Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Ohne es noch zu ahnen, fuhren wir einem Paradiese zu. Capri glich dem echten sogar insoweit, als auch in ihm eine Schlange war. Ich bin ihr auf den Kopf getreten, aber die Vergiftung durch einen Fersenstich ist nicht ausgeblieben, und ich habe damit, solange ich in Italien war, zu schaffen gehabt.

Vom Dampfer aus wurden wir zunächst in die Blaue Grotte geführt, die, im Altertum bekannt, von den Deutschen Kopisch, dem Dichter-Maler, und dem Maler Fries neu entdeckt wurde. Kann es etwas geben, das auf eine abgeschlossene Welt des märchenhaft Schönen besser vorbereitet? Trotz häßlicher Nebengeräusche, seinerzeit hervorgerufen durch gewisse Landsleute, bleibt die Erinnerung zauberhaft.

Da ist zuerst die Capreserin.

Da sie aber erst in Erscheinung tritt, wenn man das Schiff verlassen hat und gelandet ist, so will ich zuvor jene durch Knabenrudel ausgeführten Schwimm- und Tauchszenen erwähnen, die sich damals um das angelangte Schiff abspielten. Mit der Gewandtheit von Seehunden wird von Knaben zwischen sieben und vierzehn Jahren nach kleiner, von Bord geworfener Münze getaucht. Die Wonne, der Jubel dieses glückseligen Gewerbes wirkt ansteckend.

Isola Capri, sagt man, wirke mit ihrer in der Mitte gesattelten Felsmasse wie ein antiker Sarkophag. Wenn das der Fall ist, so nicht zum wenigsten durch das Bildwerk darum und daran. Mich aber grüßte allerdings ein tragischer Schatten, bevor ich das Land betrat: der des Kaisers Tiberius, mit dessen großgeartetem, schwerem Schicksal ich mich hauptsächlich durch Adolf Stahr bekannt gemacht hatte.

In meiner Phantasie nahm seine Gestalt mythische Riesenmaße an. Und sooft ich von der Idee eines gigantischen Sarkophags getroffen wurde, war er es, der darin verschlossen war und der sich nächtlicherweile als drohender Geist darüber zeigte.

Eine junge, schöne, höchstens siebzehnjährige Capreserin ließ sich, als wir gelandet waren, meinen zentnerschweren, zur Hälfte mit Büchern angefüllten, gewölbten Holzkoffer auf den Scheitel heben und trug ihn, gerade schreitend und mit stolzem Nacken, eine steile Felsentreppe von tausend und mehr Stufen zu schwindelnder Höhe hinan, bis er ihr vor dem alten Hotel Pagano vom Haupte genommen wurde.

Ich sah zum erstenmal eine lebende Griechin, eine Karyatide der Akropolis.

Aber ein unabweisbares, meinethalben trügerisches Gefühl sagte mir: Hic Rhodos, hic salta! Hier war Griechenland: warum sollte ich weiterreisen?

Der alte italienische Gasthof des Signors Pagano war mit Deutschen gefüllt. Er bestand aus Haupthaus und Anbauten. Der Weg zu unserem Zimmer führte über ein flaches Dach. Es war wohl dasselbe, wo, auf und ab gehend, Viktor von Scheffel seinen »Trompeter von Säckingen« und den »Kater Hiddigeigei« gedichtet hatte. Katzen waren in der Tat sehr zahlreich hier und konnten sich wohl auch in Dichtungen eindrängen.

Von unseren beiden Zimmern war das eine fensterlos und erhielt sein Licht entweder von einer Kerze oder durch die Tür auf die Dachterrasse. Das andere ging auf ein Gäßchen hinaus, und man konnte, wenn man sich zum Fenster hinauslehnte, ganz gut einem Menschen die Hand reichen, der auf der gegenüberliegenden Seite im Fenster lag. Hier gefiel es uns überaus.

Kopf an Kopf standen und saßen unsere Landsleute in den Gesellschaftszimmern herum und erfüllten das Haus mit jener Lebendigkeit, die an deutsche Ausflugsorte erinnert. Das berührte behaglich, wohnlich und heimatlich und überdies um so überraschender, da wir es nicht erwartet hatten.

Der Pensionspreis war von unwahrscheinlicher Billigkeit, da er, tutto compreso, inbegriffen beliebige Mengen Weins, einige wenige Lire betrug. Hier konnte man sich's wohlsein lassen.

Carl und ich waren nur zu den Speisestunden daheim. Wir kletterten wie die Ziegen von früh bis spät an dem steinernen Sarkophag herum, Carl mit einer mich oft beängstigenden, schwindelfreien Verwegenheit, die ihn an irgendeinen Absturz, etwa an dem Monte Solaro, oftmals meinen Blicken entzog.

Fast vergaßen wir, daß wir verlobt waren und beide daheim unsere Bräute hatten: so naturhaft, so vergeßlich machte uns diese insulare Lebensform.

Mit Sorgen quälten wir uns in Capri nicht. Wenn wir des Morgens, umgeben von einem Rudel Capreser Jungens, zum köstlichsten Bade der Welt, zur Kleinen Marina, hinunterzogen, verloren wir uns in Wärme, Farbe und Glanz und bestanden nur noch aus lachender Seele. Von den zahllosen grünen Eidechsen, die über das Kalkgefels huschten, mußte sich aller Augenblicke eine, in einer Schlinge aus Gras, durch irgendeinen Narkissos, Charmides oder anderen Liebling der Götter fangen und mit Lachen vorweisen lassen. Dann wurde sie wieder in Freiheit gesetzt.

Unvergleichliche Wonnen des Bades in der grünen Flut unter den Faraglioni erwarteten uns. Sie dauerten fort, bis wir an Paganos gedeckter Tafel ein köstliches Frühstück einnehmen konnten.

Der Nachmittag und besonders die kühlere Zeit wurden wiederum durch Entdeckungsreisen in Form von Wander- und Kletterpartien ausgefüllt.

Es hätte mögen ewig so fortgehen, wir hätten nichts dagegen gehabt.

 

Wir gingen zuweilen verschiedene Wege. Da redete mich, als ich die Kleine Marina allein besucht hatte, ein Junge an, der mir deutlich machte, daß irgend jemand nahebei in den Felsen mich sprechen wolle. Ich schloß mich sogleich dem Knaben an, bis ich mich plötzlich einem seltsamen Menschen Auge in Auge gegenüberfand. Er war, wie ich heute sagen würde, eine Art Epiktet. So trug er sich barfuß und ohne Kopfbedeckung und wirkte im übrigen durch ein langes Gewand apostelhaft.

Ich weiß nicht mehr, wie der Mann, der sich als Deutscher entpuppte, geheißen hat. Er trug keinen außergewöhnlichen Namen. Er redete leise mit einer gewissen Tonlosigkeit, die sich wohl aus langem Alleinsein und bewußter Gewöhnung herleitete.

Dieser Sonderling, der, wie sich bald erwies, zwischen den Steinen als Einsiedler lebte, hatte den Deutsch-Französischen Krieg mitgemacht. Nach einer Verwundung hierhergeschickt, sei er in Capri hängengeblieben und werde sein Leben hier auch beenden, erklärte er. Dem ganzen verderbten Weltwesen habe er ein für allemal Valet gesagt.

Er war ein Asket, kein Robinson. Die Anachoreten der Thebais haben so ähnlich gewohnt. Anachoreten, das heißt: Zurücktretende. Auch dieser Mann war von allen Aussichten persönlicher und kultureller Art, und zwar im neuen, mächtig aufstrebenden Deutschen Reich, zurückgetreten. Glanz, Macht, Geltung, Luxus, Liebe vermochten ihn nicht mehr anzulocken. Er hatte sich dreiundeinehalbe Wand aus Steinplatten ohne Mörtel zusammengetragen, verrostete Bleche als Dach darübergelegt, nicht höher, als daß er sich von außen noch darauf lehnen konnte.

Unter diesen Blechen fand sich ein wetterdichter Kasten voller Schiffszwieback, daneben der tönerne Wasserkrug.

Als ich ihn fragte, wovon er lebe, zeigte es mir der Sonderling, indem er einen harten Schiffszwieback gewaltsam über dem Knie zerschlug, über die Bruchstellen Wasser goß und dann an den weichen Teilen herumnagte.

Die Fischer achteten diesen Mann und ließen ihn ungestört gewähren. Ich konnte bemerken, wie gut er mit ihnen stand.

 

Nicht er allein, sondern auch andere Fremde waren in Capri hängengeblieben, was, wenn man den Dämon des Ortes gefühlt hatte, wohl zu verstehen ist. Ich glaube, es war ein Bayer, der die bella Margherita, eine schöne Wirtstochter in Anacapri, geheiratet hatte. Da ihre Eltern nicht mehr lebten, war er Besitzer und Wirt geworden. Es kam mir vor, als ob überhaupt deutsches und capresisches Blut, deutsche und capresische Art leicht ineinander überflossen.

Der junge Gatte der schönen Wirtin von Anacapri wirkte wie ein reicher, zum Leichtsinn neigender Bauernsohn. Ich wurde bei dem hübschen Schwerenöter und Tausendsassa an die Erben des Demuth-Gutes erinnert, das dem Gasthof zur Krone gegenüberlag. Wahrscheinlich hatten auch ihn die Umstände von der väterlichen Scholle hinweggespült, und es war ihm gelungen, hier am unwahrscheinlichsten Orte Anker zu werfen. Dieser immerhin interessante bayrische Hiesel streifte, das Gewehr und die Jagdtasche umgehängt, auf der ganzen Insel umher, ein Beruf, den er sich besser nicht wünschen konnte.

Während man die Bevölkerung Neapels als etwas Fremdes unbeteiligt sieht, wird man von den Bewohnern Capris sogleich angezogen.

Die Capreserin ist groß, schwer, dunkel und treuherzig. Ihr schwarzes Auge läßt an Falerner Wein denken oder solchen, der am Vesuv gewachsen ist. Ich sah später in den Bergen Korfus verwandte Erscheinungen ländlicher Griechinnen, und ich gab mich, wo ich einer der Capreserinnen ansichtig ward, dem Gedanken hin, es mit echten Großgriechen zu tun zu haben.

Von der Lage Capris und seiner Schönheit zu reden erübrigt sich. Der Blick nach Nordosten umfaßt den Vesuv, der damals tätig war und seinem Krater immerwährend Rauch entsteigen ließ. Weiß und in Pinienform, wie Professor Gaedechens uns in Jena geschildert hatte, erhob er sich tags auf seiner Spitze, während der Glutatem aus dem Innern des Berges ihn nächtlicherweile blutrot färbte. So zog der Vesuv nach Sonnenuntergang, wenn bei heißer, stillstehender Luft der Vollmond über der Insel hing, oft stundenlang unsere Blicke an.

In solchen Nächten meldete sich dann auch wieder der Gedanke an Tiberius. Die Reste seiner Villa liegen auf dem östlichen Rande der Insel, seine Bäder am nördlichen. Es gehen dunkle Sagen von ihm, seinen Schreckenstaten und düsteren Orgien. Wir hatten die Höhle besucht, von der gesagt wird, daß sie dem unbesiegbaren Sonnengott Mithra heilig war, welchem Tiberius seinen Lieblingsknaben durch Hinabstürzen von dem Felsen geopfert habe.

Es gehört nicht viel dazu, im Mondschein einer glühenden Nacht sich in das lustvolle Grausen solcher Mysterien zu verlieren, wo vor dem nahen Antlitz einer immer noch nahen Gottheit Tod und Wollust einander umschlangen und Verbrechen nicht mehr Verbrechen war.

Nach einer solchen Nacht warf sich wohl der kaiserliche Gott und Anbeter der Astarte mit Weibern und Jünglingen in die frischen Fluten der Blauen Grotte hinein, aber nur, um sich in neuen Wonnen zu wälzen und unersättlichen Lüsten weiter zu frönen. Wer dieses Treiben als das ungeheure, gottgewollte Geschehen sieht, das mit den Maßlosigkeiten priesterlicher Brunst des Orients zusammenhängt, wird sich mit der moralischen Elle unserer Zeit nicht daranwagen.

Ich aber, in meiner Unschuld Maienblüte, gedachte damals allen Ernstes, dem Un- und Übermenschen durch eine Dichtung gerecht zu werden, ein Bemühen, das später eine schwächliche Frucht zutage gefördert hat.

Jedenfalls hat der Gott-Kaiser das enge Bereich dieser wunderbaren Insel den Weiten des römischen Weltreichs vorgezogen. Auch auf diesen ganz Großen übte sie ihre Anziehungskraft. So dachte ich, einmal hier gelandet, zunächst nicht mehr an ein anderes Griechenland, das mich damals möglicherweise enttäuscht hätte, hing aber immer wieder den Erwägungen nach, die den Anachoreten bewogen hatten, sich und sein Leben für immer hier einzuschränken. Sollte ich wohl ein gleiches tun? Nicht nur war es die Insel an sich, sondern ebenso der hier heimische Menschenschlag, der den Wunsch rege machte.

Hier mußte man wachsen, werden, gedeihen und blühen an Körper und Geist. Wo anders als hier konnte man weise und glücklich sein? Dort flammte das Fanal des Vesuvs. Man wurde mit Feuer imprägniert. Der Duft von Milch, Honig und Wein stieg einem überall in die Nase. Und lag nicht Elea in der Nähe? Konnte ich nicht meine Philosophen studieren, meinen Platon lesen, den Körper einer Griechin in Marmor bilden? War es nicht gleichgültig, ob man dies in einer regelrechten Werkstatt oder in einem offenen Schuppen unter den Reben und schweren Trauben seines Weingartens tat?

Mariuc de Quaracin! Aus unserm zweiten Zimmer des Albergo Pagano konnte man sich, wie schon gesagt wurde, über ein kleines Gäßchen hinweg mit jemand beinahe die Hände reichen, der im gegenüberliegenden Fenster lag. Es war eine junge Capreserin, die eines Tages dort herauslehnte: Mariuc de Quaracin.

Wir grüßten, wir befreundeten uns, wir hatten öfters kleine Gespräche. Sie fuhr zurück, sie versteckte sich, wenn unten der Geistliche durch die Gasse ging. Weiteres ist nicht von ihr zu melden.

Sie war sehr arm, hatte außerdem eine schlimme Hand. Unter die schönen Capreserinnen gehörte sie nicht. Ich muß sie aber trotzdem erwähnen, da das arme Ding auf eine rührende Weise über die Gasse zu mir herüberwinkte und mir, trotzdem das Verständnis schwierig war, ihre Sorgen und Schmerzen anvertraute.

Sie ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben, diese Mariuc de Quaracin, eine hilfsbedürftige arme Seele, die aber doch den vertraulichen und vertrauenden Inselgeist nicht verleugnete.

 


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