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Ich wohnte bei einem Ehepaar – der Mann war Schuster – im dritten Stock eines alten Mietshauses der Seminargasse. Die Wohnung bestand aus einem zum Schlafzimmer umgewandelten hübschen Salon, den ich innehatte, aus einem Schlitz, der Werkstatt und Wohnraum der schusterlichen Vermieter war, außerdem aus Küche und Schlafzimmer. Meinen Monatswechsel von dreißig Mark gab ich für Miete und Frühstück aus, bezeichnend für die mir damals eigene, dem Leichtsinn recht nahe Sorglosigkeit. Schließlich jedoch, ohne Borg und Bettel wäre ich auch sonst mit diesem Wechsel nicht ausgekommen. Jedenfalls, es bleibt ein Rätsel, wie sich mein Vater, der früher, wenn es um unsere Erziehung ging, so freigebig war, meinen Unterhalt vorstellen mochte. Noch holte ich allerdings zweimal die Woche die mit Proviant gefüllte Reisetasche vom Freiburger Bahnhof ab, aber weder das Brot noch das kalte Fleisch war immer das frischeste. Die Soleier wurden erst dann an mich gesandt, wenn sie die Salzlake nicht mehr vertrugen und hart wie Stein waren. Einen Vorwurf mache ich meiner guten Mutter nicht, die mir gewiß auch manchen guten Bissen beipackte. Im übrigen ging es hier wie in der Feldstraße: aßen dort Primaner meistens gleich nach der Ankunft die ganze Bescherung auf, so tat es hier die kleine, geschlossene Kunstgruppe, von der die Rede gewesen ist.
Hier sei eine kleine, schicksalhafte, schmerzliche Episode eingeschaltet.
Ich brauchte seit einiger Zeit den Weg vom Freiburger Bahnhof bis zur Seminargasse mit der nahrungsmittelhaltigen Reisetasche nicht mehr per pedes apostolorum zu machen. Eines Tages hatte man Schienen gelegt und die erste Breslauer Pferdebahn eingerichtet. Sie beförderte gegen ein Zehnpfennigstück nunmehr meine Tasche sowie mich.
Als ich dieses Zehnpfennigstück eines Tages wieder einmal an den Schaffner ablieferte, sagte jemand: »Nun, Framper, wie geht's?«
Der Stotterer Gustav Hauptmann, Halbbruder meines Vaters, der in der Krone gelebt, dort seine pomphafte Hochzeit gehalten und endlich Wirt und Besitzer des Gasthofs Zum schwarzen Roß in Waldenburg war, hatte mich immer so genannt.
Ich begriff nicht sogleich, daß der Schaffner die Worte gesprochen hatte, noch schwerer, daß dieser kein anderer als eben Onkel Gustav selber war.
»Ich bin's, mein Junge!« bestätigte er. »Du siehst, so k . . . kann m . . . man allmählich emp . . . p . . . pork . . . kommen!«
Der Arme hatte alles verloren, bewohnte mit seiner Frau ein Bodengelaß; sie verdang sich als Wäscherin.
Onkel Gustav, der gute, der Kinderfreund, ist nicht lange danach von seinem verfehlten Leben und einer widersinnigen glücklosen Ehe durch den Tod erlöst worden.
Die Vita nuova, in der ich stand, der endliche Durchbruch in mein wahres und eigentliches Lebenselement, machte mich nahezu unempfindlich für die Gefahren, denen ich im übrigen ausgeliefert war. In einem Bierlokal nahe der Kunstschule hatten wir Schüler unsere Stammkneipe. Es war ein Winkel niedrigster Art, ein finsteres Loch, in dem wir von zwei richtigen Menschern bedient wurden. Mir war das stundenlange Hocken, Bierhinunterschütten, heftige Debattieren und Kneipliedergrölen unbekannt, und ich fand einen großen Reiz darin, mich mit meinen Genossen auszutoben.
Wie kam es, daß bei dem hohen Ideal, das mich damals beherrschte, das, jung, rein und hell, mein sicherer Leitstern war, mich gleichzeitig ein so schlechter Instinkt unterjochen konnte? Oder unterlag man nur einer plötzlich freigewordenen, gesunden Gier, die, losgelassen, lechzend, soviel nur immer möglich Leben an sich raffen wollte und die man, unerfahren, noch nicht beherrschen gelernt hatte? Nein, daran, daß man sie beherrschen solle und könne, dachte ich damals nicht. Es war das Glück der Kameradschaft, das neue Erlebnis, unter gleichen ein gleicher zu sein, es war der Stolz, in eine Gilde aufgenommen zu sein, was irgendwie die gemeine Umgebung heiligte. Wie viele Nächte wurden hier um die Ohren geschlagen! Man mag erwägen, wie das meine zarte Konstitution ertragen sollte und wie es mit meiner Mittellosigkeit zu vereinen war.
In diesen Nächten war ich der am meisten verbummelte Anfänger. Um ihre Kosten zu bestreiten, mußten Bettelbriefe an meinen ältesten Bruder Georg, der krank in Sorgau lag, nach Jena an Carl und vor allem an Tante Mathilde Jaschke herhalten. Ich habe mich nicht entblödet, auch den frommen Onkel Schubert mit einer Bitte um Geld brieflich anzugehen. Was nur immer einlief, wurde auf den Schenktisch der Frau Müller geschüttet, der Kellnerin in den Busen gesteckt oder sonst mit Freunden vertan. So kam denn sehr schnell der Augenblick, wo ich in meinen Zahlungen an Frau Müller mit einer für meine Verhältnisse übermäßig großen Summe in Rückstand war.
Wunderlicherweise machte ich meinen Freunden den Eindruck, als ob ich viel Geld hätte. Sicher hatten Hugo Schmidt, Max Fleischer und Puschmann, trotz seiner Samtjacke, kaum so viel Mittel und übrigens weniger Hilfsquellen als ich. Puschmann bewohnte ein Elendsquartier. Er schlief des Nachts im selben engen Gelaß mit einer Bahnschaffnersfrau. Jede dritte Nacht kam ihr Mann dazu, wo er dann in das Bett zu Puschmann kletterte. Die fünf aphrodisischen Gestalten von Makart, die er kopiert hatte, und diese Wohnhöhle, die ich gesehen habe: welch ein Gegensatz!
Wahr ist, ich habe, solange ich selbst nicht gänzlich ausgeplündert war, immer gern mit meinen Freunden geteilt. Nach und nach gingen meine Uhr, mein Winter- und Sommerüberzieher, meine goldenen Manschettenknöpfe den Weg zum Versatzamte. Ich fand, daß sich alles außer einem Hemde, einem Jackett, einer Weste, einem Paar Hosen und einem Paar Stiefel entbehren lasse. Die Folge war, daß, als ich monatelang bei Kälte und Wärme, Nässe und Schnee, bei der Arbeit und beim Vergnügen ein und denselben Anzug getragen hatte, mich mein Äußeres nicht gerade empfahl.
Ich möchte trotzdem nicht annehmen, daß sich etwas wie der Stempel der Gemeinheit auf meinem Gesicht ausprägte. Aber ich mag einen sonderbaren Eindruck gemacht haben. Bis auf die Schultern fiel mein blondes Haar: das allein schon machte mich auffällig. Da ich Kragen nicht mehr besaß, ließ ich mein Hemd am Halse offen und umgab es mit einer mir gebliebenen seidenen Lavallière auf Matrosenart. Meine schäbige Hose stieß auf blanke Schnallen schiefgetretener Halbschuhe, der ganze Aufbau aber wurde von einem Kalabreser gekrönt, den ich mir, wie ich glaubte, als Künstler schuldete.
In diesem Aufzug, der nur mir selbst nicht ungewöhnlich erschien, traf ich eines Tages meinen Onkel, den Sanitätsrat Straehler, auf der Schweidnitzer Straße. Es waren Jahre vergangen, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte. Der stets elegant gekleidete schöne Mann war, wie immer, auch diesmal nicht unfreundlich, aber er machte große Augen und fragte mich über das Was, Wie und Wo meines jetzigen Daseins aus. Meine Erscheinung gefiel ihm nicht; ich erfuhr das später von meiner Mutter, die er aus verwandtschaftlichem Pflichtgefühl davon unterrichtet hatte.
Mit Alfred Ploetz hatte ich eine gleiche Begegnung. Als er wie Onkel Straehler merkte, daß mit mir nicht alles im Lote war, hat er Carl in Jena verständigt. Das brachte mir Briefe mit Ermahnungen, aber auch Geldunterstützungen ein; denn wie hätte ich Ploetz verbergen können, daß ich unter Hunger zu leiden hatte.
Der erste Winter auf der Kunstschule war, in Betrachtung meiner äußeren Lebensumstände, wohl das übelste halbe Jahr, das ich je durchgemacht habe. Mitunter stand ich frierend, ohne Paletot, von oben bis unten durchnäßt, mit durchgelaufenen Sohlen im Straßenschlamm vor dem Schaufenster eines Wurstladens, die halberfrorenen Hände in die Taschen meines fadenscheinigen Röckchens vergraben, und überlegte, ob mir die Schlachterfrau wohl für zehn Pfennig Knoblauchwurst mit Semmel auf Borg geben würde. Gab ich dann meiner Seele einen Ruck und wagte mich unter die Menge der Käufer, so bin ich seltsamerweise nie enttäuscht worden. Aber das ergatterte Stückchen Wurst war durch den schweren Akt der Opferung meines Stolzes und die Gefahr einer schweren Demütigung ziemlich hoch bezahlt.
Unsere Gesellschaft in der Stammkneipe war allmählich in eine ziemlich wüste Kumpanei ausgeartet, in deren Mittelpunkt schließlich der durch Trunk damals ziemlich heruntergekommene Professor James Marshall saß. Er sah betont italienisch aus, hatte düstere Augen, einen irgendwie indiskreten, faunisch aufgeworfenen Mund und drapierte sich stets mit einem italienisch-spanischen Radmantel.
Durch einen nächtlichen Vorgang wird erwiesen, zu welchem Tiefstand, welchem Grade von Roheit wir damals gesunken waren und welche niedrigen Elemente sich bei uns aufhielten.
Wir hatten bis nach ein Uhr diskutierend, lärmend, saufend, rauchend um James Marshall herumgesessen und beschlossen einen Lokalwechsel. Ein Kunstschüler namens W., der Seminarbildung hinter sich hatte und mit dem ich kaum je ins Gespräch gekommen war, ging in der Prozession durch die nächtlich verödeten Gassen hinter mir her. Da sah ich Feuer, fühlte mich taub und hörte im rechten Ohr ein feines Klingen. Aber ich hatte blitzschnell begriffen, daß dieser mir nahezu fremde Mensch von rückwärts mit aller möglichen Wucht mir einen Schlag gegen den Kopf versetzt hatte.
Den Augenblick später hatte ich ihn zu Boden geworfen und wälzte mich mit ihm im Rinnstein herum. Schließlich wurde er still, aber ich war nicht brutal genug, um ihm in gleicher Münze heimzuzahlen.
Tausend Schritte weiter, vor dem Vinzenzhaus, fiel er abermals über mich her, da die stille Wut über seine Demütigung sich in Raserei umsetzte. Ich war gezwungen, mich zu verteidigen, und so geschah ihm dasselbe wie das erstemal: er lag im Kot, und ich kniete auf seinem Brustkasten.
Dieser sinnlos tückische Mensch war viel stärker als ich. Aber auf meiner Seite war Intelligenz, schnelles Denken und augenblickliche, rückhaltlose Entschlossenheit. Ewig konnte ich nicht auf der Brust dieses hinterhältigen Feiglings knien, und als sich die Kameraden einmischten und erklärten, er habe nun seine Lektion, schwor er auf ihre Veranlassung sozusagen Urfehde und gab, daß alle es hörten, sein Ehrenwort, von nun ab friedlich zu sein. Er bat um Verzeihung – was man von ihm verlangte –, und als es geschehen war, gab ich seine Gelenke frei.
Sofort hatte ich einen mit aller Kraft geführten Faustschlag im Gesicht und glaubte, mein Auge sei verloren.
Wer war von uns beiden nun der Besiegte? Ganz genau entscheiden könnte ich die Frage noch heute nicht. Er hatte den Sieg der Brutalität, den Sieg des Wortbruchs, den Sieg des Unrechts in jedem Betracht, kurz, er hatte den Sieg der Niederträchtigkeit. Ich dagegen war schuldlos überfallen worden, hatte den Sieg der Kraft, den Sieg der Ritterlichkeit, den Sieg der Milde, den Sieg der Versöhnlichkeit. Aber ich war für drei Wochen einäugig, da ich das andere Auge unter der Binde tragen mußte, und vor der Kunstschule doch der Gezeichnete.
Was war der Grund dafür, daß sich in diesem Menschen ein solcher Haß bilden konnte und losbrechen mußte? Man bleibt auf Vermutungen angewiesen.
Es ist gesagt worden, in wie hohem Maße Kritik im Elternhaus geübt wurde. Nannte mein Vater jemand einen Menschen, der denkt, so erteilte er ihm sein höchstes Lob. Irgendwie neigten wir alle zu Wortkämpfen und waren nicht willens, uns eine Ansicht aufzwingen zu lassen. Vielleicht hatte die Erkenntnis, wonach der Richterstuhl der eigenen, gottgegebenen Vernunft der höchste ist, es mit sich gebracht, daß ich frisch, frei, fromm und froh in den Tag hinein redete, was ganz allgemein meine Gegner gereizt haben mag.
Hänge ich diesem Erlebnis tiefer nach und hebt sich mein Wesen von damals deutlicher in die Erinnerung, so tritt ein Zug besonders hervor, der, wenn nicht zur Rechtfertigung, so doch zur Erklärung der rüden Tat unseres Saufkumpans ebenfalls beitragen kann. Ich war zum Desperado geworden. Nicht nur forderte ich zum Beispiel durch mein langes Haar überall ohne Absicht den öffentlichen Hohn heraus, sondern ich wollte ihn herausfordern. Das seit dem ersten Breslauer Schultag ausgeübte Dauerattentat zur Vernichtung meiner Persönlichkeit hatte schließlich ihre Auferstehung von den Toten nicht zu hindern vermocht. Und nun das neue Leben mich überkam, betonte ich sie auf jede Weise, mitunter vielleicht recht ungebärdig.
Die Schüchternheit meiner Lederoser Tage war also abgestreift. In Gesprächen beherrschte mich eher eine oft gefährlichen Freimut in sich schließende Furchtlosigkeit. Sollte ich aber etwas wie ein Krakeeler gewesen sein, so sah ich keineswegs danach aus. Denn als ich einst im Café unter meinen Kameraden saß, kam ein älterer Herr bescheiden an mich heran und wollte wissen, ob ich es übelnehmen würde, wenn er mir eine Frage vorlegte. Ich sagte nein. Er wies auf einen Tisch von bürgerlichen Damen und Herren hin, die verstohlen herüberblickten, und erklärte, es sei eine Wette gemacht worden, weil einige seiner Freunde behaupteten, daß ich ein junger Mann, andere, daß ich ein verkleidetes junges Mädchen sei.