein glückliches Leben zur Freude der Eltern zu gewähren.
Nachdem das altertümliche kleine Kirchenschiff mit dem schalen Dunste menschlich unzulänglichen, ganz ohnmächtigen Trostes erfüllt worden war, wurde der schwere metallene Sarg, ich weiß nicht mehr wie, in Bewegung gesetzt, und ich sehe ihn über die Hügel des Kirchhofs schwanken.
Julie Schubert, von ihrem Mann und Baron Tschammer mehr getragen als geführt, sank am offenen Grabe des Sohnes als eine wahre Schmerzensmutter zusammen und konnte kaum bei Bewußtsein erhalten werden.
Mit diesem Erlebnis beladen, kehrte ich nach Breslau zurück.