Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Carls und mein Zusammensein stand von nun ab geradezu unter einem bösen Stern. Wir waren schon tief im Mai, die Wärme wuchs und mit ihr Carls Reizbarkeit. Ich wünschte Amalfi und Salerno zu sehen, die Tempel von Paestum zu besuchen, Pompeji und Herkulanum kennenzulernen, den Vesuv zu besteigen und anderes mehr. Gegen alles das sträubte er sich. Es gelang mir schließlich mit großer Mühe, ihn zu bewegen, wenigstens eine Fahrt nach Amalfi mitzumachen. Aber weder Carl noch ich hatten Freude davon.

Die Gluten des Himmels drückten auf Carl. Er ersehnte den Norden, er wollte heimreisen. Daß ich es aber nicht wollte, nahm ihm die Kraft zu diesem Entschluß. Konnte er sich als Schwächling preisgeben?

So saßen wir nebeneinander im Landauer, und mein Bruder betrug sich so, als würde er gegen seinen Willen fortgeschleppt. Was zu sehen war, Landschaft, Örtlichkeit und Menschen, wurde von ihm in Bausch und Bogen abgelehnt. Wenn ich auf Schritt und Tritt bewunderte, schwieg er gereizt oder versuchte, meine Empfindungen zu entwerten. Es kam ihm eben darauf an, mich zu überzeugen, daß es auch für mich das einzig Richtige sei, meinen südlichen Aufenthalt abzubrechen.

Ich kann mich an eine altertümliche, verschlafene Villa erinnern, die zum Gasthof geworden war. Die Goldtapeten hatten sich von den Wänden geschält, die kassettierte schwere Renaissancedecke lastete. Es wurde von einem einzigen Kellner, der wie der Diener des Hauses wirkte, auf dem feinen Porzellan und mit dem schweren Silber der einstigen Besitzer serviert. Es war kühl, denn man hatte die Läden geschlossen und einen silbernen Armleuchter mit brennenden Kerzen auf die Tafel gestellt.

Da wir nicht ewig hier sitzen und tafeln konnten, mußten wir leider wieder in die Glut hinaus, die den Bruder nun wirklich krankhaft aufregte. Er fürchtete einen Sonnenstich. Durch die herrische Art jedoch, in die sich sein sichtbares Leiden umsetzte, konnte bei mir ein Mitleid nicht aufkommen. Auch war mir nicht möglich, mir die Schuld beizumessen, da er ja die Freiheit gehabt hätte, von der Fahrt zurückzutreten, die ich dann eben allein unternommen hätte.

In einer geradezu höllischen Verärgerung kamen wir in Amalfi an, wo Carl sogleich einen italienischen Medizinmann kommen ließ, der Fieber feststellte und nasse Kompressen verordnete. Sie wurden die ganze Nacht durch einen dazu bestellten Pfleger aufgelegt.

Ich war befremdet über mich selbst, weil ich diesen Vorgängen kaum eine Teilnahme widmen konnte. Alle Worte Carls waren Vorwurf, Anklage, Forderung. Ich ließ ihn liegen, sich wild gebärden und räsonieren, nicht nur weil ich mir sagte, daß meine Abwesenheit ihn beruhigen würde, sondern weil ich die Glut, den Prunk und die Wonnen des nächtlichen Amalfi wenigstens einigermaßen genießen wollte.

Ich nahm ein Meerbad in tiefster, mondheller Einsamkeit. Die Milchstraße spiegelte sich im Wasser. Aber auch mein Körper bewegte eine Sternenflut: ich wühlte im Glanze eines Meerleuchtens, wie ich es damals weder kannte noch später wieder erlebt habe. Durch meine Finger glitten Strähnen von Licht, ich tauchte, ich wälzte mich in Licht.

Dies nächtliche Mysterium, dieses heilige, namenlos verzückende Bad war wohl einer gottesdienstlichen Handlung gleichzuachten.

 

Bald darauf, in Neapel, wo unsere krakeelerische Reizbarkeit zur Katastrophe drängte, traten endlich Umstände ein, die Carl veranlaßten, seine Rückreise ins Auge zu fassen. Unser Freund Ploetz war aus Gründen von Breslau nach Zürich übergesiedelt. Dort wollte er sich nach Abschluß seines nationalökonomischen Studiums mit dem philosophischen Doktor in der Tasche dem Studium der Medizin zuwenden. Er lud Carl zu einer Besprechung nach Zürich ein, um ihn womöglich zu ebendem Studium zu bewegen.

Zürich, die neue Parole, faszinierte Carl und auch mich, mich allerdings nicht in gleichem Maße.

Das Hotel in Neapel hatte uns in ein Zimmer des fünften Stockwerks gesteckt. Eine Glastür des Raumes legte, geöffnet, ein Eisengeländer frei, über das gelehnt man in die lärmige Kluft der Straße hinunterblickte. Hier wälzte sich durch Haupt- und Zustromkanäle ununterbrochen die Volksmenge, dabei tobten drei Straßenklaviere zu gleicher Zeit. Dies, verbunden mit der herrschenden Glut, steigerte unser Übelbefinden bis zur Unerträglichkeit. Leider wurde es von Carl nicht auf die natürlichen Ursachen, sondern auf mein Verhalten zurückgeführt. Der bösartigen Einzelheiten unserer Reibereien kann ich mich nicht erinnern. Sicher ist, daß ich Carl loswerden wollte, um noch eine Weile eigenen und eigensten Plänen nachzugehn.

Solche Selbständigkeit aber wollte Carl nicht zulassen. Die Kräfte, die Aufgaben, die mich hielten, verstand er nicht. Er begriff nicht, daß ich meine Studienreise, ohne auch nur den kleinsten ihrer Zwecke verwirklicht zu haben, nicht abbrechen konnte. Hätte ich ihm den Gefallen getan, ich würde mich selbst und auch Mary betrogen haben.

So organisch meine erste Italienreise für mich war, sie war für Carl durchaus unorganisch. Er fühlte das, wollte es aber nicht Wort haben, wodurch die Schwierigkeit des Verkehrs noch erhöht wurde.

Ob Carl die Hoffnung, doch noch in meiner Bahn heimisch zu werden, zu Grabe trug, ob er in dem Bestreben, zu retten, was zu retten war, noch einen letzten Versuch machen wollte, weiß ich heute nicht. Glaubte er, daß die Erlösung für ihn in meiner Hand liege und daß ich Bruder- und Freundschaftsverrat übe, wenn ich, ohne ihn einzuweihen oder überhaupt zu benötigen, in einer, wie es ihm vorkam, kraß egoistischen Weise Belehrung und Einsicht hamsterte?

Wie wir uns in der Wanzenpension und bei Gauda körperlich gebalgt hatten, so balgten sich unsere Geister in den Regionen der Dächer und Schornsteine dieser tobenden Stadt, bis es so weit kam, daß Carl besinnungslos gegen das Gitter der offenen Glastür rannte, das sich unter seinem Anlauf bedenklich bog.

Wenn es nicht standgehalten hätte, so würde er das gleiche Ende genommen haben wie jener Mann, der jüngst in Venedig vom Kampanile gesprungen und, einen Meter entfernt von Carl, auf den Steinen des Markusplatzes geendet war.

Der Ausbruch hatte ihn, als er zur Besinnung gekommen war, zu dem Entschluß geführt, gleichsam Knall und Fall gen Norden zu reisen.

Es blieben uns dann noch einige Stunden bis zur Abfahrtszeit.

Carl hatte gepackt, beim Portier lag bereits seine Fahrkarte, und nun, da der Würfel gefallen war, trat in unseren Seelen angesichts der nahen Abschiedsstunde der große Umschwung ein. Die gleichsam widernatürliche Eiskruste, die nicht Temperaturen unter Null hervorgebracht hatten, sondern im Gegenteil eine südlich stickige Luft, löste sich auf, und so schmolz das künstlich Getrennte ineinander.

Diese Wirkung wäre trotz allem vielleicht nicht erreicht worden, wenn wir nicht beim Abschiedsessen zum erstenmal auf der ganzen Reise einige Flaschen Champagner geleert hätten.

Wir waren erstaunt über die Wandlung, die während des Trinkens über uns kam. Was wollten wir eigentlich voneinander? Gönnte ich Carl nicht alles nur mögliche Gute und er mir? Die nächste Begegnung wurde für Zürich verabredet, wo wir dann die nun plötzlich ausgebrochene Freundschaftsorgie fortsetzen wollten. Auf dem Bahnhof trennten wir uns mit Bruderküssen und endlosem Winken.

 

Sogleich als der Zug mit meinem Bruder Neapel verlassen hatte, packte ich im Hotel meine Sachen zusammen, um die konventionelle Fremdenwelt der oberen Zehntausend zu verlassen und mit einem abenteuerlichen Sprung, nach alter Gepflogenheit, ins Volkstum unterzutauchen. Man hatte mir vor einiger Zeit auf der Straße die Adresse einer deutschen Gaststätte in die Hand gesteckt, und in diese wollte ich, auch aus Billigkeitsgründen, übersiedeln. Aber als ich sie endlich mit meiner bepackten Droschke in einem entlegenen Elendsviertel Neapels erreicht hatte, schollen unzweideutige Harmonikaklänge verbunden mit Klaviergepauk zu mir heraus, so daß ich bedenklich wurde. Doch trat ich ein, fand Alkoholdunst und Tabaksqualm, eine trällernde Hebe, die Bier verabreichte, ein paar Matrosen, die herumwalzten, Bettler und Dirnen, die ihren Raub durch die Gurgel jagten – aber weder Beachtung noch Platz, wo doch der bedruckte Empfehlungszettel, den ich bei mir trug, ruhige Lage, sauberes Logis und prompte Bedienung versprochen hatte.

Gern wäre ich augenblicklich umgekehrt, nur hatte ich doch rein mechanisch meinen Wunsch, ein Zimmer zu beziehen, am fuselduftenden Schenktisch kundgetan. Aber bis dies verstanden, bis man zur Erfüllung meines Begehrens die erforderlichen Schritte tat, hatte ich den rettenden Entschluß gefaßt, meinen bereits in der Glastür stehenden Riesenkoffer wieder aufladen zu lassen. Es war mir inzwischen klargeworden, daß ich diese Lasterhöhle vollständig ausgeraubt oder überhaupt nicht mehr lebend verlassen hätte, wenn es nicht augenblicklich geschah. Aufatmend und für immer belehrt, fuhr ich in mein Hotel zurück, wo ich mich aufs neue einrichtete.

Am folgenden Morgen begab ich mich mit meinen Empfehlungsbriefen in die Büros der Museen, wo ich von einem freundlichen Herrn mit Eintrittskarten für alle Sammlungen, ebenso für Herkulanum und Pompeji, ausgestattet wurde, deren Gültigkeit auf vier Wochen lautete. Gleichsam vom Flecke weg drang ich in die ungeheure antike Kunstwelt des Museo Nazionale ein, die mir fast den Atem verschlug.

Das war wohl die großartigste Auferstehung, die meine stark versandeten künstlerischen Ziele haben konnten. Mit einem Fortissimo ohnegleichen geschah diese Wiedergeburt. Professor Gaedechens' Gartenlaube in Ehren, ebenso die Belehrung des gütigen Mannes: beides konnte aber einen Begriff von der Macht des plastischen Bildnertriebs im Altertum nicht vermitteln. Die erste Viertelstunde im Nationalmuseum offenbarte mit einem Schlage diese Macht.

Ich hütete mich bei den ersten Besuchen, meinen Cicerone aufzuschlagen. Es sollte sich kein zeitgenössisches Vorurteil zwischen mich und diese stumme Schöpfung einschieben. Ich wollte warten, ich wollte schweigen, ich wollte mein Schweigen so lange vertiefen, bis es mit der schweigenden Sprache dieses Mysteriums eins wurde: eines Mysteriums, in dem menschlicher Gestaltungstrieb mit dem göttlichen Schöpfer, was er sich auch unter ihm vorstellen mochte, zu wetteifern unternahm. In diesem ungeheuren Bestreben lag die größte Huldigung. Es ist die erste und höchste Auswirkung der Vernunft, wenn sie das Amorphe formhaft zu bewältigen sucht, und für ihre Befähigung dazu ist die Kunst der Plastik vielleicht die beste Bestätigung.

Das Gottverwandte der plastischen Kunst zeigt sich ja auch allenthalben in ihrer Verbundenheit mit der Religion. Eigenes Denken hatte mich schon in Breslau erkennen lassen, daß diese Gemeinsamkeit in der modernen Kunst, vielleicht zu ihrem Schaden, nicht mehr vorhanden war. Die Bilder aus Stein und Erz, zwischen denen ich als staunender Neuling wandelte, gaben noch fast einmütig Zeugnis davon. Alles war vergottet, was man an Menschengestalten, an Tiergestalten, an Gestalten, die halb Tier, halb Mensch waren, sah. Häupter des Zeus waren es, Bilder der Pallas Athene, der Aphrodite, der Hera und anderer Götter in Stein, eine Bestrafung der Dirke in dem Kolossalgebilde des Farnesischen Stiers, Apollo, Jupiter Ammon, Kämpfe von Giganten und Göttern, Meergottheiten, immer wieder Dionysos und Dionysos, die Dioskuren, der Farnesische Herakles, Adonis, Narkissos, Kentauren, Eroten, Karyatiden, Chariten und Nymphen, springende Satyrn, an denen mein Fuß mich vorübertrug. Selbst die kolossalen Häupter und Bildsäulen römischer Kaiser zeigten ihren Rang unter Göttern an. Profangebilde, etwa Homer, Sophokles, Euripides, Sokrates, schon durch ihren Gegenstand ideal, zeigten sich außerdem ins Ideal-Intelligible und somit Transzendente und Religiöse erhoben. Was an Profanem außerdem noch übrigblieb, war nicht das viele, sondern das wenige.

Mich ergriff eine große Trunkenheit. Und obgleich ich gute und schlechte Plastik schon mit angeborenem Unterscheidungsvermögen zu trennen wußte, war ich nicht geneigt oder befähigt, mich ins einzelne kritisch zu verlieren. Ich kenne einige große moderne Künstler, von denen der eine, wenn ein Kunstwerk seine besondere Schönheit verraten sollte, eine bestimmte physische Empfindung oberhalb des Nabels, der andere unterhalb des Nabels abwarten mußte, während ich, wenn ein Kunstwerk zu mir sprach, eine Art Gruseln, einen leichten Schreck oder Schauder empfand. Das geschah hie und da, vor welchen besonderen Objekten, kann ich mich heut nicht mehr erinnern.

Ich hielt es nicht lange aus unter diesem Katarakt von Marmor- und Erzbildern, es drängte mich zur Natur, vor allem an den Fuß des Vulkans, um endlich das Schreckenswunder, Pompeji, mit eigenen Augen zu begreifen.

Es war da an der brennend weißen, staubigen Landstraße das Gasthaus Zur Sonne, Albergo del Sole, an dessen Besitzer, Niccolò Erre, ich ebenfalls eine Empfehlung bei mir trug. Archäologen und Künstler, die seine lieben Kinder und Freunde waren, bevölkerten seine wohlfeile Herberge nicht gerade in Überzahl zu dieser Jahreszeit, so daß er mich leidlich unterbrachte. Wie man hier lebte und ernährt wurde, weiß ich nicht mehr, nur erinnere ich mich, daß die Butter, mit Fliegen vermischt, in Schüsseln voll Wasser schwamm und nicht selten darin zerfloß.

Viele der Maler hatten mit Wandgemälden und anderen Bildern recht kläglich gezahlt. Niccolò Erre war stolz darauf.

Ich genoß nun während einiger Wochen den Vorteil, die Ruinen von Pompeji, das ganze Gebiet der Ausgrabungen zu jeder Tages- und Nachtzeit besuchen zu können, so daß ich ungestört mit den Toten der verschütteten Stadt und ihrem Schicksal verkehren konnte.

Von Pompeji hier zu sprechen ist überflüssig. Keiner fühlt sich mehr, wie Bulwer, veranlaßt, einen »Untergang von Pompeji« zu schreiben – ein Buch, das ich damals mit mir führte. Dem Durchschnittsgebildeten ist Pompeji banal geworden.

Ich betrat dieses Zerstörungsfeld, dieses Totenreich, das es den Besuchern überläßt, das belebende Schöpfungswort auszusprechen. Ich war mir bewußt, daß es meinem Eindruck keinen Abbruch tun konnte, wenn anderen dieses redende Trümmerfeld längst verstummt und gleichgültig war. Hier hatten in Schönheit und Todesnähe antike Menschen gelebt und waren dem Genuß und einer heiteren Tätigkeit nachgegangen, auf einem unzuverlässigen Erdboden, dessen Bewegungen nicht selten die ganze Stadt samt den Fundamenten zusammenwarfen.

Ich hatte nur kleines, sicheres, umfriedetes Dasein auf gesichertem Grunde gekannt. Hier waren Menschen übereingekommen, auf leichtsinnig-großartige Art und Weise Gefahr und Tod vorauszusetzen und im täglichen Leben als nicht vorhanden zu betrachten.

Dort aber stand der majestätische Verbrecher, der Vesuv, ein wenig Qualm gleichgültig um den Gipfel gehüllt, nicht im allergeringsten von dem Tatort und den Spuren seines Verbrechens berührt und ohne Gedanken daran, beides zu fliehen.

Dieses: den Verbrecher und seine Tat, den Mörder und seinen Mord noch nach fast zwei Jahrtausenden so nahe beieinander zu sehen, war ein Eindruck von befremdender Mächtigkeit. Selbst Tragik wurde zunichte vor ihm.

Tausend Jahre später, stellte ich mir vor, würde ein mir gleichender junger Mensch hier wiederum Schauder eigener Kleinheit im Angesicht ewig fremder Größe empfinden. Er ist dann vielleicht, wie ich, eine Treppe mit vielen mühsamen Stufen, aus Kindesenge, Knabenglück, durch dämmrige Korridore von Kerkern, durch Angstträume und Träume von Glück, von Zweifeln gehemmt, von Zweifeln getragen, weiter und weiter emporgestiegen, bis er endlich in diesem ersten großen Freiheitsaugenblick dem nackten Rätsel des Daseins gegenüberstand. Auch ich genoß diesen Augenblick. Und eine gewisse tröstliche Regung in mir wollte wissen, daß wahrhaft Erlebtes unsterblich ist.

Die Ausbeute, die ich an wirklichem Wissen aus Pompeji mit mir nahm, war nicht groß. Wie ich Straßen und Häuser belebte, während ich einsam in ihnen verweilte, gehört nicht in diesen Zusammenhang. Tiefe Räderspuren haben sich in die Lavablöcke des Straßenpflasters scheinbar in Jahrhunderten eingedrückt. Die Hände der Menschen, die an den Brunnen tranken, haben durch einfaches Stützen auf die breiten Ränder der Lavatröge tiefe Sattelungen in ihnen zurückgelassen.

Wie diese Wirkung abgeschiedene, unzählige Generationen gleichsam gegenwärtig machte, das war gespensterhaft.

Manchmal fühlte ich mich selbst zur abgeschiedenen Seele umgewandelt.

Aber von dem Kulturengemisch der ungeheuer-seltsamen Stadt und von dem psychologischen Rätsel ihres Wesens sah und empfand ich damals nichts. Es fehlten mir, um diesem Wunder gerecht zu werden, alle Grundlagen.

Ich zeichnete, dies sei erwähnt, Stümperhaftigkeiten in ein leider verlorengegangenes Skizzenbuch. Über den offenen Osten der Stadt drangen sehr bald Nachkommen der alten Osker, Griechen und Römer in Gestalt zerlumpter Knaben herein, die gern ihre Lumpen von sich warfen und in Erwartung einiger Soldi einzeln oder in Gruppen Modell standen. Mitunter schien ich, umgeben von einer Herde nackter Jungens, der Lehrer einer Palästra zu sein. Diese Erlebnisse wurden in den Briefen an Mary ausgemalt. Eine Vesuvbesteigung kam hinzu, deren Schilderung ihr wohl Gruseln erzeugen konnte.

 

Es standen Gewitter am Horizont, als wir bei stechender Sonnenglut vom Albergo del Sole abritten. Vor dem Aufbruch hatten wir lange geschwankt. Nach längerem Ritt, aber bevor wir Bosco Trecase erreicht hatten, sauste der erste Platzregen auf uns herab. Ich ritt ein gutes Pferd, ein hurtiges Schimmelchen, das ich in einen schlanken Galopp setzte. Es brachte mich lange vor der übrigen Karawane auf die leeren Straßen und Plätze von Bosco Trecase, auf deren Pflaster Regen und Hagel vermischt aufhüpften. Inmitten des Wolkenbruchs, als ich mein Pferd pariert hatte und nicht recht wußte, wohin, winkte mir plötzlich ein Mädchen zu, das im Rahmen einer offenen Türe stand. Sofort war ich bei ihr, sprang ab und trat in ihr kleines Weberstübchen ein, indessen der Schimmel vor der Tür das Naturereignis bestehen mußte.

Die Weberin, kaum fünfzehnjährig, war jung und schön.

Ich neigte dazu, den Gewitterschauer zu segnen, der mich in diesen Unterschlupf gejagt hatte. Das freundliche Kind mit dem ovalen Madonnengesicht bemühte sich still und hilfreich um mich, als ob ich ihr Bruder wäre. Mich bestrickte die Einfalt und Güte ihrer Wesensart.

Und wieder einmal war mir, als ob ich, ohne großen Verzicht, meine Art zu leben mit dem einfachen Dasein, meinethalb an einem zweiten Webstuhl ihr zur Seite, vertauschen könnte.

Wir legten Scheite in den Kamin, sie hing meinen durchnäßten Sommerpaletot im nahen Bereich der Flamme auf.

Auf mein Begehren belehrte sie mich, wie man den Webstuhl handhabte, und ich sandte nur immer die Bitte gen Himmel, daß er mit Regnen nicht so bald aufhören möchte. Leider wurde ich nicht erhört, bald brannte die Sonne wiederum auf die Straße, die Mutter der Kleinen kam herein, und endlich, als die Hufschläge unserer Kavalkade hörbar wurden, war der Abschied nicht länger hinauszuschieben.

 

Es war notwendig, unsere Kleider zu trocknen, wenn unser kleiner Reisetrupp die Vesuvbesteigung durchsetzen wollte. Aber auch weil man bei dem ewigen Murren des Donners darüber noch beraten wollte, wurde in einer kleinen Osteria Station gemacht.

Auf den Steinen unserer Wirtsstube trugen die Führer, die wie Abruzzenräuber aussahen, Reisig zusammen und machten ein Feuer an. Was ich heute noch nicht begreife: wieso, bei der niedrigen Decke, ging nicht das Haus in Flammen auf? wie war es möglich, daß Menschen in dem weißen, beizenden Qualme atmeten, der mich bereits nach Sekunden ins Freie trieb?

Ich drängte zum Aufbruch, nachdem der Entschluß, den Aufstieg fortzusetzen, gefaßt worden war, und bald saßen wir wieder in den Sätteln.

Es ging nun rücksichtslos bergan. Noch einige Häuser und Hütten wurden passiert. Auf halber Höhe des Berges herrschte bereits Dunkelheit. Groß war das Schauspiel, dem wir nun auf dem Rücken der mit Anspannung aller Kräfte ausgreifenden Pferde beiwohnten.

Wiederum hatte sich schweres Gewölk diesmal um den Gipfel des Berges gelegt, das murrte und grollte und aus dem Innern des Kraters rot beschienen wurde. Von dorther wurde außerdem ununterbrochen Glutgestein dawider emporgeschleudert. Höher hinauf nahm das Grollen und die Mächtigkeit der Blitze zu, sie folgten einander in kurzen Zwischenräumen. Endlich, als wir den glühenden und knisternden Rand eines Lavastromes erreicht hatten, war nur ein einziges ununterbrochenes Krachen in der Luft, und von Wolke zu Krater und Krater zu Wolke sprangen ununterbrochen die blauen Funken.

Bis zum Krater selbst zu gelangen, mußten wir wohl unter solchen Umständen aufgeben.

Ein Versuch dazu wurde trotzdem gemacht.

Wir saßen ab und traversierten mehrere Schlackenfelder, nur von Blitzen und vom Widerschein des Vesuvs erhellt, bis wir durch unsere beinah versengten Sohlen und einige furchtbare Einschläge in der Nähe zur Umkehr gezwungen wurden. Glühende Steine sausten herab.

An den Fuß des Vesuvs zurückgekehrt, wollte ich nicht in Trecase bleiben. Das Gasthaus war eine allzu bedenkliche Unterkunft. Als ich aber meine Absicht, weiterzureiten, um nachts noch Pompeji zu erreichen, den Führern und Pferdetreibern mitteilte, rieten sie einstimmig davon ab.

Als ich auf meinem Entschluß beharrte, ließen sie merken, daß die Straße nicht sicher sei. Um den Ort Castellamare herum sei in letzter Zeit allerlei vorgekommen. Keinesfalls wollte mich einer von ihnen begleiten.

Trotzdem galoppierte ich kurz darauf durch die stockschwarze Nacht, neben mir ein mutiger Junge, den ich mich zu begleiten bewogen hatte.

Wir jagten beinah in Karriere dahin. Noch erinnere ich mich, wie mir bewußt wurde, daß ich verloren wäre, wenn irgendein kleines Hindernis das Pferd zum Stolpern gebracht hätte. Auch an die hallenden Geräusche der Hufe, wenn wir durch die Dörfer jagten, erinnere ich mich. Das Ganze in fremder, unsicherer Gegend, zwischen ziemlich verrufenen Ortschaften, war wohl geeignet, mich zu veranlassen, meine Seele Gott zu empfehlen.

Aus Torre Annunziata, wo unsere Pferde zu Hause waren, wollten sie nicht mehr heraus. Wir mußten fortwährend auf- und abspringen, da sie bäumten und dann sich leicht überwarfen. Mein kleiner Begleiter übte dieses Turnen mit Meisterschaft. Er hätte auch sonst schlimm enden mögen, da wir sein kleines, lebhaftes Pferd mehrmals aus einem tiefen Straßengraben herausholen mußten, wo es zappelnd auf dem Rücken lag. Nach alledem kamen wir aber doch wohlbehalten in Pompeji vor meinem Gasthof Zur Sonne an.

Noch immer lagen Gewitter um den ganzen Horizont. Bald näher, bald ferner grollte der Himmel, zuckten die Blitze. Aber nach dem, was auf der nächtlichen Höhe des Vesuvs auf meine Sinne eingedrungen war, schien mir dies kaum noch beachtenswert. Schon während des Rittes, wenn elektrische Entladungen zuweilen alles in Licht tauchten, hatten die Gewitterphänomene, wie ich bei mir feststellte, keine Schrecken, ja kaum noch ein Interesse für mich.

 


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